7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 12:03 Uhr - Christian-Albrechts-Universität - Alter Hörsaal
Neunzig Minuten konnten wahrlich kurz sein, wenn man von einer Vorlesung fasziniert war und ebenso kurz konnte sie sein, wenn man sich selbst auf das zu sprechende Wort und das Auditorium konzentrieren musste. Ihre Regungen studierte und sich ihren unbewusst und bewusst geäußerten Wünschen anpasste, so es das eigene Konzept und das eigene Thema hergab und zweifelsohne hatte Samuel Weißdorn an diesem Morgen auch die Gescheitetesten unter den Kieler Gelehrten zumindest verblüfft, wenn nicht gar eine ganze Reihe von ihnen überzeugt. Aufgeregt schnatternd löste sich die Menge der Zuhörenden auf, bis nur noch eine kleine Traube von Studenten und zwei Dozenten übrigblieb, welche Doktor Weißdorn nicht nur zu dieser herausragenden Einführungsvorlesung gratulierten, sondern ihn auch mit allerhand kleinen Detailfragen oder nichtigen Nachfragen zum Datum des nächsten Kollegs belästigten. Samuel konnte auch diese zur Zufriedenheit beantworten, die wiederholten Fragen nach dem Sinn der Verzögerung, der emotionalen Aufladung des Gehaltes. Hier ein Lob für die objektivierte Beweisführung darüber, dass selbst hehreste Wissenschaftsversuch doch noch immer den Grenzen des Subjektiven ausgesetzt sei, kurzweilige Ausschnittdiskussionen darüber und immer wieder die Bekräftigungen des Gesagten aus der Vorlesung. Beinahe zehn Minuten hielt der Belagerungszustand an, gleichwohl gewährte Gustav Karsten diesen Zustand, dieses Bad in den Begeisterten, während dieser sich selbst beflissentlich zurückhielt.
Diese Zurückhaltung gab dem immer noch leicht nervösen Karsten die Chance Alfred zuzunicken und das Wort erheben zu wollen, doch abermals kam ihm Carl Himly zuvor. Er rückte die Brille auf der Nase zurecht.
"Keine Ursache, Herr Nobel. Natürlich dürfen Sie Ihre - Gott sei es gedankt - nicht so universitär-geprägte Meinung äußern und natürlich dürfen Sie den Herrn Karsten einladen." Carl klopfte Gustav auf die Schulter, der sich ein freundliches Lächeln abquälte. Der Versuch war ehrlich, das erkannte Alfred, doch dieser Mann hatte einfach kein Gesicht für die Freundlichkeit, sondern eher für die beflissentliche Ernsthaftigkeit. Gustav Karsten, der Mineraloge, legte die Hände hinter dem Rücken zusammen und hielt sich im Wissen, dass Himlys Redeschwall nicht so bald enden würde, zurück, auch Conrad und Samuel aus den Augenwinkeln beobachtend. Doch Himlys Lächeln erlosch und seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, seine Stimme so leise, dass nur Karsten, die beiden Nobels und der inzwischen nahende Conrad Rosenstock es hören konnten.
"Herr Nobel. Um ehrlich zu sein, ist dies der sicherste Ort, den wir für den Moment haben. Wenn nach Ihnen gesucht würde..." er blickte zu Conrad, ließ ihn aber herannahen, da Alfred ihn höchstselbst, trotz dessen Rüstmontur, rangewunken hatte,
"nützte man diesen Moment, in dem die Menge aus den Hörsälen strömt, um sie ausfindig zu machen. Man wird Sie für den Moment verloren glauben und erst später auf die einfachste Lösung kommen. So ist es doch immer, nicht wahr, Herr Nobel? Wir Menschen tendieren danach, immer den Schwersten aller Wege zuerst abzusuchen statt das Augenscheinliche zu beobachten. Ehe Ihnen einfällt, dass Sie noch hier sein könnten, werden wir Sie in Sicherheit gebracht haben. Doch das muss noch zwanzig Minuten warten."Carl Himly glaubte den Wink verstanden zu haben, und ließ Conrad sehr nahe kommen, stellte sich und den Herrn Gustav Karsten vor. Doch noch mehr Männer waren im Saal geblieben, während die Traube um Samuel Weißdorn sich auflöste und der Doktor nach seiner Vorlesung endlich einen Schluck des inzwischen handwarmen Wassers trinken konnte.
