6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 10:46 Uhr - Gebäude des Kommandanten, provisorische Zelle
Ohlendorf hörte dem Chemiker aufmerksam zu und sah ihm bei der Unterschrift zu, hielt jedoch stets einen Respektsabstand.
"Machen Sie sich darum keine Sorgen, Herr Nobel. Schnelles und effizientes Arbeiten wird von mir verlangt. Verwundete oder verstümmelte Veteranen ohne monetäre Rücklagen überleben in dieser Welt nicht lange, das gewöhnt einem das schnelle Arbeiten von ganz alleine an. Zudem haben Sie das Glück, dass Sie nicht alleine in der Sache stehen. Das ist ein nicht zu verachtender Vorteil." Der Mann vergrub seine schwieligen Hände in seinem Jackett und trat in die Richtung der Tür.
"Ich werde Ihre besten Wünsche übermitteln, sobald Professor Himly und ich uns wiedersehen. Doch vorerst müssen wir Sie einfach nur verlegen."Jens Ohlendorf wechselte ein wenig, er wirkte jetzt zwar deutlich erleichtert, drückte jedoch auch auf das Tempo. Er konnte es entweder nicht erwarten, sich endlich wieder an die Arbeit zu machen oder vielleicht drückte noch etwas anderes auf ihn ein, sodass es ihn zu Schnelligkeit ermunterte.
"Ihre Gegenstände werden geholt werden und ich werde mich persönlich und umgehend darum kümmern, dass Ihr Bruder zu ihnen verlegt wird! Die Geschichte um die Solros werde ich wahrscheinlich, zumindest am Rande, auch übernehmen. Es ist zu erwarten, dass der Angriff auf Ihr Schiff im Zusammenhang mit Ihrer Anklage zu sehen ist. Das ist für mich bisher jedoch nur eine vage Vermutung."Er begleitete Alfred zur Tür und übergab diesen der Obhut der beiden Obergefreiten, erklärte kurz, dass er sofort den Oberstwachtmeister aufsuchen würde, um ihn von der Verlegung Emils zu überzeugen. Er war äußerst kurz angebunden nach der Unterschrift Alfreds, aber es schien nicht unehrlich oder unaufrichtig zu sein, sondern seinen Auftrag sofort und sorgfältig ausführen zu wollen. Aber Alfred wurde das Gefühl nicht los, dass er alleine kaum der Grund dafür sein konnte, dass Jens Ohlendorf dermaßen Kohle im Ofen hatte.
"Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Herr Nobel. Wir sehen uns alsbald wieder!" Schnellen Fußes entfernte sich der Anwalt, nachdem er dem Schweden die Hand gegeben hatte. Sein Weg würde ihn zum OWM führen, während die beiden Obergefreiten Hammer und Fritz sich Nobel annahmen und ihn in seine neue Wohnung führten.
6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 11:25 Uhr - Frau Borggrefes Haus, Unter Arrest
Alfred wurde von den beiden deutlich übermüdeten Obergefreiten in die Wohnung geführt, welche einer Dame namens Martha Borggrefe gehörte. Nur der Soldat Fritz wusste zwei, drei Worte über die Dame zu verlieren. Sie war zu Lebtagen mit einem Ingenieur oder einem Industriellem verheiratet. Sie sei dadurch zu einigem Ansehen und Vermögen gekommen und habe sich immer als Mäzenin junger Wissenschaftler verstanden. Hammer kannte die Frau gar nicht, Fritz hingegen hatte etwas Wehmut in seiner Stimme. Alfreds Eindruck, dass der junge Mann den Militärdienst nicht freiwillig gewählt hatte, bestärkte sich. Dennoch gab es nicht viel Gelegenheit, darüber zu sprechen. Fritz und Hammer hatten zwar zusammen mit dem Schweden einen formidablen Fußweg vor sich, sie waren fast zwanzig Minuten unterwegs gewesen, aber die beiden Soldaten hielten sich sonst eher bedeckt und antworteten evasiv.
Frau Borggrefes Wohnung war entgegen der Vermutung, welche sich nach Fritzens Worten aufgedrängt haben mochte, sehr nüchtern eingerichtet. Fritz und Hammer hatte ihm an der Tür sich selbst überlassen und ihm einen angenehmen Tag gewünscht und Nobel mitgeteilt, dass sie ein Zimmer am Ende des Ganges beziehen würde und später am Tag zwei weitere Soldaten einziehen würden: Obergefreiter Rix und Corporal Röschmann. Wenn Alfred Probleme, Sorgen und Nöte hatte, sollte er Bescheid geben und man würde sich darum kümmern, so man in der Lage dazu war.
