03.01.1042 - Tag des Affen - AbendSchlagartig wurde es nach Xū Dǎnshís letztem Wort still, der Ort selbst schien auf einmal ein Ort der absoluten Stille zu sein, denn die Denunzianten hörten nicht einmal mehr ihren eigenen Atmen, das Atmen der Erde war ebenso fort. Wenn jemand versuchte zu sprechen, hörte er nicht mehr seine eigenen Worte. Den eigenen Herzschlag spürte man in diesem Moment jedoch überdeutlich. Die diamantene Stimme durchschnitt den Zustand absoluter Geräuschlosigkeit.
"Die Ouroboroi sind keine Menschen, sie sind Ouroboroi.", sagt die Stimme mit Nachdruck und unterdrückte weiterhin alle anderen Geräusche. "
Die Ouroboroi sind keine Wesen, die wahre Wiedergeburt wollen. Es sind Wesen, welche die Unsterblichkeit wollen. Die auszubrechen gedenken aus dem ewigen Zyklus und auf ewig als lebendes Wesen im Diesseits zu sein, in demselben Körper, mit demselben Geist, mit denselben Erinnerungen. So wie es einstmals war, als Seheiah[1] den Gral des Lebens stahl und ihren ersten Kindern das Geschenk des ewigen Lebens machte. Elben nennt ihr diese Wesen und erst ihre Hybris hat den Göttern die Eintracht geschenkt, um ihnen die Unsterblichkeit zu nehmen. Nun sterblich, zerstritten sich die Elben untereinander und während die Schönen, wie sie auch genannt werden, die Anmutigen, sich in ihr neues Schicksal ergaben, da sie selbst so noch so alt wie zehn Menschen werden, haben manche Elben die kostbare, zeitliche Unsterblichkeit und das Gefühl der damit verbundenen Macht nicht vergessen. Um sie zu erlangen, verbanden sie sich mit den Schatten. Ihr Erster heißt Imbrâsîl[2]. Sie jagen die Unsterblichkeit. Und sie hoffen, dass wenn sie mich töten und ich, oder jemand anderes als mein Ersatz, neu geboren werde, dass sie meine Macht stehlen können, um wieder ohne Schatten leben zu können, um wieder zeitlich unsterblich zu sein!"Die Trägheit der Erde war wie verschwunden, sie schien tatsächlich aus ihrer Gleichgültigkeit geweckt, wie sie gesagt hatte. Die kristallklare Stimme sprach nicht nur deutlich, sie äußerte auch erstmals ihre Sorgen, mit Nachdruck und ohne die Möglichkeit, dass man ihr ins Wort fallen konnte
[3].
"Ich habe mehr gesprochen als in tausend Jahren. Dieser Respekt gebührt euch. Macht aus diesem Wissen, was ihr für richtig haltet. Ich wünsche euch alles Gute.", sagte die Stimme mit neu gewonnener Weichheit, mit fast schon einer unglaublichen Fürsorge, welche durch eine letzte Berührung mit der Macht verstärkt wurde. Die Stimme der Erde veränderte die Klangfarbe in eine weibliche. Es schien kein Wunderwerk mehr, dass andere Wesen auf die Idee gekommen waren, die Erde auch Mutter Erde zu nennen. Vielleicht waren sie auch dieser Stimme begegnet. Und auch wenn die Worte an Xū Dǎnshí eher kritisch klangen, schienen die Worte der Erde nicht nachtragend. Die Berührung war warm.
Dann endete die Präsenz abrupt, der Raum schien sich wieder aufzuhellen und er wirkte wieder kalt und bis auf die Denunzianten und die karge Einrichtung leer und rot. Das Gefühl der warmen Berührung jedoch blieb
[4].
