Autor Thema: [1. Akt] Die Wende  (Gelesen 10727 mal)

Beschreibung: Prolog für Alaric [abgeschlossen]

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Die Wende
« Antwort #15 am: 29.07.2014, 09:40:30 »

Pater Johannes
Statt einer Antwort nickte Pater Johannes langsam, wobei er die Augen geschlossen hatte. "Dann bitte komm.", sagte er und wies mit einer Hand aus der Kirche. Sie gingen auf den Hof und weiter in das westliche Gebäude. Dort suchten sie Bruder Remigius, welcher Cellerar[1] hier im Tempel war. Von ihm erhielt Alaric eine schmucklosen, ockerfarbenen Habit. Der Cellerar wies Alaric auch eine Kammer zu, welche sich Alaric, zu seiner Erleichterung, mit niemandem teilen musste. Dann gingen sie zum großen Schreibsaal des Tempels. Unterwegs stellte Pater Johannes Alaric verschiedene Leute vor, darunter den Kantor, den Infirmar[2], aber auch verschiedene Novizen.

Im Schreibsaal angekommen, trat Pater Johannes an einen Wandschrank und entnahm ihm ein kleines Buch von einem Stapel gleicher Bücher. "Du kannst Doch Schreiben und Lesen, nicht wahr? Wunderbar. Dann nimm dieses hier. Es wird Deine heilige Schrift werden. Nun lass uns das Formelle klären.", sagte er[3]. Er ging zum Lehrerpult, stellte einen weiteren Stuhl hinzu und setzte sich selbst. Er brach das fürstliche Siegel und begann das Schreiben zu lesen. Alaric beobachtete aufmerksam seine Züge. Zunächst war dem Gesicht des Paters nichts abzulesen und dann - begann er schallend zu lachen, dass es von den Wänden des hohen Baus wiederhallte.

"Alaric, hier steht, dass Du von mir die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade lernen sollst. Wenn es weiter nichts ist, als die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade. Ich sage Dir, wenn Ilmater meinem Leben gnädigerweise noch eintausend Jahre hinzufügen wollte, dann würde ich seine Moral, seine Güte und seine Gnade nicht erklären können. Der Fürst schätzt meine Kompetenz ein bischen zu hoch ein.", sagte er, noch sehr amüsiert. "Hier steht außerdem, dass Du schon in einem Kloster gelebt hast. Das ist gut, es wird Dir helfen, Dich hier zurecht zu finden. Obschon ich meinen will, dass wir hier einige Dinge anders pflegen zu tun. Du musst wissen, dass dies nicht der erste Tempel von Ilmater hier in Niewinter ist. Damals lag der Tempel, es war noch viel mehr ein Kloste, außerhalb der Stadtmauern. Als die Stadt immer mehr anwuchs, fanden sich die Brüder bald in direkter Nachbarschaft zu den Stadtmenschen. Sie reagierten darauf, indem sie strenge Klausur hielten und nur den Kranken und Gebrechlichen Zutritt gestatteten. Dann geschah es vor... hm... etwa 200 Jahren, dass es in Niewinter ein Erdbeben gab, welches vom Berg Hotenow ausging. Das Erdbeben richtete keine größeren Schäden an, nur der Tempel fiel in sich zusammen. Wie Theologen so sind, fragten sie sich, warum Ilmater die Zerstörung des Tempels zugelassen hatte. Und wie Theologen so sind, entbrannte bald ein großer Streit unter ihnen, welcher dafür sorgte, dass sich die Bruderschaft teilte. Die einen meinten, es wäre Ilmaters Willen, dass man sich mehr für die Notleidenden öffnete. Diese Brüder gründeten den Orden des Noblen Herzens hier in Niewinter. Die anderen meinten, dass Ilmater sie gestraft hatte, weil sie sich zu sehr der Welt geöffnet hatten und die weltlichen Begierden in ihr Herz gelassen hatten. Sie waren der Meinung, dass man zuerst die Krankheiten und das Leiden im eigenen Herzen kurieren müsste. Diese Brüder gründeten den Orden des inneren Auges und bauten Ilmater ein neues Kloster in den Felsklüften. Zurück zu unserem Orden, Du wirst sicher bemerkt haben, dass das Volk hier ein- und ausgehen kann, wie sie es wünschen. Wir Mönche sind uns bewusst, dass wir größere Gefahr laufen, dass das Treiben des Volkes unsere Kontemplation stören und unsere Sinne verführen können. Andererseits sehen wir uns in diese Welt gesendet und unseren Auftrag in ihr. Geistliches Wachstum geschieht nicht, indem man sich von der Welt abwendet, sondern dass man gerade in ihr immer das Höhere anstrebt. Verstehst Du, was ich sagen will? Und hast Du noch weitere Fragen, was Dein Noviziat angeht?"
 1. Cellerar: Sozusagen der Verwaltungs- und Schatzmeister eines Klosters
 2. Infirmar:: Bruder, der in einem Kloster für die Versorgung von Kranken verantwortlich ist.
 3. Wenn Alaric das Buch aufschlagen wird, wird er es komplett leer finden. Keine einzige Seite ist beschriftet.
« Letzte Änderung: 29.07.2014, 10:25:53 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #16 am: 29.07.2014, 12:32:15 »
Alarics erste Reaktion war Empörung. Der Pater lachte! Wie konnte er lachen über das, was dort geschrieben stand? Über das, was Alaric getan hatte. Oder verschwieg Lord Nasher dies? Unwahrscheinlich. Der Fürst würde wohl kaum einen Wolf unter Lämmer schicken, ohne diese vorzuwarnen, mit oder ohne Geas. Aber darüber lachen, nachdem Alaric ihm gerade erst gesagt hatte, dass es ihm bitterernst war? Was für ein seltsamer Mensch dieser Pater war. Und gar nicht so, wie Alaric es von einem Anhänger des Leidenden Gottes erwartet hätte; in seiner Vorstellung liefen sie alle mit, nun, mit leidvollen Mienen durch die Gegend. Im Kloster vom Singenden Stein wurde zudem kaum gelacht, und schon gar nicht über ernste Sachen oder derart schallend. Am ganzen Körper bebte der Pater! Alaric konnte sich nicht erinnern, wann er selbst das letzte Mal gelacht hatte. Als Junge jedenfalls, mit den Geschwistern. Vielleicht sollte er sich vornehmen, dies auch wieder zu erlernen. Vielleicht würde es ihm auf seiner Suche helfen.

