Die Trauer, die langsam wieder in Arvilar aufkeimte ist wie weggeblasen, als der Gottesdienst endet und seine Schwester als eine der ersten Priesterinnen in die Eingangshalle tritt. Er mochte sie erst vor wenigen Stunden gesehen haben, aber dennoch füllt ihr Anblick sein Herz mit Freude. Im Gegensatz zu dem Klingensänger hatte Masikil das goldene Haar ihrer Mutter und nicht das dunkle Haar Galians geerbt und zweifelsohne hatte ihre Schönheit in den Jahren, die Arvilar nicht in Immeraska weilte noch mehr zu genommen.
Selbst in den goldenen Roben Hanalis leuchtete ihr Haar noch immer so hell wie die Sonne. Arvilar tritt auf seine Schwester zu und legt die Hände auf ihre Schultern. Sie mochte ein wenig kleiner sein als er, aber dies behinderte das Ritual, welches sie seid ihrer Kindheit zur Begrüßung vollzogen in keiner Weise. Mit auf den Schultern des anderen ruhenden Händen blicken sich die beiden Elfen, die Gesichter nur noch wenige Zentimeter von einander entfernt minutenlang in die Augen. Es braucht für sie keine Worte um sich zu verständigen, allein die Anwesenheit des anderen reichte aus um ihre Herzen höher schlagen zu lassen.
Hand in Hand treten die beiden aus den Hallen des Brunnenherzens hinaus in den sanften Regen und auch wenn die Wassertropfen langsam beginnen ihre Kleidung in einen dunkleren Farbton zu tauchen wandeln sie ohne weitere Worte durch die Haine Immereskas. Viel mochte in den beiden Kriegen des letzten Jahrzehnts zerstört worden sein, aber die Bäume begannen bereits, tatkräftig unterstützt von den Priestern und Druiden der Seldarin, sich zu erholen. Schließlich gelangen die beiden letzten Kinder des Hauses Naqastra in den Hain, der für sie noch immer ein Ort der Trauer war und es auch wohl für immer bleiben würde. Inmitten von jungen Birken erheben sich vier flache Grashügel.
Die Erinnerungen an den Tag als Arvilar zum ersten Mal diesen Hain betreten hatte werden nun wieder wach. Damals war noch kein Gras über die Hügel gewachsen, denn an ihrer statt fanden sich noch vier Vertiefungen in denen sich jeweils ein regloser Körper fand. Sila war die erste gewesen, die nach Arvandor aufgebrochen war, gefallen als eine der Grabwächterinnen, die versuchten die Mausoleen ihrer Ahnen vor den Phaerimm zu bewahren. Jortil war ihr beim ersten großen Angriff der Phaerimm auf die Stadt gefolgt und Eritar wenig später, nach einem kleinen Scharmützel, das nur den Sinn hatte die Verteidigung der Elfen zu testen. Forana, schließlich hatte, gefüllt von dem Zorn über den Tod dreier ihrer Kinder sicherlich ein halbes Dutzend Phaerimm mit eigenen Händen getötet, bis auch sie in der letzten Schlacht, nur Minuten bevor der Mythal wiederhergestellt wurde, überwältigt wurde. An jenem Tag, als die vier in diesem Hain zur Ruhe gebettet wurden, hatten die drei Hinterbliebenen unzählige Tränen vergossen.
Doch inzwischen konnten Masikil und Arvilar ohne feuchte Augen auf die Gräber blicken und murmelten nur leise ein Gebet: “ Aa' maennehel naien chas ent i`nai tyeressien n`alaquelnehel.“
Hier an diesem Ort sprachen sie schließlich auch zum ersten Mal allein miteinander seit Arvilar zurückgekehrt war. Der Klingensänger lächelte seine Schwester glücklich an: “Es ist gut wieder hier zu sein. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, dies alles hat mir dort draußen gefehlt. Du hast mir gefehlt. Aber Vater so zu sehen ist schwer. Sag Schwester, wie geht es ihm? Niemals zuvor habe ich ihn so schwach gesehen. Es hatte beinahe den Anschein, als wäre er hier an diesem Ort geblieben, gefangen an jenem Tag als er mehr als die Hälfte seiner Familie zu Grabe tragen musste.“
Masikil lächelt ihren Bruder ebenso glücklich an: "Vater und ich haben dich schrecklich vermisst, ich wünschte du würdest jetzt für immer hier bleiben, doch mein Herz sagt mir dass dich etwas umtreibt und du schon bald wieder gehen musst. Vater geht es den Umständen entsprechend. Die Trauer und Lethargie der ersten Tage ist von ihm abgefallen, dennoch ist er nicht mehr der Alte. Er hat nicht nur seine Familie, sondern auch einen Teil von sich zu Grabe getragen. Dein Fortgang hat die Sache nicht verbessert wie ich ehrlich sagen muss ... das sein einziger noch lebender Sohn in der Ferne weilt, ständig in Gefahr auch zu sterben hat ihn weiter geschwächt, ich denke er hätte dich gebraucht. Aber sei es wie es sei ... der Wiederaufbau nimmt viel seiner Zeit und Gedanken in Anspruch so dass er wenigstens eine Aufgabe für sich hat." Sorge und Trauer zeigt sich in Masikils Gesicht.
