6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 11:11 Uhr - Gut Emkendorf
Der Herzog erhob sich langsam, als über eine Minute kein Schuss erklang, obwohl der Nebel sich schon längst verzogen hatte. Vorsichtig wagte der Braunschweiger den Blick aus dem Fenster, kurz und flüchtig. Als kein Schuss kam, wagte er es immer länger, versuchte die Umgebung zu erfassen. Zwischen den kahlen Bäumen, die im Vorhof standen, hatte er nicht unendlich Möglichkeiten zu lauern und so war sich der Schwarze Braunschweiger irgendwann sicher, dass der Schütze sich zurückgezogen haben musste. Er lud seine Pistole nach, denn sicher war sicher. Der Schotte blieb derweil kniend am Boden, über seinem gefallenen Kameraden. Fast regenlos betrachtete er dessen leblosen und blutüberströmten Körper, sagte jedoch nichts. Der Braunschweiger nutzte die Chance, um auch auf dem Flur nach dem Rechten zu sehen.
"Keine unmittelbare Gefahr. Die Blutspur der Attentäterin führt in die westlichen Räume.", stellte der Mann fest.
"Eigentlich hätten dort zwei meiner..." Ein lauter Schuss ertönte, gequälte Schreie ertönten durch die zerbrochenen Fenster. Die Schreie kamen deutlich aus dem Westen. Das Geschreie ließ für einen Moment nicht nach, ehe es gurgelnd und plötzlich erstickte.
"Der Versorgungseingang...", brachte der Herzog mit zitternden Lippen hervor.
"Sie werden über ihn fliehen wollen. Die Schreie gehörten bestimmt Horst..." Der Herzog blickte traurig auf den verwüsteten Boden seines Arbeitszimmers. Seine Augen wurden feucht, aber er hielt die Tränen zurück. Wieviel Arbeit mochten in der einzigen Minute des intensiven Gefechtes verloren und zerstört worden sein? Jahre der Arbeit waren getränkt mit Blut, durchstoßen von Säbeln, zerschlagen von Zweihändern...
Der Braunschweiger übernahm die Initiative, als er sah, wie fassungslos der Herzog ob dieses Angriffes war.
"Sie haben Recht, Herr Rosenstock. Ihre zynischen Worte sind angebracht. Herr von Reventlow ließ einen geheimen Keller für literarische Schätze anlegen, soweit ich weiß. Dorthin sollten wir uns zurückziehen und beraten, austauschen oder was seine Durchlaucht wünscht."Fast wie eine dampfbetriebene Entwässerungsanlage, so mechanisch und automatisch, bewegte sich der Herzog auf eine Regalwand zu und nahm einen Schlüssel hervor, der zwischen zwei Buddelschiffen
[1] gestellt war. Sie waren staubig und hatte Blutspritzer abbekommen. Der Schlüssel war ein großer und dem Aussehen nach sehr alter Skelettschlüssel
[2].
Schnell war Karl gepackt und alle konnten den gefährlichen Raum verlassen, doch nicht, bevor der Herzog noch einen Stapel aktueller Briefe und die oberste Schublade seines Schreibtisches an sich genommen hatte. Ein paar Briefe hatten Blut abbekommen und würden alsbald abgeschrieben werden müssen, damit Nuancen nicht unter Umständen verloren gingen. In der Schublade lagen Urkunden. Er ließ sich vom Braunschweiger noch ein Stapel leeres Papier mitnehmen, sowie ein Tintenfässchen, Tintenpulver und eine Schreibfeder hatte er sowieso am Mann. Dem Schotten wurde befohlen, schweigend und unbewaffnet zu folgen, was dieser mit sich machen ließ. Donald sah deutlich, dass dessen Kampfgeist gebrochen war.
Der Braunschweiger und Donald übernahmen Vor- beziehungsweise Nachhut und so bewegten sich alle aus dem Raum. Sie gingen auch nach Westen, folgten einer tiefroten Blutspur bis kurz vor Ende des Traktes. Der Herzog zögerte und wollte durch die große Doppeltür gehen, doch der Braunschweiger hielt ihn fest.
