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« am: 19.03.2019, 06:24:26 »
Als Ricky merkt, daß ihm das Lied immer leichter von den Lippen kommt, ja fast wie von selbst aus ihm herausfließt, schaut er sich seine Begleiter an. Es ist erstauchlich, wie auch sie von der Melodie eingefangen und mitgenommen werden. Als sich anscheinend alle mit Lied vertraut gemacht haben, sollten sie dann wohl anfangen.
"Also dann! Ich denke, wir können. Aber ich denke nicht, daß sich jemand zurückhalten sollte. Es ist ein Lied über das Leben und die Wesen, die es leben."
Er tritt auf die Steinleute zu, die weiter hinten gewartet haben.
"Wir sind soweit.", kündigt er nur kurz an.
Plötzlich, er weiß selbst nicht genau warum, stellt er ihren kleinen Chor in folgender Reihenfolge auf.
Eddy, dann Ayleen, dann Sonnenauge und Laura Ann mit ihm am anderen Ende.
Ricky beginnt mit der Melodie und sofort stimmen die anderen mit ein.
Wieder erfaßt ihn die Stimmung und die Bilder fangen an, in seinem Geist zu erscheinen.
Er fühlt sich selbst mit Laura Ann über die Ebenen jagen. Erst langsam. Aber dann schneller und schneller. Ungebunden. Sie laufen durch das Gras und schattige Haine. Über Hügel und Ebene.
Dann erscheint neben ihnen ein Fluß.
Und unwirklürchlich trennt sich Ricky von Laura Ann und springt in den Fluß. Ohne es zu merken, stimmt er in Sonnenauges eigene Interpretation mit ein.
Er ist ein Fisch, der sich der Strömung hingibt. Der fröhlich im ruhigen Verlauf des Deltas auf das Meer zuschwimmt. Nur um dann wieder umzudrehen. Durch rauschende Stromschnellen und hinauf in Richtung Laichgründe geht die wilde Wasserfahrt. Mit Sonnenauge zusammen springt er hinauf, um nach Insekten zu schnappen.
Bei einem der Sprünge verwandelt er sich plötzlich in einen Vogel. Er steigt hinauf.
Und so wie er auf einmal neben Ayleen durch die Lüfte gleitet, so nimmt er auch hier ihre Melodie auf. Wie er mit ihr singt, so fliegen und jagen sie durch die ewigen Weiten des Himmels. So frei, wie alle bisher.
Schliesslich nähern sie sich einem riesigen Berg. Umkreisen ihn und lassen sich von den Fallwinden mitziehen oder kämpfen gegen sie an.
Aber da ist jemand am Fuße der Felsformation. Ein großes Wesen. Und Ricky gesellt sich zu ihm.
Er versteht instinktiv, dies ist Eddys Version des Liedes und stimmt auch hier mit ein.
Ein ruhiger, ewiger Fels. Einer, der nicht über den anderen steht, aber eine erhöhte Position braucht, um über sie zu wachen. Sie setzen sich in Bewegung. Der Weg führt sie nach oben. Langsam und gemächlich. Immer voran, aber sich dessen bewußt, was hinter ihnen liegt.
Fast sind sie oben angekommen, als Ricky einer Höhle gewahr wird. Und gleichzeitig vernimmt er eine neue Stimme in diesem Lied, das alles verbindet. Ein etwas rumpeliger, knirschender Unterton.
Und wieder folgt er dieser Variante.
Er ist nicht mehr nur auf dem Berg. Er ist der Berg. Der Fels. Er dringt tiefer hinab. Er wird zu den steinernen Wurzeln der Welt. Glitzernde Geoden öffnen sich ihm und geben ihre vielfarbige Pracht preis. Und dann ist da doch eine Art Fluß. Ein langsames Fliessen aus Feuer und Glut. Es drängt nach oben. Wird sich der Welt zeigen.
Eruptiv wird er hervorgegeschossen und fliegt nach oben. Immer höher und höher. Unter ihm sieht er noch einmal Alles, was er gerade erlebt hat.
Aber sein Blick erweitert sich. Es sind nicht mehr nur Einzelteile, die für sich allein Bestand haben. Es ist eine große Einheit. Alles hat seinen Platz und gehört zueinander. Ist miteinander verwoben.
Schließlich hält er weit über der Erde inne und schaut auf diese phantastische Welt hinab. Das Lied, das seine Lippen verläßt, hat sich gewandelt. Es umfaßt jetzt all die kleinen Nuancen, die kleinen Variationen, die jeder der Mitsänger eingebracht hat. Und verbindet sie so, wie auch seine Sicht auf die Dinge diese Verbindung erfaßt hat.
Nur langsam begreift er, daß er als Letztes noch singt. Er öffnet die Augen und schaut sich um. Langsam endet die Melodie und er läßt sich geistig erschöpft auf die Knie sinken. Ein fast überirdisches Lächeln ist auf seinem Gesicht zu sehen, als er die Hände in Richtung der Steinmenschen ausstreckt.
Leise fragt er: "War dies genug Beweiß für euch?"