Intermezzo: Tempori non aptari decet!
Im Gegensatz zu den Erfahrungen, die Neriglissar und Faghira beim Benutzen von magischen Portalen gemacht haben, ähnelt diese Reise dem Augenscheinlichen: Dem Durchschreiten eines Tors. Davon abweichend ist allein die kleine Veränderung im Klima auf der anderen Seite.
Neriglissar, der in erwartungsvoller Vorahnung beim Durchschreiten des Portals die Luft angehalten hatte, entlässt diese mit einem kaum hörbaren Seufzer durch seine Nase und entspannt seine Kaumuskulatur.
Auch Faghiras Körperhaltung entsannt sich etwas, nachdem sie den Laub bedeckten Innenhof betreten hat, ehe sie durch ein Ziehen an der noch immer in unverhältnismäßig festem Griff haltenden Leine an die Bockigkeit des ehrwürdigen Bretonius. Allerdings scheint sich dieser leichter zu einem Durchschreiten des Portals zu überreden als Vesin, der erst nach mehrmaligem Durchatmen mit grimmiger Miene durch das Portal stapft. Als einziger der Gruppe verspürt er ein leichtes Ziehen, das durch den gesamten Körper geht.
Tulin, der als letzter hindurch tritt, scheint am geringsten von der Benutzung des Portals beeindruckt. Auf dem kernigen Zwergengesicht spiegelt sich eher eine Mischung aus Überraschung und Enttäuschung wider, das noch nicht einmal sein Bruder genau zu deuten versteht.
Jäh verändert sich sein Ausdruck jedoch Zugunsten der Verblüffung, als er der architektonischen Finesse der gigantischen elfischen Bauwerke gewahr wird, beim dessen Konstruieren – und davon ist Tulin seiner Zwergen inhärenten Disposition für Bauingenieurwesen wegen überzeugt – zumindest ein zwergischer Statiker seine Finger im Spiel hatte. Die sichtbare Witterung an den Fassaden der Gebäude, die Vegetation, die sich einen Weg durch die gesprungenen Pflastersteine gebahnt hat, und feinen Risse an den mit Moos und Efeu bedeckten Statuen und filigranen Säulen der Arkaden sind die einzigen Anzeichen dafür, dass es sich um Ruinen handelt, die schon seit geraumer Zeit nicht bewohnt wurden.
Der Saal, in dem die Gefährten eben noch standen und der sich aufgrund des deutlich milderen Klimas meilenweit entfernt von ihrem jetzigen Standort befinden muss, ist durch das Portal nicht mehr zu erkennen. Übrig ist nur der verzierte Steinbogen und ein Podest daneben, das jenem neben dem Portal des Phix bis aufs kleinste Detail ähnelt.
Ein plötzliches, unmenschliches Brüllen, welches jenem eines Ochsen ähnelt, lässt die Gefährten auffahren. In weiser Voraussicht galoppiert der ehrwürdige Bretonius unter warnendem Gebrüll auf die entgegen gesetzte Seite des Hofes und reist dabei Faghira die Schlinge aus den Händen. Ein hoch gewachsener Mann mit langem silbrigen Haar und einer athletischen Statur stürm durch einen Todbogen in den Hof, dreht sich gen Tür, während er elegant einen Pfeil aus dem Köcher zieht, in den Bogen legt und gegen ein den Helden verborgenes Ziel schießt. Wieder ertönt das markerschütterndes Brüllen, das in dem Dröhnen der Steinbrocken, die beim Durchbrechen des Tors und der dazugehörigen Wand durch ein gigantisches, humanoides Wesens aus selbigen gerissen werden und in den Innenhof prasseln, unter geht. Bevor der Mann der Kreatur, die der Karikatur einer Kreuzung zwischen Mensch und Widder ähnelt, ausweichen kann, hat sie ihn schon mitgerissen und ihren bulligen Leib gegen die jenseitige Wand geworfen. Unter erneutem Getöse stürzt die Wand über beiden Kontrahenten ein und verhüllt sie in einer undurchsichtigen Staubwolke.
Tulin und Vesin haben bereits ihre Waffen zur Hand und auch Faghira und Neriglissar sind bereit, sofort anzugreifen, doch nichts rührt sich, bis auf den Wind, der wie inszeniert auffrischt und den Staub hinfort trägt.
Die Kreatur ist so sehr unter den herab gefallenen Steinen begraben, dass nur noch eines der grotesk geschwungenen Hörner, ein Teil eines zotteligen Buckels und die behuften, doch ansonsten sehr menschlichen Beine unter ihnen hervorblicken. Reglos liegt das Wesen da und nährt mit seinem Blut die Lache, die bereits viele der Grasbüschel und dicken Wurzeln zwischen den Pflastersteinen getränkt hat.
Unweit von dem Wesen liegt der Mann, bis zum Brustkorb von dicken Felsbrocken bedeckt. Auch sein Blut trägt inzwischen erheblichen zur Expansion der Lache bei, doch ein leises Stöhnen beweist, dass weder das Wesen noch die Steine alles davon aus seinem Körper herausgepresst haben.
Durcheinander blickt er zu der Gruppe hinauf, als diese zu ihm hineilen. Er scheint erst jetzt bemerkt zu haben, dass es nicht der einzige Zeuge des Geschehens war. Ein Hauch von Panik weht über sein zerschrammtes und zerschlagenes Elfengesicht, wird jedoch alsbald von Resignation vertrieben.
„Kälte... aufhalten... der Stern des Nordens... Mondscheininseln“, während er die Worte unter größter Anstrengung herauspresst, deutet der Elf mit zitternden Händen erst auf seine lederne Hüfttasche und dann in Richtung einer zweiflügligen Tür in der Nähe des ehrwürdigen Bretonius, bevor er die durch ein unterdrücktes Stöhnen unterbrochenen Worte „Keller“ und „Quinte“ spricht. Mit letzter Kraft zeichnet er mit dem Zeigefinger ein X mit einer senkrechten Linie, die aus der Mitte des X entspringt und nach oben deutet, in das Blut auf dem Boden, ehe er die Augen schließt.
Als Neriglissar in die lederne Tasche des Elfen greift, holt er einen handgroßen Gegenstand heraus, der in ein schneeweißes Seidentuch eingepackt ist. Der Zerebromant wickelt den Gegenstand sogleich aus dem Tuch und hält eine silberne Panflöte mit zwölf reich verzierten Röhrchen in Händen.