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Rûngard-Saga / Das Disenthing
« am: 16.08.2017, 00:06:11 »Es wird schon dunkel, als sie endlich auf der Thinginsel ankommen. Sie waren spät losgekommen. In der vergangenen Nacht hatte ein Sturm getobt, der sich am Morgen nicht so recht legen wollte. Als Tristan und die restlichen elf Männer ihres Bootes endlich einstimmig beschlossen, man könne los, die Gefahr sei vorüber, hatte Lîf entsetzt protestiert: "Was, bei dem Sturm?" Während der Fahrt, die fast den ganzen Nachmittag dauerte, saß sie dann zwischen den Weibern in der Mitte des Bootes, eng zusammen gekauert, und sagte kein Wort. Kaum dass sie wieder Land unter den Füßen hat, änderte sich das allerdings sofort. Die Ladung ist bei so vielen Händen schnell ausgeladen, das Boot höher aufs Ufer geschoben. Dann macht sich die kleine Gruppe auf den Weg ins Landesinnere, wie schon etliche vor ihnen. Ihres ist bestimmt das zehnte Boot am Ufer, und draußen auf dem Meer nähern sich weitere.
Auf kleinen Schlitten ziehen sie, jeweils zu zweit, die Vorräte in Richtung Thingstätte. Die Schneedecke ist leider nicht geschlossen, das macht die Sache noch mühsamer. Der Wind, der über die nahezu strauchlose Landschaft weht, ist schneidend kalt, doch alle sind dick in Felljacken und wollene Kopftücher verpackt, aus denen nur gerötete Nasenspitzen in den Wind ragen. Neun Ehepaare zählen sie sowie zwei Töchter mitsamt ihren Verlobten, dazu ein Greis und zwei junge Burschen, die zum ersten Mal mitdurften. Die Kinder mussten daheim in der Obhut der Knechte und Mägde und älteren Geschwister bleiben. Jungs dürfen ab vierzehn Jahren mit auf das Disenthing; Mädchen nur, wenn sie verheiratet oder verlobt sind. Die beiden jungen Dinger laufen engumschlungen, einen der leichteren Schlitten ziehend, dabei immer wieder kichernd, während ihre nicht viel älteren Verlobten die beiden Jungen aufziehen und anstacheln, welche sich mit derart zotigen Scherzen revanchieren, dass Tristan froh ist, dass Lîf die Sprache noch nicht so gut versteht.
Mit dem alten Ole zusammen zieht Tristan einen der schwersten Schlitten; Lîf hinter ihm mit Gertrud, des schönen Karls Weib, einen leichten. Immer wieder dreht er sich nach ihr um, wie um sich versichern, dass sie noch da sei. (In Wahrheit aber, weil sich eine unerträgliche Unruhe in ihm ausbreitet, wenn er nicht regelmäßig sein Weib betrachten kann; ihm geht es wie dem Trunkenbold, dessen Gedanken zu jeder Zeit nur um das nächste Bier kreisen!) Ist sie nicht schön? Grundgütige Gaja! Wie keck hier und da ein paar feuerrote Locken aus dem schweren Kopftuch lugen! Und ihre Furcht von der Überfahrt hat sie auch vergessen und plappert munter mit ihrer Schlittenkameradin und deutet in die Landschaft und kommentiert, was sie sieht, und schimpft über das Wetter, den Winter, die Männer, die Kälte, den mangelnden Schnee, die Männer und das Wetter.
"Bei allen Ahnen, Tristan... hält dieses Weib irgendwann auch mal den Mund?" knurrt der alte Ole. "Kann sie dir die Kopfschmerzen überhaupt aufwiegen, selbst wenn sie kocht und wäscht für drei?" Dann kichert er so hämisch, wie nur ein Greis hämisch kichern kann. "Schnür' ihr doch beim nächsten Halt die Felljacke ÜBER ihrem Kopf zu, so tät' ich's machen, aber tüchtig!" Und damit Lîf seine Worte auch nur ja mitbekommt, spricht er laut und halb über die Schulter nach hinten gewandt.
Weshalb prompt hinter ihnen der Ruf erschallt: "Das habe ich genau gehört! Aber das ist typisch für einen Tunichtgut und Säufer wie dich, Ole Islaugsson: Dich interessieren nur die Würfel und das Methorn! Du weißt schon, warum du kein Weib hast, die würde dir nämlich..!" Mit Ole traut sie sich so zu reden, denn er ist nicht nur ein häufiger Gast in Tristans Haus, sondern gehört fast zur Familie. Eine Art Ersatzvater für ihren Mann, wenn Lîf das richtig verstanden hat. Tristan hat es ihr so erklärt: "Mein Leben hat Ole gerettet, als ich vierzehn war, und mich aus der schrecklichsten Gefangenschaft befreit."
Mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck wendet sich der gescholtene Ole nun nach vorn und brummt: "Die Ahnen mögen dich schützen, Tristan - gebrauchen kannst du's, gegen dieses Mundwerk kommt ja kein Sterblicher an. Das kommt davon, wenn man bei der Wahl seines Eheweibs mit dem falschen Körperteil denkt, aber da seid ihr jungen Männer ja unbelehrbar. Ich kann nur hoffen, dass sie dich sehr warm hält in eurem Ehebett!"
"Sehr", bestätigt Tristan ihm. Er schaut dabei lieber nicht nach hinten. "Und reden tut sie kaum dabei."
Und so stapft man weiter. Den Hügel dort hinten rechts muss man noch erreichen, dahinter liegt die Thingstätte.