Über diesen Gedanken vergaß Alaric seine Empörung. Er beschloss, den Pater zu mögen. Damit vergab er sich noch nicht allzu viel. Mögen hieß noch lange nicht vertrauen. Vertrauen würde er nach der Sache mit Meister Hairon so schnell niemandem mehr.

"Keine Frage, was mein Noviziat angeht", antwortete Alaric dem Pater. "Gehorsam habe ich bereits gelernt und die korrekten Anreden werde ich schnell genug durch Zuhören aufschnappen. Es ist wegen meiner Habe, sie liegt noch im Gasthaus zur Glänzenden Schlange und das Zimmer ist nur noch bis morgen bezahlt. Ich müsste sie heute noch holen. Hätte ich einen klareren Kopf gehabt, wäre ich zuerst dort vorbei gegangen. Darf ich sie holen?

Außerdem müsste ich Lord Nasher eine vertrauliche, vielleicht gefährliche Information zukommen lassen, bezweifel aber, dass er mich so schnell wiedersehen möchte. Es wäre jedoch dringend und könnte womöglich Menschenleben retten. Ich weiß, dass es einem Novizen nicht zukommt, eine solche Bitte zu äußern, aber könntet Ihr wohl einen Boten schicken, und zwar einen, dem Ihr vollkommen vertraut?"


"Nach deiner Habe werde ich schicken lassen. Wie lautet die Botschaft?" fragte Pater Johannes aufmerksam.

Alaric zögerte. Eigentlich hatte er an ein Schreiben gedacht. Andererseits konnte ein Schreiben in alle möglichen Hände fallen. Vielleicht wurde diese Botschaft doch besser vom Mund des Boten direkt an Nashers Ohr getragen. Nicht, dass ihm eine Wahl blieb. Entweder, er vertraute dem Pater soweit—immerhin ging es um Menschenleben, nicht nur um Alaric—oder er ließ die Sache erst einmal auf sich beruhen.

Niemals.

"Erwähnt Lord Nasher in seinem Schreiben, dass ich vier Morde begangen habe? Vier... Auftragsmorde? Ich glaube, ich weiß jetzt, wer dahinter steckt. Mein Mentor im Kloster vom Singenden Stein. Meister Hairon Bergstille. Er hat mich benutzt. Vom ersten Tag an. Warum ich das auf einmal weiß? Wegen Nashers Siegel auf dem Schreiben. Die Aufträge, die ich angeblich in seinem Namen erhielt, trugen allesamt einen Löwen als Siegel. Meister Hairon aber erklärte mir, dass die Befehle von Lord Nasher kämen. Ich habe es geglaubt. Es war eine Lüge. Mein ganzes Leben, von Anfang an, alles Lüge."

Alaric runzelte die Stirn. Der letzte Satz gehörte nicht zur Sache. Er fügte noch hinzu: "Abt Rufus Steinsänger und die anderen, ich glaube, sie wissen nichts davon. Aber der zweite Schüler von Meister Hairon, Pendagast Tiefensee, der führt ebenfalls diese Mordaufträge aus. Ob er klüger ist, als ich es war, und die Wahrheit kennt, weiß ich nicht. Nur, dass es ihm gefällt."

Alaric sagte letzteres ohne den geringsten Gedanken an Rache; es war einfach die Wahrheit.

Erst jetzt blickte er den Pater an. Während seiner Rede hatte er auf dessen Brust gestarrt aus Angst vor dem Ausdruck, den er auf des Paters Gesicht finden würde.
« Letzte Änderung: 30.07.2014, 12:24:51 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #17 am: 29.07.2014, 21:51:02 »

Pater Johannes
In Pater Johannes Gesicht flossen verschiedene Empfindungen in einander über. Zuerst war da Unglaube über das Erzählte. Offensichtlich war der Pater zunächst davon im Zweifel, ob Alaric sich nicht einen Scherz erlaubte, oder ob er ihn auf die Probe stellte. Doch der Pater schien zu der Überzeugung zu gelangen, dass Alaric die Wahrheit sprach, denn sein Gesicht zeigte dann Erschrecken und Trauer. Und zuletzt - lachte er. Nicht jenes schallende Lachen, sondern jenes Lachen, das man lacht, wenn eine Situation absurd-komisch ist. "Oh Ilmater! Welche Aufgabe hat Deine Vorhersehung da in meine Hände gelegt? Gab es denn niemanden, der fester im Glauben gründete oder glühender Deinen heiligen Namen verkündigte, als Dein geringer Knecht? Aber ich danke Dir für Dein Vertrauen und ich gelobe daran zu wachsen." rief er aus.

Damit wandte sich der Pater wieder seinem Novizen zu. "Alaric, was ziehst Du die Stirn kraus? Ist es nicht recht, dass ich lache? Ich sage Dir, dass es gut ist, zu lachen, so lange das Lachen nicht töricht oder unanständig ist. Es kommen Momente im Leben, in denen schwere Anfechtungen und Verfehlungen einem die Sprache rauben. Man kann nicht einmal beten. Das Herz wird einem schwer und eng, so dass es den Zweifel in sich gefangen nimmt. Gerade dann ist das Lachen die einzige Antwort, die möglich ist. Und heilsam ist es auch, weil es das Herz weitet."

"Aber nun gut, zu dem, was Du sagtest. Der Fürst erwähnte die Morde nicht und ich halte es auch für das Beste, wenn Du ihm selber schreibst. Deine Vergangenheit interessiert mich nur insofern, als dass sie Dich betrifft. Wir werden uns dafür Zeit nehmen, aber nicht heute und auch nicht morgen. Deine Aufgabe wird heute sein, dass Du Dich in den Tempelhof setzt, bis dass die Nacht einbricht. Wenn es dunkel ist, gehst Du schlafen. Du wirst um 5.30 Uhr geweckt, um 6.00 Uhr ist die Mette, danach Frühstück und um 8.30 Uhr beginnt der Unterricht. Und nun, komm!"

