In den nächsten Tagen verlief die Reise ruhig. Die Räuber tauchten nicht wieder auf, und auch ansonsten gab es keine außergewöhnlichen Begegnungen. Je näher die Karawane der großen Feste kam, desto mehr häuften sich die Erzählungen anderer Reisender über die Taten der Ritter der Morgensonne. Auffällig war, dass die selbst ernannten Ritter den Erzählungen nach bis zu dem Ereignis in der Nähe des Turms tatsächlich niemanden getötet hatten.
Die junge Frau, die den Überfall überlebt hatte, Makae, benötigte in den nächsten Tagen sehr viel von Eretrias Aufmerksamkeit. Die junge Priesterin hatte wenig Erfahrung im Umgang mit Menschen, die einen solch tiefen Schock erlitten hatten, doch sie gab ihr Bestes, um Makae zu helfen.
Es war offensichtlich, dass ihr eigener Geist Makae vor den Erinnerungen schützen wollte, doch Eretria wusste aus den Lehren während ihrer Ausbildung, dass es sich immer rächte, wenn man diese Dinge verdrängte. Schritt für Schritt begleitete sie Makae dahin, sich den Bildern zu stellen, die ihr Geist verschlossen halten wollte. Sie tat es, um der jungen Frau zu helfen, aber auch in der Hoffnung darauf, dass Makae einige offene Fragen würde beantworten können.
Die Träume kamen weiterhin Nacht für Nacht zu den Mitgliedern der kleinen Gruppe – mit Ausnahme des Neuankömmlings Arue. Doch im Gegensatz zu den letzten Tagen wurden die Träume nebliger, die Erinnerungen nach dem Aufwachen schwächer. Was hängen blieb, waren Wiederholungen der Träume, die sie ohnehin schon durchlebt hatten.
Im Gespräch mit Maruiko stellte Milan fest, dass Eretrias Worte den Schildgeist offenbar wirklich getroffen hatten. Er weigerte sich, weiter darauf einzugehen, aber wann immer die Priesterin in die Nähe kam, verfiel Maruiko in Schweigen oder verschwand sogar im Nebel.
Milan gegenüber äußerte Maruiko, dass er es für einen Fehler hielt, nicht zum Turm zu gehen, doch der Schildgeist maß der Entscheidung offenbar nicht genug Bedeutung bei, um seiner Meinung großartig Nachdruck zu verleihen. Er akzeptierte die Entscheidung der Gruppe und erklärte immer wieder, dass das untote Mädchen seinen bisherigen Weg beibehalten hatte, und dass die Gefährten noch immer gut in der Zeit lagen – und vermutlich sogar vor dem Mädchen in Handelsfest ankommen würden.
Schließlich waren sie nur noch eine Tagesreise von der Großen Feste entfernt. Milan spürte, wie sich Nervosität in ihm breit machte. Er kam zurück in seine Heimatstadt, aus der er geflüchtet war, um nicht gegen seinen Willen verheiratet zu werden. Er kam zurück in die Stadt, in der seine Eltern auf ihn warteten. In der sein Vater auf ihn wartete. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr fühlte er sich wie der unreife Jugendliche, der nie den Erwartungen seines Vaters gerecht geworden war.
Erinnerungen kamen hoch, Erlebnisse, Personen... immer begleitet vom abschätzigen Blick seines Vaters. Lob hatte er vor allem von seiner Mutter bekommen, sie war es, die an seinem Leben wirklich Anteil genommen hatte, während sein Vater vor allem die Fortschritte seines Sohnes beobachtet hatte.
Magda von Karence, die beinahe seine Braut geworden wäre. Lémar und Tasha, das Geschwisterpaar, das seit seiner Kindheit zu seinen besten Freunden gehört hatte. Lémar war zu einem echten Lebemann geworden, den Milans Vater als Taugenichts verachtete, und Tasha war zu einer hübschen, aber burschikosen Frau geworden, die sich ganz wie ihr Bruder lieber mit Kartenspielen und Prügeleien beschäftigte, als zu einer edlen Dame zu werden. Vermutlich hatten die beiden ihn sogar unbewusst inspiriert, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen.
Tarak, der Stallmeister seines Vaters, von dem Milan in unzähligen Gesprächen mehr über das Wesen der Menschen erfahren hatte als von irgend jemandem sonst. Für Tarak war jeder Mensch wie ein scheues Pferd, das man nur zähmen musste, um zu seinem Herz vordringen zu können.
Ja, es gab einige, die er in der Großen Feste vermisste, und er freute sich, diese Menschen wieder zu sehen. Doch all das blieb überschattet von dem Wissen, dass er sich seinem Vater stellen musste...
Schließlich schlug die Karawane ihr letztes Nachtlager auf. Morgen, am frühen Nachmittag, würden sie in der Stadt ankommen.
Es war gerade in dieser Nacht, als die Träume wiederkehrten. So klar und deutlich, wie sie in der ersten Nacht nach ihrer Abreise aus Himmelstor gewesen waren.