04.01.1042 - Tag des Takin - MorgenWaren das so große Dimensionen, die dort in diesem kleinen Gefängnis von statten ging? Steckte dort so viel dahinter? Gab die Erde vielleicht nur einen Blick darauf, wie sie die Dinge sah und fürchtete? Sie hatte nicht ein Wort über die direkte Konstellation am Hof oder mit den Feinden des Hofes erwähnt, nur kryptisch von den Ouroboroi und der Gefahr, und für andere wohl auch Hoffnung, für den Kontinent gesprochen. Vielleicht machten die Aussagen auch deshalb einen Sinn, vielleicht war es aber ein Spiel Shǎzis
[5]? War dieses Wissen den Denunzianten überhaupt von Nutzen? Fragen über Fragen, welche einen unter Umständen um den Schlaf bringen konnten. Ohne Zweifel war es eine merkwürdige und doch bleibende Begegnung. Und während die Gedanken darum kreisten, ging auch der Tag des Affen vorbei und wechselte in den Tag des Takin. Der Takin ist wohl die größte und kräftigste der Ziegen und war das Zeichen für Ausdauer und Sanftmut, aber galt auch als Symbol für Intuition und Genügsamkeit, auf der Schattenseite der Attribute waren jedoch auch Eigensinn, Überängstlichkeit und Uneinsichtkeit zu finden. Was dieser Tag wohl bringen mochte? Der Tag des Drachen rückte unaufhaltsam näher...
"Ich befehle, dass die Männer und die Frau umgehend geweckt werden. Sie sollen sich herrichten, wie sie es gewohnt sind, wenn hoher Besuch kommt.", es war die Stimme von Boss, welche vor der Tür des Gefängnisses bellte.
"Frühstücken müssen sie später. Der General des Nordens ist ungeduldig. Macht schon!"Eine Wache stürmte in das Gefängnis und hämmerte an jede Zellentür.
"Aufstehen! Schnell, macht euch fertig. Der General des Nordens[6] wird euch gleich besuchen! Schnell! Schnell!"Die Stimme klang unsicher und nervös, es schien ein junger Wachmann zu sein, der es nicht gewohnt war, dass hohe Beamte in seiner Nähe sein konnten.
"Schnell, sonst wird er euch...""Raus.", unterbrach eine scharfe Stimme den jungen Wachmann. Sie erinnerte an die Stimme Chuang Wangs, nur noch ein bisschen authoritärer, und etwas tiefer.
"Ich, Chuang Qi, möchte eure Gesichter nicht sehen, weshalb ihr in euren Zellen, hinter euren geschlossenen Türen, bleiben werdet." Sie war nicht nur authoritärer, sie war drohend, aggressiv und determiniert.
"Jede Zuwiderhandlung wird mit Schmerz enden. Ich habe drei der besten Armbrustschützen bei mir. Sollte sich eine eurer Türen öffnen, wird der jenige qualvoll verstümmelt. Zwei Schüsse in die Schultergelenkte, einer in den Hals." Wie zur Bestätigung seiner drohenden Worte, ertönte das Spannen von Armbrüsten. Die Männer mussten sich leise oder im Schutz der auffordernden Worte des jungen Wächters in den Raum bewegt haben. Die Tür aus dem Raum raus wurde geschlossen.
"Ich habe viel gehört und ich habe viel von euch gesehen. Akten, das Verhalten der Gan-Brüder gegenüber, das konspirative Gespräch mit meinem nichtsnutzigen Bruder. Aber ich will nicht so sein. Wenn einer von euch gesteht, egal wer, können wir diese Chose beenden. Klingt einfach und ist einfach. Mir ist es egal, wer von euch etwas Schlimmes getan hat. Mir ist egal, welches Ausmaß das hat. Sucht es euch aus, einer von euch opfert sich und denkt sich eine gute Geschichte aus, wie er den Kaiser getötet hat. Der Rest darf ungehindert ins Exil gehen."Ein merkwürdiges Angebot, welches Chuang Qi unterbreitete, und scheinbar schien er nicht mal Sorge zu haben, dass ihn jemand belauschen könnte.
"Exil bedeutet ein Domizil in Gangxi[7], freie Ausreise nach Xian oder ein Schiff nach Niedra[8]. Wer die dritte Möglichkeit in Betracht zieht, muss sich schnell entscheiden. Es läuft in sieben Tagen aus. Der Weg zum nächsten Hafen ist weit. Alternativ wäre auch eine Flucht in die nördlichen Berge oder in das Sumpfherz denkbar. Ihr würdet für zehn Jahre verbannt werden, danach könntet ihr zurückkehren, wenn es euer Wunsch ist. Es muss sich lediglich einer von euch opfern."Der General des Nordens sprach sehr direkt, kurz angebunden und zielgerichtet und dadurch unterschied er sich sehr von allen anderen Besuchern, die bisher gastierten. Und er machte kein Hehl aus seiner Art. Seine Offenheit war fast angsteinflößend, auch wenn seine Präsenz sehr blass war gegen jene, welche die Erde hatte.
Der Tag begann...ungewöhnlich.