Pater Johannes stand hinter seinem Pult auf und ging durch den Schreibsal auf den Ausgang zu. Dabei rezitierte er:

Komm, wer du auch seiest!
Wanderer, Anbeter, Liebhaber des Loslassens, komm.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Auch wenn Du deinen Eid tausendmal gebrochen hast,
komm nur!
Und noch einmal: Komm!


Als sie auf den Tempelhof getreten waren, verlies der Pater ohne weiteres Wort Alaric. Alaric war etwas ratlos, beschloss dann, sich auf eine Bank zu setzen und zu tun, wie der Pater ihn geheißen hatte.
« Letzte Änderung: 29.07.2014, 23:56:01 von List »
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Die Wende
« Antwort #18 am: 30.07.2014, 02:33:14 »
Doch schon nach kurzer Zeit wurde Alaric unruhig. Sitzen. Das fängt ja gut an. Ist das meine erste Lektion? Wenn ja, was soll ich dabei lernen? Und warum fällt es mir so schwer? Geduld haben mir die Brüder vom Singenden Stein[1] doch wahrlich genauso gründlich eingehämmert wie den Gehorsam. Oder nicht? War meine Geduld niemals Geduld, sondern nur Gleichgültigkeit? Und weil mir nicht mehr alles gleichgültig ist, da ist's auch gleich mit meiner Geduld vorbei?

Er versuchte zu meditieren, doch es wollte ihm nicht gelingen. Normalerweise tat er es nämlich in Bewegung, bis seine Gedanken sich im Einklang mit seinen Gesten drehten und wendeten, bis Geist und Körper vereint waren durch den langsamen Tanz, das Spiel mit dem Schatten, bis er sich in der Schwebe befand, im perfekten Gleichgewicht.

Er war einfach zu aufgewühlt. Und von allen Dingen, die heute passiert waren und von denen er die Hälfte nicht so recht kapiert hatte, geschweige denn sich eine Meinung dazu gebildet, plagte ihn ein Gedanke am meisten: der Pater hatte sein Stirnrunzeln missverstanden. Der Mann glaubte tatsächlich, Alaric hätte Anstoß an seinem Lachen genommen. Nun, ehrlicherweise hatte Alaric das auch—beim ersten Mal, als der Mann ihm schallend ins Gesicht lachte, wo Alaric doch mit gar so klammem Herzen daherkam, obwohl auch dies im Nachhinein erklärbar war, wenn Lord Nasher in seinem Schreiben versäumt hatte, Alarics Verbrechen zu erwähnen...

Verflixt! So unordentlich wie heute waren Alarics Gedanken noch niemals gewesen, verirren musste man sich darin! Es schien, als würden seine Gedanken die ihm zur wahren Balance fehlende Bewegung ausgleichen wollen, indem sie selbst wild durcheinander rasten. Wo war ihm der Faden verloren gegangen? Hatte er den Satz überhaupt richtig beendet?

Also, das Stirnrunzeln jedenfalls, das stört mich, dass der Pater dies auf sein Lachen bezogen hat, wenn es doch nur mir selbst galt. Das Lachen gefällt mir doch eigentlich ganz gut an ihm. Vor allem die zweite Art; die, mit der er die ihm auf den ersten Blick vielleicht absurd erscheinende Aufgabe akzeptiert hat, einem vierfachen Mörder die Bedeutung von Moral, Güte und Gnade beizubringen; mit der er dem Schicksal ins Gesicht lachte, aber nicht mir; mit der er zu sagen scheinen wollte: Ha, dann packen wir's an! Und die folgende Erklärung, die gefällt mir auch. Lachen, wenn einem die Worte im Halse stecken bleiben, wenn einem die Kehle zum Atmen zu eng wird, die Brust zum Heben zu schwer. Lachen soll man dann!

Alaric versuchte es, doch es wurde nur ein spöttisches Schnaufen daraus. Also gut, auf Anhieb schaffte man so etwas natürlich nicht. Da würde er lange üben müssen.

Und noch immer saß er da. Gerade einmal später Nachmittag war es. Immer wieder kamen Leute vorbei.[2] Einige grüßten ihn mit einem Nicken oder knappen Worten, andere sahen sich neugierig nach ihm um, wieder andere—die jüngeren zumeist, welche dieselben schlammgelben Roben trugen wie er selbst—blieben bei ihm stehen und versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Einen davon bat Alaric um einen Stift, damit er etwas in seiner "heiligen Schrift" notieren könne (welche sich als leeres Heft herausgestellt hatte); man half ihm bereitwillig aus. Und so notierte er, während drei Novizen ihm dabei zusahen, die Worte des Paters zum Lachen, so gut er es aus der Erinnerung vermochte, und dachte auch noch eine Weile darüber nach.

Die Sonne zog langsam ihre Bahn. Je länger die Schatten wurden, desto schwerer fiel Alaric das Sitzen. Eigentlich wäre jetzt Zeit für sein Abendtraining. Er war es gewohnt, dreimal am Tag zwei Stunden lang zu trainieren, obwohl er das Mittagstraining auf Reisen meist ausfallen ließ. Aber der Pater hatte ihm eine klare Anweisung gegeben, die einen Sinn haben musste, auch wenn dieser sich Alarics Verständnis entzog.

Die Zeit verging einfach nicht. Seine Muskeln begannen zu zittern und zu verkrampfen. Er versuchte die verschiedensten Sitzpositionen aus, sowohl auf der Bank als auch auf dem Boden, es half alles nichts. Da, endlich! Ein rötlicher Schimmer am Horizont. Bald wäre die Qual vorbei.