"Euer Durchlaucht! Euer Koch wird tot sein und vielleicht lauert dahinter eine weitere Falle. Lasst uns Reventlows Sanktuarium aufsuchen." Die Blutspur führte durch die Tür durch, sie war deutlich. Die Attentäterin musste schnellen Schrittes unterwegs gewesen sein, sie blutete so stark, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe sie verblutete. Während der Herzog auf die Blutspur starrte, öffnete der Braunschweiger eine der umgebenden Türen, welche in ein auffällig leeres Musikzimmer führte. Auch dieses Zimmer war verhangen, was dafür sprach, dass der Herzog es relativ häufig aufsuchte. Es roch deswegen muffig und nach altem Eau de Cologne
[3]. Der Boden war ein alter Dielenboden, wohl auch aus akustischen Gründen, die Wände waren beinahe schmucklos. Nur Staubränder an den weißen Tapeten erinnerten daran, dass hier einstmals Porträts hangen. Ein elfenbeinfarbener Flügel stand in der Mitte des Raumes, darum aufgestellt waren mehrere ebenso elfenbeinfarbene Sitzhocker und Notenständer aus Messing. Auf manchen langen noch Notenblätter. Ein Bratschenkoffer stand neben dem Flügel. Auf dem Hinterdeckel des Flügels lag ein abgebrochenes Griffbrett einer Geige. Der Braunschweiger schob das schwere Tasteninstrument ein Stück zur Seite. Die Diele schien hier so geschlossen, wie an anderen Stellen auch. Mit einem Naserümpfen nahm er das abgebrochene Griffbrett vom Flügel und zog zwei der aufgelegten Metallstreben raus. Am Ende der vielleicht fünfzehn Zentimeter langen Metallstreben kamen, als sie herausgezogen waren, Haken zum Vorschein. Mit jenen voraus steckte er die Streben zwischen die Fugen links und rechts einer Diele, bis sie einhakten. Dann nahm er einfach die Diele, die sich erstaunlich leicht rausheben ließ, heraus. Dies wiederholte er bei drei weiteren Dielen, sodass der Boden unbedeckt war. Ein schmaler Durchgang kam zum Vorschein, durch den ein fülliger Mensch kaum käme. Spinnweben hangen in ihm, er war lange nicht benutzt worden.
"Sie sehen ein, dass wir leicht dort unten entdeckt würden, wenn alle dorthin gingen. Ich werde hier bleiben und die Dielen gleich wieder einsetzen und mich umschauen, nach meinen Männern suchen und die Größe des Schadens bestimmen. Sie werden sehen, dass wenn Sie hochwollen, Sie leichtes Spiel haben werden, wenn Sie von unten die Dielen herausdrücken. Den Flügel werde ich seitlich stehend belassen, und den Rest so arrangieren, dass sein neuer Stellplatz natürlich wirkt." Er deutete auf den dunklen Durchgang, der wahrscheinlich nicht tief in die Erde führte, dennoch strömte kühlere Luft entgegen. Der Herzog nickte nur, schwer in Gedanken und mit der Situation beschäftigt. Der Blick auf den toten Karl verbesserte seinen Zustand nicht sonderlich.
"Sie sehen, ich vertraue Ihnen.", fügte der schlanke, soldatische Braunschweiger an.
"Sonst würde ich Sie nicht alleine mit seiner Durchlaucht lassen. Sie haben seiner Durchlaucht das Leben gerettet, da wird Ihnen zu trauen sein. Aber da wir vielleicht nicht viel Zeit haben, biete ich Ihnen diesen Unterschlupf nur jetzt an. Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie diesen Ort schnell verlassen sollten, werde ich Sie nicht aufhalten. Nicht, dass ich nicht wollte, aber ich kann Ihnen dies nicht verdenken, auch wenn ich es für törricht hielte. Und da Sie dem Herzog das Leben gerettet haben, stehe ich in dieser Hinsicht auch in Ihrer Schuld. Wenn Sie gehen wollen, sind Sie frei zu gehen. Wenn Sie bleiben wollen und gedenken, sich mit seiner Durchlaucht zu arrangieren, würde ich dies das erste Mal auch begrüßen." Der Schwarze Braunschweiger versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, aber auch wenn er sich bemühte, das Beil des Argwohns zu begraben, selbst jetzt schaffte er es nicht, sich seine Arroganz und Süffisanz aus dem Gesicht zu wischen. Der Herzog war der gröbste Gegensatz dazu. Stillschweigend und zu Tode betrübt.