Holsteinische Soldaten, Fiete Riensche und der Kamerad Schlosser, schlossen die Türen hinter sich und stellten sich als Wachposten davor auf. Ein Eindringen würde zeitig bemerkt werden. Wer auch immer dieses Treffen geplant hatte, er hatte junge, sehr kräftige Soldaten für diese Aufgabe ausgesucht. Sich auch darauf verlassend, dass die Präsenz einer Wache viel ihrer wachmännischen Fähigkeit ausmachte. Im Raum umringte alsbald ein ganzer Schlag gestandener Männer das Pult, im Sinne einer kollegialen Kooptation
[1] wurde jedoch Samuel nicht am Pult gelassen, sondern in diesen Kreis aufgenommen. Conrad konnte sich gar nicht wehren, als sich auch eingliedern zu lassen. Und so standen sie dort: Alfred Nobel, Emil Nobel, Conrad Rosenstock, Carl Himly, Gustav Karsten, Gustav Ferdinand Thaulow, und sogar der herrisch wirkende Berliner Dozent und Alumi der Kieler Universität, der verehrte Theodor Mommsen
[2] war anwesend. Zudem war Albert Hänel
[3] dort, der als Rechtsprofessor und Mitglied der Schleswig-Holsteinischen Liberalen Partei bekannt war, außer standen Wilhelm Seelig
, Professor für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Statistik und zu guter Letzt Johann Carl Otto Ribbeck
[4], der bekannte Philologe, dabei. Es war ein unwahrscheinlicher Kreis, der dort zusammengekommen war. Zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt, unter ungewöhnlichen Vorzeichen. Und in diesem Sinne begrüßte Carl Himly auch alle anwesenden.
"Die Krone der Doppeleiche[5] ist mächtig, dass ihre vielen Zweige in so viele Bereiche unseres Lebens dringt und sie uns doch bewusst macht, dass wir alle ihrem Stamme angehören. Ich brauche nicht zu erzählen, welche Last auf uns liegt. Der geschätzte Kollege Mommsen berichtete uns eindrucksvoll davon, dass während wir hier stehen und wichtige Entscheidungen treffen werden, der Bund die Bundesexekution[6] gegen Christian IX. berät und mit höchster Wahrscheinlichkeit beschließen wird. Meine Kollegen, wir sind am Morgen eines Krieges, der die Grundfesten der Doppeleiche erschüttern kann! Von Norden nähert sich ein unbarmherziger Holzfäller, während von Südosten ein Brandroder in den Norden ziehen will. Doch wir bleiben dabei! «unde dat se bliven ewich tosamende ungedelt!»" -
"Up ewich ungedelt!", antworteten die anderen ranghohen Herren dieses vielleicht schon konspirativen Kreisen, und Himly, der diese Art von Ansprache, diese Art von Pathos vielleicht sogar mochte, hätte sicherlich gerne weitergesprochen, doch nun war es an Gustav Karsten in seine Ansprache zu platzen.
"Wir sind nicht hier, um studentische Parolen aus der Teutonia[7] zu blöken. Das ist etwas für die Straße. Wir sind unserer Sache in diesem Haus gewiss, auch wenn ich Ihren Eifer bewundere, Kollege Himly." Himly lächelte nickend, während Karsten nur ein neutrales Nicken von sich gab. Für den Gesichtsausdruck Karstens war das jedoch schon freundlich. Eine näselnde Stimme schob sich dazwischen, sie gehört dem knapp fünfzigjährigen, zerbrechlich wirkenden Mann mit kleiner Brille und sehr strengem Blick. Mommsen sagte:
"Ich habe einiges von Ihnen gehört, Kollege Himly. Ich denke, Sie sollten gleich zu den Punkten kommen, gerade unter dem...Ausblick des Geschehenen und des zu Erwartenden. Ich habe gehört, dass es Schüsse in der Innenstadt gegeben haben soll und das in Dänischenhagen bereits kleinere Schlägereien zwischen deutschgesinnten und dänischgesinnten Studenten gegeben haben soll! Während die sich verunstalten mit liederlicher Gewalt, sollten wir uns also nicht dessen versichern, was wir sowieso wissen. Da gebe ich dem Herrn Karsten aber recht!"Wilhelm Seelig lachte, es war ein donnerdes, kehliges Lachen, welches man diesem menschlichen Rechenschieber, als den man ihn gerne bezeichnete, gar nicht zutrauen mochte. Wer ihn kannte, wusste jedoch um seine Geselligkeit. Dennoch kehrte schnell Ruhe ein, zumal Mommsen es mit einem Fingerschnippen forderte. Himly setzte wieder an, er blickte gleich zu Alfred Nobel.
