Sheriak dachte einen Moment über Gelirions Worte nach. Dann nickte er zögerlich. "Also gut. Bis zum Kloster. Aber dann suche ich nach meinen Eltern."
Als sich Gelirion und Cederon in Stellung brachten, ging Sheriak zu dem Tisch, auf dem das offene Buch lag, klappte es zu, und klemmte es sich unter den Arm. Er vermied dabei, irgendwem in die Augen zu sehen. Erst danach ging er zu Cederon, und gab ihm den Schlüssel für die Tür.
Radjesha und Ina halfen sich gegenseitig auf. Gelirions Schwester schien es schon etwas besser zu gehen, die Pause hatte ihr gut getan - jedenfalls war sie nicht mehr ganz so bleich wie vorher. Radjesha allerdings stöhnte aufgrund ihrer Beinverletzung leise auf. "Ich hoffe, die Elendrapriester finden schnell Zeit, sich darum zu kümmern", sagte sie, an Ina gewandt. "Die Wunde brennt, als würde mir jemand eine Fackel daran halten."
Mitleidig sah Ina ihre neue Gefährtin an, und bot ihr dann stützend ihren Arm an.
Auch die Mädchen und Cederons Familie brachten sich in Stellung, der kleine Junge - das jüngste Mitglied der Überlebendengruppe - hinter seiner Mutter versteckt, die ihr Kurzschwert kampfbereit hielt. Es war klar, dass sie ihren Jungen gegen alles verteidigen würde, was an Gelirion und Cederon vorbeikommen mochte.
Dann war es soweit. Cederon steckte Sheriaks Schlüssel ins Schloss, und drehte ihn langsam, sehr langsam um. Er lauschte auf jedes Geräusch, das hinter der Tür zu hören war. Erst nach drei oder vier Sekunden war das leise "Klack!" das Schlosses zu hören. Als wäre das Geräusch ein Kommando gewesen, war direkt danach ein unmenschliches Stöhnen auf der anderen Seite zu hören. Sie waren noch dort, wie Sheriak angekündigt hatte.
Cederon atmete einmal tief durch, sah zu Gelirion, und die beiden Männer nickten sich zu. Dann riss Cederon die Tür auf. Zwei Männer standen dort. Sie schienen unverletzt, lediglich ungewöhnlich bleich und mit rotgeäderten Augen. Mit offenen Mündern sahen sie die beiden Männer an, und gingen sofort mit hungrig ausgestreckten Armen auf sie zu. Cederon und Gelirion hoben gleichzeitig ihre Äxte, schwangen sie, und schlugen auf die früheren Wachmänner ein. Die schwarzen, mit einem silbernen Wappen verzierten Rüstungen halfen den Untoten nicht, denn die Schläge gingen direkt auf ihre ungeschützten Köpfe. Cederons Axt versank tief im Schädel seines Gegners.
Gelirions Axt allerdings traf den Zombie zwar, doch zuckte dieser im letzten Moment, im Versuch, Gelirion zu beißen, zur Seite. Die Schneide trennte ihm das rechte Ohr und einen Teil seines Schädelknochens an, bevor sie in der Schulter des Zombies stecken blieb. Aber die Kreatur lebte noch.
Hektisch zog Cederon seine Axt aus dem Leichnam des Wachmanns, der zu Lebzeiten vielleicht dreißig Jahre alt gewesen war - nur wenig jünger als Cederon selbst. Die Klinge steckte so fest in seinem Kopf, dass Cederon seinen Fuß gegen die Brust des Mannes stemmen musste, um seine Waffe frei zu bekommen. Er war kräftig, aber er war kein ausgebildeter Kämpfer, das wurde Gelirion in diesem Moment klar. Vermutlich hatte er vor dieser Nacht noch nie eine Waffe gegen einen anderen Menschen erhoben.
Gelirions eigene Waffe bekam er schnell wieder frei. Doch die Kreatur nutzte den Moment, um nach dem jungen Paladin zu schlagen. Zu Gelirions Glück nahm er dazu den Arm, in dessen Schulter die Axt gerade geraten war, und der Schlag war so unkontrolliert, dass der Halbelf ohne Probleme ausweichen konnte. Nur eine Sekunde später machte er seinen Fehler wieder gut, und die Axt teilte das Gesicht des älteren, weißhaarigen Wachmanns in zwei Teile. Wie ein nasser Sack fiel der tote Körper zu Boden.