Was ihn wohl morgen beim Unterricht erwartete? Unterricht worin? Bei wem? Wer würde noch dabei sein? Würde er Pater Johannes morgen wiedersehen? Dann wollte er die Sache mit dem Stirnrunzeln und dem Lachen aufklären. Obwohl... wahrscheinlich würde der gute Mann die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und ein Dutzend Mal seinen Gott anrufen: "Was, ich soll diesem Menschen auch noch das Lachen beibringen? Grundgütiger Ilmater! So fest ist mein Glaube nicht, da such dir lieber einen anderen Knecht, das schaff ich nicht!"

Endlich verschwand die Sonne hinter den Hausdächern. Alaric wartete noch etwas, bis er ganz gewiss war, dass man dies nun mit bestem Gewissen "Einbruch der Nacht" nennen durfte, und machte sich auf den Weg in seine Schlafkammer. Dort angekommen, stellte er fest, dass jemand inzwischen seine Sachen aus der Herberge geholt hatte. Die Waffen fehlten—das hatte er nicht anders erwartet—aber sonst schien alles da. Also zog Alaric sich aus, vollführte die kürzeste Form seiner Bewegungsmeditation und davon auch nur einen Durchgang—schwierig genug in der Enge seiner Kammer—bevor er sich wusch und zu Bett begab. Trotz dieser Vorbereitungen verfolgten ihn die Gedanken auch hinter geschlossenen Lidern.

Warum hatte der Pater ihm mit der Nachricht an Lord Nasher nicht helfen wollen? Für ihn wäre es ein einfaches gewesen! Wie sollte Alaric es nur bewerkstelligen? Einen Brief schreiben und dann? Wem konnte er einen solchen anvertrauen? Niemandem. Er würde doch selbst gehen müssen. Aber man würde ihn nicht vorlassen, dessen war er sich sicher. Für den Fürsten war die Sache erst einmal abgehakt. Es lebten noch achttausend weitere Bürger in seiner Stadt, um die er sich kümmern musste, allesamt ehrenwerter und beschützenswerter als Alaric.

Überhaupt, Lord Nashers Schreiben! Wie seltsam, dass er nichts von Alarics Verbrechen erwähnt hatte. Um einen Kranken zu kurieren, musste man doch erst einmal wissen, an was er litt! Daher bedauerte Alaric nicht, es dem Pater gesagt zu haben. Irgendwie schien er dessen Ehrgeiz dadurch ja sogar beflügelt zu haben. Und vielleicht erhöhte es Alarics Chance, hier tatsächlich etwas zu erreichen.

Und der Pater hatte ihn nicht so angesehen, wie er befürchtet hatte.

Irgendwann, von ihm selbst unbemerkt, glitt er in den Schlaf hinab. Es war noch dunkel, als man ihn weckte. Er fühlte sich seltsam frisch und erholt. Noch seltsamer aber war das fremde Gefühl, das er erst nach einigem Herumrätseln erkannte und benennen konnte: Neugier! Kaum konnte Alaric es fassen. Zum ersten Mal seit... er erinnerte sich beim besten Willen nicht seit wann... war er neugierig auf den Tag, der vor ihm lag. Was mochte dieser ihm bringen?
 1. Apropos, wenn der Orden des Inneren Auges sein Kloster auch in den Felsklüften gebaut hat, dann hat Pater Johannes vielleicht doch schon vom Orden des Singenden Steins gehört, zumal sich ja nun herausstellt, dass diese bis auf Hairon und Schüler doch ein halbwegs ehrenwerter Haufen sind.
 2. Diesen und die weiteren Sätze des Absatzes habe ich angepasst, damit alles zum folgenden Post des SL passt (ich hatte wohl den Betrieb hier unterschätzt.)
« Letzte Änderung: 03.08.2014, 14:58:51 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #19 am: 30.07.2014, 10:35:21 »
Alaric verbrachte den ganzen Tag im Tempelhof, so wie es der Pater ihm befohlen hatte. Seine Gedanken waren durcheinander und sprangen ihm wild durchs Bewusstsein, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Auch das Meditieren gelang ihm nicht, was mitunter auch daran lag, dass er ständig von irgendwelchen Menschen gestört wurde.

Zunächst waren da die anderen Novizen, die zu ihm kamen. Es waren alles noch sehr junge Burschen, die das Klosterleben noch nicht verinnerlicht hatten. Einer von ihnen war ein rechter Springinsfeld, ein anderer eher nervös (er stotterte). Der dritte Novize war besonders nett. Er stellte sich als Novize Benno vor, hieß Alaric fröhlich willkommen und schwatzte dann über die Klosterküche, dass das Essen in Ordnung wäre, aber es zu wenig abwechslung gäbe und man selten einen Nachschlag bekäme. Verschwörerisch flüsterte er Alaric dann zu, dass er meistens einen kleinen Vorrat an Pfefferkuchen und Nüssen hätte, den er auch gerne teile. "Es sind die alten Witwen, die viel Pflege benötigen, aber den jungen Novizen auch etwas Gutes tun wollen. Du weißt, Alaric, dass wir keine Geschenke für unseren Dienst am Nächsten annehmen dürfen. Aber ich sage Dir, es gibt auch so etwas wie eine 'verletzende Bescheidenheit'. Ich bringe es nicht übers Herz, die Pfefferkuchen abzulehnen, die sie extra für mich gebacken haben." Novize Benno zwinkerte Alaric zu.

Dann lernte Alaric auch viele von den Brüdern kennen. Die Brüder stellten sich vor und fragten nach Alarics Namen, zu seiner Überraschung aber nicht nach seinem früheren Leben. Offensichtlich waren die Brüder der Meinung, dass dieses jetzt nicht mehr von Bedeutung war. Die Gespräche waren ansonsten sehr nett, aber kurz.

Nicht zuletzt lernte Alaric auch einige Hilfesuchende kennen. Sie betraten den Tempelhof und sprachen einfach den Nächstbesten an, der so aussah, als könnte er helfen. Meistens bekam Alaric auch gleich die Geschichte zu hören: Kinder, die giftige Beeren gegessen hatten, Männer, denen beim Handwerk der Hammer abgerutscht war, Frauen, die in den Geburtswehen lagen usw. usf. Alaric musste dann immer sagen, dass dies sein erster Tag war und er nur raten konnte, in den Tempel zu gehen und dort die Priester anzusprechen.