"Ich weiß, Herr Nobel. Was ich jetzt fordere ist nicht leicht für Sie. Aber ich würde Sie darum bitten, Ihre Geschichte, Ihre Erlebnisse nochmal kurz für alle darzulegen. Nur die wichtigsten Punkte,tun Sie es für sich und Ihren Bruder." Himly bemühte sich um ein freundliches Lächeln, er wusste, dass diese Versammlung überfallartig war. Alfred konnte sehen, wie Ribbeck ein paar gekrakelte Unterlagen hervorkramte. Ob dies die Erpresserbriefe waren, die er übersetzt hatte? Hänel hingegen nickte Alfred zu und sprach auch aufmunternd auf ihn ein, nachdem er sich nochmal vorgestellt hatte.
"Seien Sie unbesorgt, ich werde mich höchstselbst um ihre Causa kümmern! Ich stehe in regen Kontakt mit schwedischen Anwälten, die Sie und mich in dieser Sache unterstützen werden." Himly fügte schnell erklärend an.
"Die schwedische Botschaft hat verkündet, dass der schwedische König im Falle einer Bundesexekution Dänemark symbolisch den Rücken stärken wird...Es tut mir Leid, Herr Nobel." Ein tiefes Seufzen ging durch die Männer, die dort versammelt waren.
"Überlegen Sie bitte einen Augenblick, und teilen sie unser Wissen mit uns. Krieg steht vor der Tür, Herr Nobel. Himly hat gesagt, Sie hätten einen...Schlüssel zur Lösung." Es war Thaulow, der Philosophieprofessor, dessen Stimme ernsthaft besorgt klang. Und während Alfred überlegte, konnte er sehen, wie Emil kreidebleich wurde. Dass diese vielen Männer, die durchaus als Vorzeigemänner der intellektuellen Elite Schlewigs und Holsteins gelten konnten, so drängend und bittend, fast bettelnd waren, verdeutlichte ihm, in was für Schwierigkeiten er nicht nur sich und Alfred gebracht hatte. Er griff instinktiv nach Alfreds Ärmel. Alfred spürte, wie sein Bruder zitterte.
Karsten blickte zu Samuel Weißdorn und Conrad Rosenstock.
"Ihre Anwesenheit mag ihnen unbegründet vorkommen. Aber ich schätze, Sie haben einen guten Grund, in diesem Kreis zu stehen. Der Oberstwachtmeister hat mich bereits informiert.", Karsten blickte zu Conrad. Conrad bemerkte, dass der OWM eine Nachricht weggeben haben musste, als er das Frühstück wegbrachte und die Nachricht empfang, wo Alfred war.
"Sie müssen Herr Rosenstock sein, nicht wahr? Sie sind zurück vom selbstproklamierenden Herzog, für den Sie sogar eine Ehrung beim Bürgermeister für ihre zweifelslos, ehrenhafte Tat auf der Förde vorletzte Nacht ausgeschlagen haben. Wir haben von...Komplikationen gehört. Hätten Sie die Güte, ihr Wissen zu teilen?" Sein Blick wanderte zu Samuel Weißdorn.
"Entschuldigen Sie, Herr Weißdorn, wenn Sie auf die Kritik für Ihre Vorstellung noch warten müssen. Seien Sie jedoch beruhigt." Er reichte Samuel die Hand.
"Sie sind ordentlich als Dozent aufgenommen." Gustav Karsten rang sich wieder dieses Lächeln ab, was ihm schwer fiel.
"Aber das ist kein guter Ort, um über Ihre Habilitationsabsichten zu sprechen. Ich habe für Sie etwas besonderes vor. Deswegen bitte ich Sie darum, nehmen Sie alles auf, was Sie hier hören! Sie werden es gegebenenfalls brauchen." Karsten wollte noch etwas hintersetzen, doch dann schnippste der herrische Mommsen wieder. Die Männer blickten gebannt und gespannt auf Alfred und Emil.