Mit angstgeweiteten Augen sah Cederon auf den Zombie. "Entschuldige", sagte er nur knapp, und wechselte damit, wie Gelirion auffiel, unbewusst aufs 'Du'. "So kräftig wie möglich ist wohl nicht immer gut."
Vorsichtig stieg die Gruppe schließlich über die beiden Leichname hinweg, deren Blut sich auf dem Boden ausbreitete. Schwer schluckend blieb Sheriak noch einmal stehen, und starrte auf seine früheren Bekannten. Erst, als Cederons Frau ihn am Arm fasste, nickte er. Doch er kam nicht gleich mit, sondern nahm den beiden Leichen noch ihre Waffen ab - zwei scharfe Langschwerter. Eines davon nahm er selbst an sich, das andere gab er der ältesten der drei Schwestern. "Für den Notfall", erklärte er, und folgte dann Gelirion und Cederon.
Der schmale Gang, dessen Wände mit goldumrahmten Portraits gut gekleideter Männer, Frauen und Familien geschmückt waren, führte zu einer Galerie ähnlich der im letzten Gebäude. Doch schien dieser Teil des Gebäudes noch edler gehalten zu sein: Marmorboden glänzte im Schein mehrerer Kronleuchter, deren große weiße Kerzen den Raum mit Licht erfüllten. Es tat gut, wieder etwas mehr Licht zu haben. Allerdings hatte es wohl auch eine Anziehungskraft auf die Untoten: Drei von ihnen tummelten sich in der unteren Halle.
Cederon hob seine Axt. "Wir gehen gemeinsam bis zur Treppe. Dann gehen wir zwei", er deutete auf sich und Gelirion, "gemeinsam nach unten und knöpfen sie uns vor. Der Rest folgt erst, wenn die Toten auch endgültig tot sind."
Auf dem Weg zu der imposanten Treppe - sie war der im anderen Gebäude nachempfunden, aber der edle Marmorboden und die insgesamt wertvollere Einrichtung hinterließen einen prächtigeren Eindruck - gingen sie an kleinen Vitrinen und Regalen vorbei. Die meisten davon enthielten Dinge wie Vasen, Bücher und Schmuckstücke. Eine Glasvitrine allerdings enthielt einen alten Säbel. Eine Gravur auf einer kupfernen Plakette, die an der Vitrine angebracht war, erklärte, dass dieser Säbel einem gewissen Hauptmann del'Ranthor gehört hatte, der im ersten Unabhängigkeitskampf von Aradan gegen Liur eine wichtige Rolle gespielt hatte. Cederon deutete darauf und flüsterte den anderen zu: "Wenn wir die Kreaturen unten getötet haben, schlagt die Scheibe ein und nehmt den Säbel mit. Aber erst dann. Sie sollen durch den Lärm nicht auf uns aufmerksam werden."
Dann gingen die beiden Männer die Treppe herunter. Geschickt teilten sie sich auf, um die Zombies in verschiedene Richtungen zu locken, liefen dann um die gefährlichen, aber langsamen Kreaturen herum, um sie sich einzeln vorzunehmen. Es dauerte nicht lange, dann lagen drei weitere schlaffe Körper auf dem Boden.
Gelirion eilte anschließend sofort an den Regalen voller Bücher vorbei - hier waren im unteren Stockwerk keine Ausstellungsstücke, dafür hatte man den Platz genutzt, um mehrere Regalreihen prall gefüllt mit Büchern aufzustellen -, und kontrollierte die offene Tür. Auf der Straße dahinter waren keine Untoten zu sehen. Der Weg war frei, zumindest für den Moment.
Auf dem Weg zur Treppe fiel Areo ein kleines Pult auf. Darauf lag ein aufgeschlagenes Buch, ein altes Tagebuch, wie es schien. Der Autor hatte es nicht mehr ganz füllen können, denn die letzte beschriebene Seite des vergilbten Papiers war in der Mitte des Buches. Eine Feder und ein Tintenfass lagen daneben.