11. Calistril, 4681 AZ
Auf dem Innenhof des kleinen Außenpostens, hoch in den Bergen, hatten sich braune Pfützen breit gemacht. Die Stiefel der Soldaten schmatzten auf dem schlammigen Boden, als sich die Zwerge und Menschen von den Stallungen zum Torhaus oder von den Wehrgängen in die Unterkünfte bewegten. Zwischen den gepanzerten Kriegern, humpelten jammernde Flüchtlinge, die in diesen schweren Zeiten alles verloren hatten.
Die Berge von Janderhoff waren nicht mehr sicher. Orks und ihresgleichen zogen durch die Länder der Zwerge. Mit Feuer und Axt brachten sie nichts als Zerstörung und den Tod. Schon immer hatte es Raubzüge aus dem Norden gegeben, doch die Angriffe in letzter Zeit schienen, trotz ihrer Brutalität und Wildheit, geordneter und konzentrierter. Die Orks wurden von Ogrillons in die Schlacht geführt und es gab Überlebende die sogar von ganzen Orogeinheiten in der wütenden Horde sprachen.
In den Bergefestungen sammelten sich nun die Truppen der Zwerge, um sich zu einem Befreiungsschlag zu bündeln, allerdings hatten Belagerungen und die stetige Aufnahme von Flüchtlingen die Vorräte des Außenpostens stark schrumpfen lassen. Die Moral unter der zivilen Bevölkerung war schlecht, denn die Rationen wurden nahezu gänzlich dem Militär und den Milizen zugesprochen. So beobachteten die halbverhungerten Männer und Frauen aus den Bergen das geschäftige Treiben der Soldaten mit Missgunst, trotz der tapferen Dienste die sie ihnen erbrachten.
Der Ruf eines Zwergs mit schwarzem Bart durchbrach die Eintönigkeit der Szenerie. „Haltet den Dieb!“, wiederholte er. Ein Junge rannte über den schmutzigen Burghof. Er hatte einen Laib Brot unter dem Arm, den er fest an sich presste, als die behandschuhten Hände der Soldaten nach ihm griffen. Kurz bevor er die schützende Dunkelheit der Gewölbe erreicht hatte, stellte sich ihm ein weiterer Zwerg in den Weg. Er war etwas kleiner, als seine Kameraden und noch sehr jung. Auch er hatte schwarzes Haar, jedoch war es genau so wie sein Bart, fein säuberlich zu zahlreichen Zöpfen geflochten. Entschlossen fokussierte er den Jungen mit seinen stahlblauen Augen. Der erkannte entsetzt den Verfolger wieder, den er gerade noch abgehängt glaubte. Er rutschte auf dem glitschigen Schlamm aus und stürzte. Unsanft packte der Krieger den Dieb am Kragen und zog der Zwerg ihn aus dem Dreck zurück auf die Beine und beruhigte die anderen Soldaten: „Keine Angst ich habe das Brot, eure Mägen knurren schon nicht heute Nacht!“ Schnaufend kam der Zwerg mit dem schwarzen Bart auf die beiden zugelaufen, der alle überhaupt erst auf den Dieb aufmerksam gemacht hatte. Noch aus vollem Lauf heraus, schlug er dem Jungen ins Gesicht, den die Wucht wieder zu Boden schickte. Dann trat er weiter auf ihn ein. „Algrond, lass das! Er hatte doch nur Hunger.“, versuchte der andere ihn zu beschwichtigen. „Nein. Dieser Dieb muss für sein Verbrechen sühnen, Bregaron.“, antwortete Algrond so kalt wie der geschwärzte Stahl der Axt, die er gezückt hatte, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. Er zerrte das Kind zu einem Amboss nahe dem glühenden Kohlebecken des Hufschmieds, das sein Gesicht in ein infernales Licht tauchte. „Unser Volk hat hart für all das hier gearbeitet, Bruder. Wir wollen uns das nicht von ein paar Orks wegnehmen lassen. Nicht unser täglich Brot von diesem Bastard, noch unsere Heimat von seinen Vätern.“ Da erkannte auch Bregaron, dass der Junge ein Halbblut war: halb Mensch, halb Ork. Er musste noch viel jünger sein als der Zwerg zuerst gedacht hatte, denn der massive Kiefer, die leicht spitzen, blutverschmierten Eckzähne, so wie die leicht gräuliche Färbung seiner Haut verrieten das Orkblut in seinen Adern. „Ich verstehe deinen Zorn Bruder; aber ein Laib Brot wird unserer Armee schon nicht das Rückgrat brechen.“ Panisch blickte der Junge zwischen den beiden nahezu identisch aussehenden Zwergen hin und her. Der einzige Unterschied bestand in dem offenen Haar des Kriegers, der seine Hand auf den kalten Amboss drückte. Verzweifelt versuchte er sich aus seinem eisernen Griff zu winden, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. „Auf Diebstahl steht eine Strafe; ungeachtet der Umstände ist diese zu vollstrecken. Unsere Gesetze sind für alle gleich und gelten in Friedens-, wie in Kriegszeiten.“, erwiderte der Zwilling. Dann holte er mit seiner Waffe weit aus, um die Hand des Kindes mit dem ersten Versuch abzuschlagen. Sowohl der Schuldige wie der Vollstrecker hielten den Atem an, als die Axt auf den Amboss zuraste. Scheppernd krachte Bregaron in seinen Zwillingsbruder, und lenkte so den verheerenden Schlag ab. Orange Funken sprangen umher, als Stahl auf Stahl traf. Immer noch völlig benommen taumelte der Junge aus der Schmiede, während sich die beiden Zwerge auf dem Boden umher wälzten. Die Brüder tauschten Faustschläge aus und zerrten wutentbrannt aneinander. „Es war Unrecht diesem Abschaum beizustehen!“, fauchte Algrond. „Er ist doch nur ein hungriges Kind!“, antwortete Bregaron. Er hielt seinen Bruder auf den Steinboden gedrückt, und versuchte ihm Vernunft beizubringen. Mit einem kraftvollen Tritt befreite sich Algrond aus dem Haltegriff. Als er auf Bregaron zustürzte, griff er nach der Axt, die noch auf dem Amboss lag. Sein Zwilling sah die Mordlust in den dunklen Augen seines Bruders und stolperte rückwärts, bis er stürzte. Er tastete ebenfalls nach einer Waffe, bis seine Finger den Schaft einer Urgrosch fanden. Bei seinem Sturz zu Boden, waren ihm das Ende seines Waffenrocks und das heilige Symbol von seiner Brust ins Gesicht gerutscht und so hielt er halb blind die Urgrosch schützend vor sich, als die Axt seines Bruders gegen seinen Kopf schlug.
Es dauerte eine gewisse Zeit bis er wieder klar denken konnte und sich den Waffenrock vom Kopf riss. Schockiert starrte er in die toten Augen seines Bruders.