Am Ende des Tages, als die Sonne schon untergegangen war und sich Alaric zu Bett begeben hatte, dachte er noch einmal über Pater Johannes' Aufgabe nach. Innerhalb eines einzelnen Tages hatte er fast die gesamte Bruderschaft und einige der alltäglichen Geschäfte des Tempels kennengelernt. Pater Johannes hatte ihm eine peinliche Vorstellung vor der Bruderschaft erspart und den Brüdern stattdessen selbst die Möglichkeit gegeben, den neuen Novizen kennenzulernen. Ganz ungezwungen.

Zwei Dinge waren Alaric auf dem Klosterhof jedoch vorerst fremd geblieben und über eines war er froh. Das erste war, dass er den ganzen Tag über niemanden auf der Trainingsfläche gesehen hatte. Das andere war, dass die Tempelschwestern ihn den ganzen Tag über ignoriert hatten.
« Letzte Änderung: 30.07.2014, 10:36:30 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #20 am: 30.07.2014, 11:31:05 »
Viel zu schnell war Alaric mit der Morgenwäsche fertig, sodass ihm noch einige Zeit des Wartens blieb, bis er sich auf den Weg zur Mette würde machen müssen. Dabei fiel sein Blick auf seine Zeichenmappe[1], die er gestern nur vom Bett, wo man seine gesamte Habe einfach abgelegt hatte, auf den Tisch geräumt hatte. Nachdenklich strich Alaric darüber. Sein ganzes Leben war darin, zusammengefasst in einem Dutzend Kohlezeichnungen. Hier drin wenigstens gab es keine Lüge.

Verunsichert hielt er inne. Mit einer Schleife war die Mappe zugebunden—war das seine? Er machte doch normalerweise keine Schleife, sondern legte die Schnüren so, dass die Schlinge auf der einen Seite beide Male oben lag, auf der anderen Seite unten[2]. Hatte da jemand hineingeschaut? Durchgeblättert bis zum Schluss? Man musste schon ganz nach hinten blättern, um die vier kleineren Bilder zu finden, die Alaric aus Gründen, die rational nicht erklärbar waren, immer noch nicht verbrannt hatte, obwohl er sich des öfteren eingestand, dass es eigentlich Wahnsinn sei, so etwas mit sich herumzuschleppen. Vielleicht hielt er daran fest, weil sie die Wahrheit zeigten. Wie verlogen auch die Machenschaften dahinter aussahen—der jeweilige Augenblick, den sie festhielten, zeigte die Wahrheit.

Musste er sich also Sorgen machen, dass wer auch immer seine Sachen geholt hatte, diese Wahrheit gesehen und als solche erkannt hatte? Oder vielleicht war Pater Johannes hier in Alarics Zimmer gewesen, während dieser auf dem Hof saß, und hatte seine Sachen durchwühlt? Alaric wusste nicht, was ihm weniger lieb wäre; er tendierte zu letzterem, auch wenn dies eigentlich für ihn das geringere Problem darstellen sollte, denn schließlich wusste der Pater ja bereits von den Morden.

Dabei war beides Unfug. Ein Bruder des Ilmaters würde doch keine private Zeichenmappe öffnen und durchwühlen, oder? Verflixt, Alaric war sich nicht einmal sicher, ob er sie nicht offen auf dem Tisch in der Herberge hatte liegen lassen, am Tag, als er sich zur Audienz bei Lord Nasher aufmachte. An den Tagen davor hatte er nämlich viel gezeichnet, auch wenn er alles bis auf das eine Bild wieder zerknüllt und in der Gaststube ins Feuer geworfen hatte. Gut, aber hatte er die Zeichnungen an jenem Morgen denn auch wieder in der Mappe verstaut und diese verschnürt und in den Schrank zurückgeräumt? Das wollte ihm nicht einfallen.

Das Glockenläuten schreckte ihn aus den Gedanken und er eilte aus dem Zimmer, der Kapelle entgegen.
 1. Ich wusste nicht so recht, was ich schreiben sollte - da ja keine Zeit vergangen ist zu meinem letzten Post - oder ob ich überhaupt etwas schreiben sollte oder von Dir noch ein weiterer Post kommt, daher die Idee mit der Mappe, Interpretation offen! (Entweder Alaric ist bloß paranoid oder es hat tatsächlich jemand hineingeschaut; dabei entweder nur das oberste Bild - freie Auswahl! - oder alle gesehen... :))
 2. so
« Letzte Änderung: 03.08.2014, 14:54:33 von Alaric Schattenfels »

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« Antwort #21 am: 30.07.2014, 15:23:15 »
Die Mette

Alaric kam gerade noch rechtzeitig und nahm in einer der Reihen Platz. Verstohlen sah er sich um. Nicht nur die Brüder und die Novizen waren hier versammelt, sondern auch Männer und Frauen aus dem Volk. In der kommenden Stunde wurde gebetet, gesungen und aus der heiligen Schrift verlesen. Die Mette erschien Alaric nicht so anders, so ähnlich war er es auch von seiner alten Bruderschaft gewohnt, natürlich wenn man davon absah, dass hier nicht Helm, Torm oder Kelemvor sondern Ilmater angerufen wurde. Überrascht war er lediglich von den Fürbitten, die eine beträchtliche Zeit einnahmen, und dem hohen Anteil an Gesängen. Pater Johannes sollte später sagen, dass die Gesänge in der Bruderschaft als besonders wichtig gelten: "Jeder Septimanar[1] hält seine Predigt nur ein einziges Mal. Aber die Gesänge wiederholen sich immer und immer wieder. Viele Menschen erinnern sich nicht an eine Predigt, sondern an einen Gesang, wenn das Leben eine Frage an sie stellt. Wenn Du so willst, dann sind die Gesänge das Predigen des einfachen Mannes."
 1. Hier Bezeichnung für den Bruder, der jeweils die Metten der Woche leitet.
« Letzte Änderung: 30.07.2014, 15:37:44 von List »
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« Antwort #22 am: 30.07.2014, 15:31:36 »
Der Unterricht