Arvilar lässt die Schulten sinken, er hatte etwas derartiges zwar die ganze Zeit über vermutet, aber es nun laut ausgesprochen zu hören war etwas anderes. Einige Momente lang blickt er in die Ferne, bevor er seine Augen wieder seiner geliebten Schwester zuwendet: "Ich würde dir so gerne sagen, dass ich bleiben werde, aber es geht nicht. Ich werde wohl recht unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Ältestenrat aufbrechen um mich wieder mit jenen Leuten zu treffen, die mich auf dem letzten Stück des Weges bereits begleitet haben. Es wird ein steinige Weg sein, der vor mir liegt, aber ich verspreche dir, dass ich zurückkehren werde und wenn ich wieder hier bin, werde ich bleiben, ich werde bleiben und den Platz an Vaters Seite einnehmen, als erster Sohn des Hauses und Naqastra und als sein Erbe. Doch das Tal, was ich zuvor durchschreiten muss wird von Finsternis erfüllt sein. Aber lass uns nicht von so etwas sprechen, erzähl lieber wie es dir ergangen ist. Du trägst jetzt die Gewänder einer Liebenden. Als ich dich zum letzten Mal sah warst du noch eine Taube. Wie kommt es, dass du so schnell im Rang gestiegen bist? Nicht, dass du es nicht verdient hättest, ich weiß ja mit welcher Hingabe du der Dame dienst. Aber für gewöhnlich sollte solch ein Aufstieg doch Jahrzehnte in Anspruch nehmen."
Masikil lächelt ihren Bruder glücklich an und streicht ihre Robe glatt, eine Sekunde später erscheint jedoch wieder ein Funken von Trauer auf ihrem Gesicht: “Die Kriege haben auch unseren Orden viel gekostet und so wurden viele der Novizinnen schnell zu vollwertigen Priesterinnen. Wir sind nicht mehr sonderlich viele auch wenn unsere Reihen langsam wieder voller werden. Immereska hat sehr viel verloren und nur langsam gewinnen wir es zurück. Wahrlich wir könnten dich hier brauchen Arvilar. Ich weiß, dass das was du dort draußen tust wichtig ist und dass es nur zu unserem Schutz geschieht, aber hier könntest du genauso viel erreichen. Nur wenige Elfen Immereskas haben das erlebt was du erlebt hast und die Jugend braucht neue Lehrer, die sie auf das vorbereiten können, was dort draußen ist. Ich weiß, dass du gehen musst, aber bitte kehre wieder zu uns zurück. Versprich mir, dass du zurückkommen wirst und dass du bleiben wirst. Du bist jetzt nicht mehr der dritte Sohn eines kleinen Adelshauses, du bist der Erbe eines ehrwürdigen Hauses und es ist deine Pflicht hierher zurückzukehren und dafür Sorge zu tragen, dass das Haus Naqastra fortbesteht. Du weißt, dass ich der Dame Goldherz diene und ich werde ihr mein ganzes Leben lang dienen. Das bedeutet, dass ich nicht so schnell den Bund eingehen werde und somit ist es auch an dir dafür zu sorgen, dass unser Erbe weiter besteht. Du magst heute noch jung sein, doch jeden Tag den du dort draußen verbringst setzt du weit mehr aufs Spiel als nur dein eigenes Leben.“
Arvilar blickt seine Schwester lange an, während er über ihre Worte nachdenkt. Er hätte niemals erwartet so etwas von ihr zu hören, sie war immer seine kleine Schwester gewesen, die sich um nichts Gedanken zu machen schien. Doch die junge Frau mit der er jetzt sprach hatte sich weit von der entfernt die er vor einigen Jahren verlassen hatte. Selbst wenn sie nicht im Recht gewesen wäre, wäre es Arvilar schwer gefallen ihr zu widerstehen. Doch das was sie sagte machte durchaus Sinn. Er musste anfangen wie der Erbe eines Elfenhauses zu denken, auch wenn es bedeutete, dass er nicht länger auf die Art für seine Heimat kämpfen konnte, wie er es bisher getan hatte. Aber er konnte jetzt noch nicht verweilen, zu groß war die Gefahr, die dem Grauen Heim durch die Umbravar drohte. Arvilar nimmt die Hände seiner Schwester in die seinen und blickt ihr tief in die Augen: “Ich verspreche, dass ich zurückkehren werde und hier bleiben werde um beim Aufbau unserer Heimat zu helfen und das Haus Naqastra zu erhalten. Aber ich kann dies erst tun, wenn die Gefahr, der wir uns jetzt gegenüber sehen gebannt ist. Deshalb muss ich dich und Vater ein letztes Mal verlassen, aber ich schwöre beim Elfenvater selbst, dass ich zurückkommen werde um mein Versprechen einzuhalten.“
Masikil nickt glücklich ob des Versprechens ihres Bruders und nachdem sie noch einige Zeit lang stumm die Gräber ihrer Verwandten betrachtet haben, kehren die beiden Geschwister zurück in das Anwesen ihrer Familie.