Geschehen in Korvosa, am 16. Pharast im Jahr 4708 AK (Absalom-Kalender)
Es regnete Bindfäden. Wren konnte durch das Fenster des "Tanzenden Mädels" kaum die Straße erkennen, die sich sicherlich bereits in eine schlammige Masse verwandelt hatte. Das einzige Gute, was man über das Wetter sagen konnte, war, dass auch alle aufrührerischen Elemente (oder Freiheitskämpfer, je nachdem, wen man fragte) bei diesem Wetter lieber zu Hause blieben, statt die Unruhen zu schüren, die auch fast einen Monat nach dem Tode Eodred II. Bestand hatten. Die Gerüchte hielten sich hartnäckig, dass er keines natürlichen Todes gestorben sei. Dass kurz nach seinem Ableben das spurlose Verschwinden des Seneschalls von Schloss Korvosa, Neolandus Kalepopolis, festgestellt worden war, hatte dazu geführt, dass alle sich wenigstens in einem einig waren, nämlich dass hier irgendjemand ein Komplott zum Abschluss gebracht hatte. Viele glaubten, dass die ungeliebte Königin die Urheberin sei, andere vermuteten eine der großen Adelsfamilien als Drahtzieher hinter dem nach wie vor offiziell abgestrittenen Mord. Sogar der so beliebte Seneschall wurde hinter den Vorgängern vermutet, obwohl man sehr vorsichtig sein musste, zu wem man sich so äußerte, da die meisten Korvosaner diesen Vorwurf sehr persönlich nahmen, als ob man sie selbst beleidigt hätte.
Gedankenverloren ließ die junge Bardin den Ring durch die Finger gleiten, der einst angeblich ihrer Mutter gehört hatte, und den Jal ihr in die Hand gedrückt hatte, bevor er seinen letzten Atemzug tat. Es war sie gewesen, für die der Pfeil bestimmt gewesen war, den ein nationalistischer, chelischblütiger Korvosaner auf sie abgeschossen hatte. Jal hatte ihn für sie abgefangen und sie hatte hilflos zusehen müssen, wie er verblutete, da niemand in dem Chaos, das an jenem Tag geherrscht hatte, Zeit für einen verletzten Soldaten gehabt hatte. Die Sicht durch das Fenster schien bei diesem Gedanken schlechter zu werden und verstohlen wischte sich Wren eine Träne aus dem Auge. Sie würde seine Tapferkeit nicht entehren, in dem sie um ihn weinte wie ein altes Waschweib.
Am Nebentisch wurde Gelächter laut. Anscheinend hatte Onkelchen eine seiner lustigen Anekdoten erzählt, die meistens etwas makaberer Natur waren, aber dafür um so lustiger waren. Melan lachte besonders laut, aber auch der ernstere Cassim konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie konnte es ihnen nicht verdenken, auch wenn sie gerade nicht in der Stimmung war. Aber an Igor Saprowski, hier von allen anderen Stammgästen im "Mädel" nur Onkelchen genannt, war ganz sicher ein Barde verloren gegangen. Auch wenn Marcellus nur missbilligend die Stirn runzelte. Der junge Adelige saß ihr gegenüber am Tisch, offenbar unzufrieden mit dem Freigang, den die kleine Gruppe heute bekommen hatte. Er schien nur an der Waffe richtig glücklich zu sein, für die Belustigungen des einfachen Volks schien er wenig übrig zu haben. Wer weiß, vielleicht hätte auch Zurisatro nicht gelacht, der ernste Druide, der sie damals verlassen hatte und von dem sie seitdem nichts mehr gehört hatte. Oder Astennu, der bald nach Jals Tod zur Schwarzen Kompanie versetzt worden war, wo man seine Fähigkeiten nutzbringender eingesetzt sah. Sopor, der Seltsame, hätte bestimmt nicht gelacht, sondern einen seiner merkwürdigen Sprüche losgelassen, die keiner verstand. Aber auch er war ja nicht mehr da, war eines Tages verschwunden gewesen, und galt nun offiziell als Deserteur, auch wenn niemand sich große Mühe gegeben hatte, seine Spur aufzunehmen.
Es hatte sich einiges geändert in den letzten Wochen und nicht ohne Wehmut dachte Wren an die alten Begleiter zurück. Auch wenn ihre Gruppe neuen Zuwachs bekommen hatte. Cassim und Melan, das merkwürdige Bruderpaar, Valeria, die das war, was Wren erst noch werden wollte, eine Expertin im Legen der Karten.
Wieder wurden ihre Gedanken von Gelächter unterbrochen. Onkel Igor, der sie schon als kleines Kind auf seinem Schoß gehalten hatte, und der in der letzten Zeit wieder häufiger im "Tanzenden Mädel" auftauchte, grinste spitzbübisch, während dem losprustenden Melan der Wein aus der Nase lief, was das Gelächter der anderen Gäste nur noch steigerte.