Von allen Elementen des Klosterlebens empfand Alaric den Unterricht bei Pater Johannes am außergewöhnlichsten. Auch im Kloster zum singenden Stein hatte er Unterricht gehabt. Der Unterricht bestand im Wesentlichen daraus, dass der dortige Lesemeister seinen Schülern die heiligen Schriften diktierte und diese mussten den Text nicht nur korrekt übertragen, sondern auch noch zur nächsten Stunde auswendiglernen. Wenn ein Schüler sich verschrieben hatte oder beim Rezitieren ins Stocken kam, dann erntete er Stockhiebe auf die Handflächen[1]. Wenn der Lesemeister eine Frage stellte, dann erwartete er, dass die Schüler das passende Schriftzitat kannten und im Sinne dieses antworteten[2]. Fragen der Schüler hingegen wurden nicht beantwortet, außer vielleicht mit weiteren Stockhieben.

Der Lesemeister des Ilmater Tempels war Pater Johannes. Zunächst empfand Alaric diesen Titel jedoch als verfehlt, denn gelesen wurde im Unterricht tatsächlich sehr wenig. Es schien ihm zunächst so, als dass der Pater und die Schüler völlig undiszipliniert über die Götter und die Welt plauderten. Es brauchte seine Zeit, bis Alaric das System dahinter verstand[3]. Pater Johannes begann stets damit, dass er eine möglichst allgemeine Frage aufwarf und die Schüler nacheinander aufforderte, auf diese zu antworten. War der Pater mit der Anzahl der Fragen zufrieden, so bündelte er die Aussagen und konkretisierte sein Frage oder nahm Rückbezug auf eine Aussage, die ihm besonders interessant erschien. Wieder waren die Schüler aufgefordert, darauf zu antworten und der Pater stellte weitere Nachfragen. Im Übrigen achtete der Pater darauf, dass die Antworten nicht ausschweiften oder die Frage verfehlten. Oft stellte sich ziemlich schnell ein erster Konsens oder ein Problem heraus. Pater Johannes antwortete darauf, indem er eine kleine Anekdote aus den Biografien der Heiligen zitierte oder eine Parabel erzählte. Jeder Schüler musste dann die Lektion oder die Moral formulieren. Das Ende der Lehrstunde war immer gleich: Pater Johannes formulierte das Ergebnis des Diskurses und sagte daraufhin: "Dieses und noch viel mehr meinte Ilmater als er uns jenes Wort gab, welches lautet:", dann rezitierte er einen Vers oder einen Absatz aus der heiligen Schrift und endete mit den Worten "Lasst uns diesen Wortes den Tag über gedenken. Aber wisset, dass ein ganzes Menschenleben nicht ausreicht, um seine göttliche Weisheit zu begreifen."
Der Rohrstock kam übrigens niemals in Gebrauch. Wenn einer der Schüler etwas sagte, das Pater Johannes nicht gefiel, dann sagte er "Das ist sicherlich nicht Ilmaters Wille. Das weißt Du besser."

Obwohl diese Art des Unterrichts jeder Art von Disziplin entbehrte, merkte Alaric, dass die Schüler ganz bei der Sache waren und sich auf jede Unterrichtsstunde freuten. Wenn einer krank war, dann ließ er sich von den anderen Novizen berichten. Als Gedächtnisstütze und zur Erinnerung schrieben alle eifrig mit in jene Büchlein mit den weißen Seiten, von denen Alaric auch eines besaß. Außerhalb des Unterrichts fügten sie weitere Gedanken hinzu, zitierten die Schrift oder Heiligenbiografien oder zeichneten Bilder in das Buch. Pater Johannes machte es sich zur Aufgabe, am Ende jedes Zehntags die Büchlein einzusammeln. Er trug dann seinerseits Gedanken und Kommentare ein, stellte Fragen oder schrieb "Das ist sicherlich nicht Ilmaters Wille. Das weißt Du besser." an den Rand. Alaric verstand, dass der Pater auf diesem Weg mit seinen Schülern auch über den Unterricht hinaus kommunizierte, so dass die Auslegung der Schrift die Schüler manchmal den ganzen Tag über begleitete. Keiner der Novizen wollte seinen Lesemeister enttäuschen, im Gegenteil, sie alle wünschten sich seine Anerkennung.

Eine für Alaric besonders denkwürdige Stunde begann mit folgender Frage: "Was ist Recht und Ordnung?" Dabei sah er Alaric an und Alaric wusste, dass er antworten musste[4].
 1. Sogenannte Tatzen
 2. Deduktives Schlussfolgern
 3. Eine Art induktiven Denkens
 4. Der Autor hofft, dass er in Sachen Lehrbefähigung seiner Figur nicht allzu deutlich hinterhersteht :P
« Letzte Änderung: 31.07.2014, 00:34:19 von List »
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Alaric Schattenfels

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« Antwort #23 am: 31.07.2014, 01:59:49 »
Alaric, welcher in der letzten Reihe saß—er fühlte sich nicht wohl, wenn ihm jemand im Rücken saß—erstarrte. In den vergangenen Wochen hatte der Pater ihn im Unterricht noch kein einziges Mal angesprochen und Alaric hatte auch nie von sich aus das Wort ergriffen. Nun drehten sich alle nach ihm um und er wandt sich innerlich unter dem erwartungsvollen Blick von acht Burschen, die allesamt jünger waren als er. Äußerlich blieb er dagegen ruhig und gelassen.

Recht und Ordnung, das war im Kloster vom Singenden Stein natürlich oft genug Thema gewesen, und er hatte viele nette Sprüchlein dazu auswendig lernen müssen, doch Alaric spürte, dass Pater Johannes keins von diesen hören wollte. Obwohl er die Frage absolut gestellt hatte, wollte er eigentlich wissen, was Alaric unter Recht und Ordnung verstand. Es ging um Meinung, allenfalls Verständnis oder Missverständnis, nicht um Lehrbuchdefinition.

Es hatte noch nie jemand Alaric nach seiner Meinung gefragt.

Alaric überlegte kurz. Er hätte gerne länger überlegt, aber das fiel ihm schwer unter den drängenden Blicken. Er ignorierte die anderen Novizen so gut er konnte und sah nur den Pater an.

"Ordnung ist, wenn jeder seinen Platz hat und immer weiß, was er tun muss, und auch jedes Ding seinen Platz hat und man weiß, wo man es finden kann", begann er mit dem, was er für den leichteren Begriff hielt. "Und Recht, das sind die Regeln einer Gemeinschaft. Die können entweder von oben auferlegt sein, wie Gesetze es meistens sind, oder sie können von einer Gruppe selbst definiert werden, ungeschrieben sein, wenn die Gruppe nämlich Fehlverhalten einheitlich auf eine bestimmte Weise ahndet oder richtiges Verhalten belohnt."

Das war alles, was ihm so auf die Schnelle einfiel. Pater Johannes sah ihn aber immer noch aufmerksam an, als wolle er sagen, dass Alaric da sicherlich noch etwas mehr herausholen könne.

"Mit einem Bild könnte ich besser beschreiben, was ich meine. Wenn Ihr wollt, zeichne ich heute abend eins. Oder jetzt. Ich zeichne schnell, ich könnte vor Ende der Lektion fertig sein. Mit Worten bin ich einfach nicht so gut wie mit dem Zeichenstift."

Pater Johannes nickte. Alaric meinte gar, Neugier in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Rasch bat er sich noch ein besseres Papier aus—sein heiliges Buch war einfach zu klein—dann machte er sich ans Werk.

Er hätte erwartet, dass Pater Johannes und die anderen Novizen derweil seine Aussage auseinanderrupfen und ihre eigenen Vorschläge diskutieren würden; statt dessen sahen sie ihm beim Zeichnen zu: der Pater schweigend, die Novizen von gelegentlichem Tuscheln abgelenkt.

Und Alaric hatte nicht gelogen. Seine Zeichnungen beschrieben besser als seine Worte—viel besser—was er unter Recht und unter Ordnung verstand.

Das erste Bild zeigte, dass für Alaric Ordnung im wesentlichen mit Disziplin zusammenfiel. In klaren Linien und kühlem Detail bot sich dem Betrachter eine Szene aus dem Klosterleben dar, ähnlich wie Alaric es erlebt hatte, nur dass hier mehrere Reihen von Novizen—vier Dutzend bestimmt—auf ihren Schulbänken saßen, so ordentlich aufgereiht wie Soldaten bei einer Parade, alle in die gleiche Richtung, nämlich zum Lehrer blickend.[1]

Das Bild zu Alarics Verständnis von Recht aber zeigte Lord Nasher, wie er über einem vor ihm knieenden Gefangenen Recht sprach. Das Gesicht des Gefangenen war nicht zu sehen. Zwar war er von der Seite gezeichnet, doch drehte er den gesenkten Kopf zur anderen weg, als ertrüge er den Blick des Betrachters nicht in seiner Scham. Das Gesicht Lord Nashers dagegen war so lebensecht, so lebendig, dass man kaum glauben konnte, jemand könne es gezeichnet haben, ohne dass Nasher ihm tatsächlich Porträt saß.

Es war das beste Bild, das Alaric in seinem ganzen Leben gezeichnet hatte. Es war... Perfektion. Der Hofmaler Lord Nashers hätte es nicht besser hinbekommen. Nein, nicht annähernd so gut hätte er es hinbekommen, weil er niemals auf diese Art Recht von Nashers Hand erfahren hatte, so wie Alaric es am eigenen Leib erleben durfte; er, der Hofmaler, hatte niemals diesen Ausdruck auf dem Gesicht seines Fürsten gesehen, den Alaric hier eingefangen hatte, den er auf sich selbst hatte ruhen sehen an jenem Tag, als er vor ihm kniete, als dieser Gesichtsausdruck sich in seine Erinnerung eingebrannt hatte: Strenge, Gnade, Güte, Hoffnung, aber auch die Angst vor Enttäuschung, die Bitte, nicht zu enttäuschen...[2]

Als Alaric fertig war, hielt er die beiden Zeichnungen hoch.
 1. Wurf auf Zeichnen = 25
 2. Wurf auf Zeichnen = 30 (natürliche 20!)
« Letzte Änderung: 31.07.2014, 13:51:50 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #24 am: 31.07.2014, 08:59:23 »

Pater Johannes
"Das ist sehr, sehr gut geworden, Zeuge Alaric.", sagte Pater Johannes voller Anerkennung. Alaric fiel derweil wieder auf, dass der Pater ihn 'Zeuge' genannt hatte. Er nannte die Novizen immer Zeugen, aber nur während des Unterrichts. Ansonsten sprach er sie, wie allgemein üblich im Kloster, als 'Novizen' an. "Die Figuren wirken sehr lebensecht. Der Betrachter fragt sich unwillkürlich, ob er selbst an der Gemeinschaft schuldig geworden ist, und hofft, dass unser Fürst nicht aus dem Bild springen möge, um Gericht zu sprechen." Der Pater lachte. "Aber sag, Zeuge Alaric, Du sagtest so selbstverständlich, dass Ordnung und Recht von einer Person oder einer Gruppe hergestellt werden. Ich finde das bemerkenswert. Bedeutet das nicht, dass Recht und Ordnung zwei relative Dinge sind? Heute so und morgen so? Verlieren Recht und Ordnung nicht ihre Verbindlichkeit, wenn sie jederzeit geändert werden können?"
« Letzte Änderung: 31.07.2014, 09:08:44 von List »
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Alaric Schattenfels

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Die Wende
« Antwort #25 am: 31.07.2014, 11:16:10 »
Alaric wäre dem forschenden Blick des Paters gern ausgewichen, aber er zwang sich standzuhalten, während er sich darüber wunderte, wie seine kurze und eigentlich klare Aussage so viele Fragen aufwerfen konnte. Ihm fiel eine Gemeinsamkeit zwischen Pater Johannes und Lord Nasher auf: jedes Wort drehten sie einem im Mund herum oder hinterfragten es, wodurch alles, was zuvor einfach schien, plötzlich kompliziert wurde.

