Geschehen in Korvosa, am 19. Pharast des Jahres 4708 GA, zur 12. StundeWren unterdrückt einen Schmerzlaut, während sie ihren linken Fuß versuchsweise hin- und herbewegt. Erleichtert atmet sie auf, als sie feststellt, dass sie sich keine ernsthafte Verletzung zugezogen hat. Ihr Vater hätte sie auch ganz schön ausgeschimpft, schließlich hat er schon seit Tagen für den heutigen Abend Werbung in den Schindeln gemacht. Denn zum allerersten Mal will sie den Regalo aufführen, den „Tanz der Königin“, eine zu Ehren der Königsgattin Ileosa entworfene sehr komplizierte, aber auch sehr erotische Abfolge schneller Tanzschritte, die ein Hohelied auf den Liebreiz Ileosas singen sollen. Diesen Tanz bekommt man normalerweise nur in den besseren Häusern Korvosas zu sehen, und hier in den Schindeln ist er ganz bestimmt noch nie aufgeführt worden.
Die junge Frau richtet sich auf und, nach einem weiteren ungläubigen Blick in den Spiegel, mit dem sie ihre Haltung korrigiert, wendet sie sich langsam um und dem Gegenstand auf der Kommode hinter ihr zu, von dem sie eigentlich sicher ist, dass er nur Sekunden vor ihrem Sturz noch nicht existierte.
Unentschlossen steht Amaryllis vor den Toren der Elfenbotschaft. Wie so oft hat sie ihre Schritte unbewusst hierher nach Südstrand gelenkt, zu dem Ort, an dem sie ihren Vater vermuten. Halbelfen haben in Korvosa fast immer denselben Ursprung, und fast immer dasselbe Problem, nämlich akzeptiert zu werden in einer Umwelt, die die Untreue ihrer Mütter mit derselben Verachtung straft wie die daraus entstehenden Kinder.
Amaryllis seufzt leise, denn sie weiß nur zu gut, dass sie hier keine Antworten auf ihre Fragen finden wird, die Elfen interessiert es nicht, wie es den Sprößlingen ihres Samens ergeht. Resigniert will sie sich gerade abwenden, als Nilda, ihre Kröte, hinter ihr plötzlich wütend aufkrächzt. Verwundert greift sie nach hinten, um ihren Vertrauten aus der Kapuze ihres Mantels herauszuheben. Und erstarrt. Denn den Gegenstand, den sie in diesem Moment zwischen ihren Fingerspitzen fühlt, war gerade eben ganz sicher noch nicht da, wo er jetzt ist.
Zurisatro kniet vor dem Schrein Gozrehs im Pantheon der Vielen, einem der wenigen Orte in Korvosa an denen ein Druide nicht den misstrauischen Blicken seiner Umwelt ausgesetzt ist. Es ist nicht seine Art, sich zu verstecken, doch ist es schwer, inmitten einer so großen, lebendigen Stadt einen Ort zu finden, der ruhig genug ist, um seine Gedanken zu klären. Das Haus der Götter ist ein solcher Ort, und selbst Weißohr, der stets wachsame, scheint sich hier entspannen zu können. Ganz ruhig liegt er da, die Augen aufmerksam auf seinen Herrn und Freund gerichtet, eine Pfote auf einem Gegenstand ruhend, von dem Zurisatro ganz genau weiß, dass er bis soeben nicht dort gelegen hat. Zögernd greift der Druide danach, ermuntert durch ein aufforderndes Winseln des Wolfes.
Mika starrt die leere Wand über der Kommode an. Einstmals haben dort die Waffen seines Vaters gehangen, die er vielleicht nie wieder zurückerhalten wird. Es ist eine Schande, dass Yamato sie hatte verpfänden müssen. Aber nachdem der Name Mondbach plötzlich seinen Wert verloren hatte, war der Verkauf seines Daishos die einzige Möglichkeit gewesen, die Schulden zu bezahlen, in die ein paar unglücklich verlaufene Geschäfte die Familie gestürzt hatten.
Mikas Vater hat diesen Gesichtsverlust nie verwunden, und Mika ist sich sicher, dass das zu seinem vorzeitigen Ableben mit beigetragen hat. Er selbst hat geschworen, alles zu tun, um das Daisho wieder in seinen Besitz zu bringen. Wenn er nur diesen verflixten Schuldschein wiederfinden würde, aber der scheint mit dem Schwert verschwunden zu sein.
Bei dem letzten Gedanken hat Mika verbittert die Augen geschlossen. Als er sie wieder öffnet, hat sich für ihn die Welt verändert, auch wenn er es in diesem Moment noch nicht weiß. Vorsichtig greift er nach dem Gegenstand, der plötzlich wie aus dem Nichts auf der Kommode vor ihm erschienen ist.
Marcellus Blick schweift über die Stadt, die eigentlich ihm gehören sollte. Seiner Familie, wie er sich automatisch verbessert, den er selbst verspürt keinen Wunsch, selbst den Purpurthron zu erringen, den einst sein unglückseliger Vorfahre Chadris innehatte. Nicht, das er das laut sagen würde, da dies seinem Vater wohl das Herz brechen würde – selbstverständlich erst,nachdem er ihn enterbt und aus der Familie verstoßen hat – aber ihm würde der Platz an der Spitze des Korvosanischen Heeres schon vollkommen ausreichen.
Und doch, von den Höhen herab kann Marcellus die Majestät Korvosas nicht verleugnen. Die Stadt ist ein kleines Juwel, um das es zu kämpfen lohnt. Marcellus ballt die Faust und richtet wie zum Schwur den Blick gen Himmel. Und stutzt. Ein kleiner, flacher Gegenstand flattert von oben herab und landet ihm genau vor den Füßen. Verblüfft hebt Marcellus das Objekt auf, um es genauer zu betrachten.
Der Zwilling für Wren; das Einhorn für Amaryllis; die Eule für Zurisatro; die Schmiede für Mika; die Kurtisane für Marcellus.
Fünf Personen halten eine Karte in der Hand, entnommen einem varisianischen Kartenspiel.
Saat und Ernte, von den varisianischen Wahrsagerinnen zur Vorhersage der Zukunft benutzt. Keiner von ihnen weiß, woher die Karte kam, doch sie alle wissen, dass diese Karte für sie bestimmt sein muss, denn soviel geht aus dem Text klar hervor, der auf der Rückseite der Karte zu lesen ist: