Schwerfällig und schwermütig ist der alte Leonid an diesem Morgen. Während die Szenerie ihn gestern noch berührt hat und er sowas wie Glück, zumindest Zufriedenheit, gespürt hat, herrscht an diesem Morgen eine eigenartige, höchst sonderbare, Leere, welche sich wie ein zu enger, schon schnürender, Umhang um seine breiten Schulter gelegt hat. Demnach widerstrebt ihm alles Schnürende an diesem Tag, deshalb er den hinteren Teil seiner Mähne offen trägt, was nun etwas ungewöhnlich, doch auch recht verwegen, aussieht. Einem Irokesen folgt nun wallendes Haar, welches an manchen Stellen leicht von Filz geplagt ist, da er sein Haar sonst ausschließlich geschlossen trägt und es manchmal Tage ohne Pflege auskommen muss. Dieser Umstand ist dem Wór gleich, er empfindet das offene Haar an diesem Morgen als befreiend, auch Gürtelschnalle und die Riemen seiner Ausrüstung sind die ersten Stunde seiner Reise gelockert, erst im Laufe des Tages zieht er sie wieder fest.
"Hat der Traum mich so aus der Balance werfen können? Ich mag es gar nicht glauben...", stöhnt der Wór. Er fühlt sich ermattet und kraftlos und es ist der ausdauernden und gleichmäßigen Kraft Yals geschuldet, dass sie dennoch in gewohntem Tempo vorankommen. Innerlich ist Massoud hochzufrieden mit seiner Entscheidung eine Echse einem Krenshar vorgezogen zu haben. Die Zuverlässigkeit Yals hat sich bereits an Hunderten von Tagen bezahlt und wieder bezahlt gemacht. Mehr als dreitausend Tage haben sie jetzt zusammen verbracht und kennen sich dementsprechend in- und auswendig. Yal spürt, dass das gebrannte Kind, wie Massouds Zuname in der Handelssprache lautet, in seinen Gedanken hängt wie eine Fliege im Netz einer Spinne und nimmt so seinem Besitzer die notwendige Arbeit ab, nur selten muss Massoud dafür sorgen, dass Yal auch die Richtung hält.
Lustlos kaut Massoud auf dem Schakalfleisch herum, sein Hunger hält sich in Grenzen, weshalb er die besten Stücke seinen beiden Begleitern gibt, so sie ein Interesse daran haben. Und Yal hat schließlich immer Interesse an einer Mahlzeit. Doch die Stärkung kommt dem Löwenmenschen entgegen, denn das erste Mal an diesem Tag gelingt es ihm, seine Gedanken in sinnvolle Bahnen zu bringen, sodass er nicht einfach nur von Schwermut erfüllt, träge durch die Steppe getragen wird.
Der Leonid glaubt daran, dass er eine Prophezeiung erhalten hat. Zwar hat er seit geraumer Zeit diese Träume, welche ihn auch zum Aufbruch zwingen, wollen, dass er nach dem Vermächtnis seines Vaters sucht, doch keiner von ihnen ist dem alten Krieger so nahe, so greifbar und so real vorgekommen, wie der Traum von ihm und dem Narren.
"War es doch falsch? Hätte es einen anderen Weg gegeben?" Obwohl er nur den Gedanken daran hat, dass er hätte sein Eheweib nicht erschlagen brauchen, blickt er entschuldigend zu Gardekat. Gardekat ist ein glücklicher Umstand gewesen und er ist es immer noch. Und dennoch fällt es dem Leoniden schwer, Gedanken an den Tod seiner Liebe zu fassen. Als er völlig die Fassung verloren hatte und wie ein Besessener auf sie eingeschlagen hatte, bis sie sich einfach nicht mehr rührte. Gardekat, der vorher seinem Weib gehört hat, folgt ihm seitdem unablässig, hat Massoud vor so einigen Schaden bewahrt.
Shabani schluckt und räumt alles zusammen, um wieder aufzubrechen. Die Reise muss weitergehen.
Und auch am Nachmittag ist er diesen Gedanken ausgeliefert. Er schwitzt ein wenig und fühlt sich so, als hätte er zuviel gegorene Ziegenmilch getrunken, sein Kopf ist schwer und ein wenig hämmert es in seinem Schädel, als würde jemand mit Massouds Skorpion auf Massouds Kopf einschlagen, nicht mit viel Kraft, aber dauernd. Die Angst, dass er wieder die Fassung verlieren kann, packt ihn wie eine kalte Klaue. Dabei ist es eine merkwürdige Situation. Jahrelang ist er wild gewesen und hat jedem seine Pranke verpasst, der ihm krumm gekommen ist, dann hat er bei den Goliath über Jahre gelernt, seine Wut zu kontrollieren und sie gezielt zu nutzen, bis er beim Verrat seiner Frau jegliche Fassung verloren hat...
Jahre folgten, in denen Massoud sich Wut und Zorn verboten hat, alles runtergeschluckt und mit nüchterner Analytik betrachtet hat. Sollte diese Kontrolle nun enden? Die Zeit des kontrollierten Zorns ist mit einer kleinen Explosion zuende gegangen, wird die Zeit der stoischen Ruhe in einer großen Explosion zuende gehen? Sein Traum hat ihm nichts anderes suggeriert. Er kann die Wildheit, welche in ihm lauert, nicht ewig unterdrücken.
"Ich ka..."Das Wesen, welches auf ihn zuläuft, reißt den Leoniden blitzartig aus seinen Gedanken. Mit einer sanften Berührung fährt Massouds linke Pranke über den indigoblauen Stachelkamm und die roten Schuppen, welche Gardekats Körper schmücken. Ein Zeichen, mehr als eine bloße Zuneigung, welches Gardekat zu verstehen weiß. Was hält der Beobachter von diesem Menschen? Erst nachdem er diese Geste vollführt hat, betrachtet Shabani den Menschen selbst ausgiebig und stockt kurz, als er die mit Ruß überdeckte Haut der Menschin sieht. Die mag schön für einen Menschen sein, doch Massoud hat kein Interesse an diesen nackten Fleischlingen, weshalb er kurz überlegt sich wieder seinen Gedanken zu ergeben und weiterzuziehen, ehe sein Blick wieder auf das Ruß fällt.
Massoud versteht sie nicht, Worte sind hier dann nichts weiter außer Schall und Rauch. Massoud ist nicht in der Laune, sich mit anderen zu unterhalten, weshalb er einfach den Finger an seinen Mund anlegt, als Zeichen, dass sie ruhig sein soll, sich vor allem beruhigen soll. Absteigen tut der Leonid noch nicht, dies konnte eine Falle sein, denn warum soll er einfach absteigen?
Dennoch legt er eine Hand auf Yals Hals, um die Echse zu beruhigen.
"Shabani, das gebrannte Kind, so heiße ich, und das Menschenweib scheint beinahe sowas zu sein.", Massoud kann den Blick nicht vom Ruß lassen, welchen er auf der Haut und der Kleidung der Frau sieht.
Es veranlasst ihn dazu, sich doch aus seinem Sattel zu erheben und abzusteigen. Wieder hält er den Finger vor den Mund und bedeutet ihr ruhig zu sein und zeigt dann auf sein Ohr, um dann mit den Schultern zu zucken. Ob sie daraus schließt, dass der Wór taub ist oder ihre Sprache nicht versteht, ist dem Leoniden dabei gleich. Er fasst ihr auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Doch warnt seine Vorsicht ihn, nicht zu offenherzig zu sein und einer dahergelaufenen Frau zu glauben, was auch immer sie erlebt haben mag. So bleibt er dabei auf größtmöglicher Entfernung und steht auch quer zur Frau, schweigend, die linke Hand in der Nähe des leichten Streitflegels, welchen er deutlich schneller ziehen kann, als den schweren, für welchen er auch mehr Platz braucht, den er durch seine unglückliche Stellung einbüßt. Massoud spürt den Griff des Käfers an seinem linken Handgelenk, die Gefahr ist für ihn greifbar.
Entweder die Frau kommt auf die Idee, eine andere Sprache zu probieren oder sie zeigt Massoud, was sie erlebt hat. Massoud riskiert einen kurzen Blick zu Gardekat und blickt dann zurück zur Frau, in der Hoffnung sie zu beruhigen, blickt er sie ruhig an
[1].
Der Wór ist in der Tat nicht der geborene Trostspender, sein Leben als Leibwache hat ihn eher die Kunst des Niederstarrens erlernen lassen. Einschüchtern wird seine Wahl, sollte die Frau sich als Gefahr erweisen, obwohl er innerlich glaubt, dass ein Kampf dann nicht zu vermeiden wäre.
"Ob sie Hunger und Durst hat?"Massoud entfernt sich kurz von der Frau, um ihr von seiner Ration und aus einem seiner Wasserschläuche anzubieten, sie genau im Auge behaltend, aber auch die Umgebung
[2]. Dies alles geschieht wortlos, eine solche Situation bedarf keiner Worte.