Das Haus war als Mehrfamilienhaus ausgelegt gewesen, auf drei Stockwerken hatten zwölf Wohnparteien ihren Platz in diesem einfachem Haus aus gelben Backstein gefunden. Die Fenster waren unzureichend und es zog wie Hechtsuppe durch die schmalen Gläsern, an denen sich aufgrund des kalten Wetters auch Eisrosen gebildet hatten. Das galt auch für die kleine Wohnung, in der Alfred einen Platz fand. Anderthalb Zimmer boten sich ihm an. Eine kleine Stube wurde von einem Kanonenofen
[1] dominiert, lediglich ein bequemer Lesesessel und ein unverzierter, aber äußerst stabiler Sekretär
[2] standen im Raum. Alles stand auf alten, durchgetretenen Dielen, die sehr stark nachgedunkelt waren. Trotz aller Unannehmlichkeit, den Eisrosen an den Fenstern und der Kargheit, strahlte dieser Raum eine gewisse Gemütlichkeit aus. Auf dem grün bezogenen Sessel lag eine einfache Wolldecke.
Ein kleiner Durchbruch führte in eine kleinere Kammer, in der lediglich ein Bett stand, welches frisch bezogen war. Es war etwas durchgelegen. Merkwürdigerweise hing über dem Bett ein Bild des Alten Fritz
[3]. Auch die Stube war zwei weiteren Bildern behangen, sie ähnelten sich lediglich dadurch, dass die Bilder Herrscher darstellten, welche für ihre Liebe zur Philosophie berühmt waren. Ansonsten waren sie im Stil, in Farbe und Arrangement unterschiedlich. Die beiden anderen Bilder stellten Mark Aurel
[4] und Friedrich II.
[5], dem römischen-deutschen Kaiser aus dem Geschlecht der Staufer, dar. Auf dem Sekretär lag ein Kruzifix, auf dem Nachtisch neben dem Bett stand eine kleine Madonna. Neben den beiden Räumen gab es noch ein sehr kleines Bad und eine Küche. Während die Küche ein fast völlig unbestückter Raum war, in dem eine Arbeitsplatte und eine kleine Hexe stand, auf der Tee gekocht und Kleinigkeiten zubereitet werden konnten, sowie ein kleiner Eimer mit sauberen Besteck, war das Bad die eigentliche Schatzkammer des Hauses. Es war zwar auch sehr klein, sodass nur eine Toilette und eine kleine Kabine hineinpasste, aber diese beiden Gegenstände hatten es im Vergleich mit einen gängigen Wohnung in sich. Die Toilette besaß eine eigene Spülung, die Kabine entpuppte sich tatsächlich als Dusche mit fließend Wasser. Kleine Röhrchen zogen sich durch die Wand und Alfred erkannte, dass sie mit dem Ofen und der Hexe verbunden war. Ein Wasserbehälter konnte somit erhitzt werden, wenn man sowieso die Wohnung heizte oder sich Nahrung zubereitete. Eine Dusche war ein herausragender Luxus in solch einer kleinen Wohnung. Sie war zwar klein, aber sicherlich würde sich die Zeit ertragen lassen. Auch wenn man für Emil eventuell ein zweites Bett anschaffen müsste.
Während Alfred sich fröstelnd umblickte, konnte er erkennen, dass draußen leichter Schneefall einsetzte. Aber im Zweifelsfall würde Alfred sich die Kamin anzünden können. Der Himmel war komplett mit schneeweißen Wolken eingedeckt, die sich kaum angekündigt hatten, Alfred wurde immer kälter. Jetzt hieß es warten, dass die ersten Ergebnisse kamen, seine Habseligkeiten ihm gebracht wurden oder er widmete sich bereits...es klopfte an der Tür. Ein schlaksiger Soldat hatte sich angekündigt, er hatte ein schmales, kantiges Gesicht. Er wirkte so, als hätte er bereits einen am Tee, denn seine Augen waren glasig und sein Schritt nicht ganz sicher, dennoch machte er seinen sympathischen Eindruck. Seine Kleidung saß etwas schief.
"Gestatten, Corporal Richard Röschmann.", sagte er kaum hörbar. Seine Stimme war laut genug, aber sie wirkte stammelnd. Der Alkohol war sicher kein Grund dafür, es schien seine Art zu sprechen zu sein. Er wischte sich seine halblangen, braunen Haare über den Kopf nach hinten und setzte die Mütze wieder auf, die er zur Begrüßung gelupft hatte.
"Ich bringe Ihre Sachen, Herr Nobel." Er stellte tatsächlich Alfreds Sachen ab, konnte aber noch nicht bestätigen, was jetzt mit Emil passieren würde. Auch er kündigte an, dass er in der Wohnung am anderen Ende der Etage wohnen würde. Alfred konnte sich vorstellen, dass es nicht sehr komfortabel sein konnte, mit vier Soldaten in einer ebenso kleinen Anderthalbzimmer-Wohnung zu nächtigen. Röschmann war schon weiter gehumpelt und Alfred schloss wieder die Tür. Die Schneefall war inzwischen stark und tiefweiß.