6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 12:30 Uhr - Frau Borggrefes Haus, Unter Arrest
Der Corporal zuckte mit den Schulter auf Alfreds Worte und trat ein paar Schritte ein.
"Keine Sorge, Herr Nobel. Bin Ihnen nicht böse dafür, dass Sie mir meinen Nikolaustag verhagelt haben könnten. Wären Sie nicht gewesen, hätte ich wahrscheinlich den Einlauf irgendeines preußischen Schiffes überwacht und mir die Kronjuwelen am Kai verfroren." Der Corporal versuchte sich diplomatisch und er sah es wahrscheinlich nicht ganz so locker, wie er es auszudrucken versuchte. Er setzte sich hin und legte sein dürres rechtes Bein über sein nicht fülligeres linkes Bein und stütze die Arme darauf ab. Sein Kopf schien wenig Fülle zu haben, unter der Haut lag der Schädel eng an, als hätte man ihn mit zu wenig Haut bespannt und sie deswegen übermäßig strecken müssen. Nur die Falten an den Augen und den Mundwinkeln deuteten darauf hin, dass genügend Haut vorhanden war.
"Wenn Menschen sterben, egal wessen Rock sie tragen, ist das doch meist tragisch, nicht wahr? Und man kann sich immer Vorwürfe machen und vielleicht stimmen sie auch. Aber was hat man davon, wenn man diese Vorwürfe, gerechtfertigt oder nicht, in jede Unterhaltung bringt? Wenn Sie mich fragen, Herr Nobel, können Sie das Thema gerne ruhen lassen, wenn es Sie traurig macht." Die glasigen Augen des dürren Corporals blickten Nobel an, er lächelte sehr sanft für einen so ausgezehrt wirkenden Mann.
"Ein Gericht hat über Sie zu urteilen, Sie haben über sich zu urteilen und...", er zeigte mit dem knorrigen Zeigefinger seiner linken Hand an die weiß verputzte Decke des Raumes,
"...der da oben. Ich kann nicht urteilen und ich habe keine Freude an ihrem guten oder ihrem schlechten Gewissen. Aber ich bin dankbar dafür, dass Sie an die Männer denken mögen, welche dort draußen auf und in See um Ihr und unser Wohl kämpfen, seien es nun Soldaten oder Fischer."Die rechte Hand griff nach einem der Gläser, welche Alfred reichte. Ihm schien das Thema mit Alfred und seinem Schiff und dessen mögliche Verwicklung unangenehm zu sein. Vielleicht mochte er es einfach nicht, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Er wechselte das Thema, nachdem er klaren Korn
[4] in die Gläser gefüllt hatte und mit Alfred auf die vielen aufopferungsbereiten, aber sicher auch teils egoistischen, Seefahrer getrunken hatte. Auch auf jene Seefahrer, welche in der Nikolausnacht, in der Nacht ihres Patrons, ihr Leben verloren hatten.
"Den Obergefreiten haben sie auch geladen? Haben Sie denn nichts für die anderen beiden Obergefreiten, Herr Nobel? Es wäre mir doch schwerlich, wenn ich schon nicht bei meiner Familie sein kann und dann doch jene, die nichts dafür können, dass es ihnen genauso ergeht, darunter leiden müssen. Ich und der Rix dürfen genießen, während Hammer und Fritz lägerig vor Müdigkeit sind?"Jetzt füllte der Corporal alle drei Gläser, die Alfred mitgebracht hatte und blickte ihn an. Es lag eine gewisse Aufforderung in seinem Blick, aber keine unfreundliche.