"Nicht, wenn die Person, die Recht spricht, sich stets nach seinem Gewissen richtet und nach den Maßstäben, die er bei sich selbst anlegen würde", antwortete er. "Das ändert sich nicht so schnell. Und in der Gruppe, nun, da gilt meiner Erfahrung nach, dass die Dinge so gemacht werden, wie die Vorväter sie schon gemacht haben, weil es eben immer schon so gemacht wurde.

Aber vielleicht habe ich Eure Frage enger aufgefasst, als Ihr sie verstanden haben wolltet. Ich dachte nur an unsere Gesellschaft, dabei gibt es natürlich noch die kosmische Ordnung und die göttliche Rechtsprechung. Über beides habe ich, wenn ich ehrlich bin, noch nicht viel nachgedacht. Die Welt ist, wie sie ist, und die Götter... nun, ihr Wille bleibt unergründlich. Dem Menschen steht zudem darüber keine Meinung zu, während über die kosmische Ordnung nachzudenken mir recht sinnlos erscheint, da man ja doch nichts daran ändern kann. Was nutzt es, sich zu fragen, warum alles, was geboren wird, sterben muss, oder warum die Natur so eingerichtet ist, dass des einen Tod dem anderen Leben bringt? Jedes Aufbegehren dagegen ist zwecklos, und jedes Fragen nach dem Warum kann nur in Verzweiflung enden."


Alaric runzelte die Stirn, dann fügte er noch hinzu: "Wobei es fast genauso zwecklos ist, gegen die gesellschaftliche Ordnung aufzubegehren; auch das kann nicht gutgehen. Die Gruppe ist immer stärker als der einzelne."

Aber nun war sein Mund schon ganz trocken vom vielen Reden, also klappte er ihn zu.

« Letzte Änderung: 01.08.2014, 01:13:14 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #26 am: 02.08.2014, 16:08:17 »

Pater Johannes
Pater Johannes lächelte zufrieden. "Sehr gut, Zeuge Alaric. Sehr gut, denn Du hast erkannt, dass eine Ordnung sich nicht aus sich selbst heraus begründen kann. Ohne eine Begründung sind Recht und Ordnung stets freischwebend, sozusagen, und stets anfechtbar. Es bedürfte einer Menge Gewalt, um sie aufrecht zu erhalten. Einer Menge an Gewalt, wie sie nur ein Tyrann aufbrächte. So etwas läge unserer Stadt aber ferne. Nun aber die Frage, was kann Recht und Ordnung begründen? Erstaunlicherweise hast Du gleich vier Begründungen angedeutet - und jede dieser Begründungen wurde von mindestens einem großen Theoretiker herangezogen. Diese sind: das Gewissen, die Vernunft, die Tradition und die göttliche Ordnung. Welches ist die 'richtige' Begründung?", fragte der Pater und blickte unter seinen Schülern umher.

"Die Zeit ist schon vorangeschritten und daher will ich von der Routine abweichen und selber eine Antwort wagen. Wie es sich mir darstellt, können die letzten drei Möglichkeiten nicht überzeugen. Man hat viel über die Vernunft geschrieben und auch beachtliche Gedankengebäude auf ihr aufgebaut. Dabei hat man aber vergessen, dass Vernunft keine Eigenschaft ist, die jeder Mensch in gleicher Weise hat. Was wir als vernünftig ansehen, ist nicht unwesentlich eine Sache der Erziehung. Was unseren Vorväter vernünftig erschien, kann uns heute zum Teil nicht mehr überzeugen. Was Menschen anderer Kulturen vernünftig erscheint, erscheint uns zum Teil unkultuviert. Was Menschen anderer Familien vernünftig erscheint, erscheint Menschen einer anderen Familie zum Teil als Marotte oder Idiotie. Mit anderen Worten, Vernunft ist nicht unwesentlich eine Sache der Kultur.

Mit der Tradition lässt sich vieles Begründen. Große Meister alter Tage haben ihre Ansichten niedergeschrieben und die Hohen haben über langwieriges Ausprobieren herausgefunden, wie man ein Volk zu seiner Zufriedenheit regieren kann. Mir als Lesemeister nötigt das großen Respekt ab. Es ist meiner Meinung aber nicht weise, der Tradition blind zu vertrauen. Man wiederholte nämlich nicht nur das Gute vergangener Generationen, sondern auch ihre Fehler. Von einem großen Meister aus Kara-Tur wird berichtet, er habe seinen Schülern einmal gesagt: 'Sucht nicht in meine Fußstapfen zu treten, sondern sucht was ich gesucht habe'. Das ist ein sehr umsichtiger Satz, den jeder Lehrer seinen Schülern sagen sollte.

Was ist mit der kosmischen und göttlichen Ordnung? Ohne Frage erscheint es uns gut oder zumindest unumgänglich, was die Götter wollen. Aber es wäre ein heikles Geschäft, aus der göttlichen Ordnung eine menschliche Ordnung abzuleiten. Wie Du schon sagtest, Zeuge Alaric, wir sind nur Menschen und können den göttlichen Ratschluss kaum erkennen. Wiederum, ein Suchender sagte nach einem langen Leben: 'Sei nicht schnell mit deinem Munde und lass dein Herz nicht eilen, etwas zu reden vor Gott; denn Gott ist im Himmel und du auf Erden; darum lass deiner Worte wenig sein'.

Zuletzt bleibt also das Gewissen. Welch wundervolle Einrichtung der Götter. Das Gewissen ist eine Art innerer Kompass. Subtil gibt es die Richtung des Lebens vor, ohne jedoch das Wesen zu determinieren. Das Gewissen zeigt das Gute, nimmt dem Geschöpf aber nicht seine Freiheit. Es ist der Grund, warum jedes Lebewesen zu Liebe und Barmherzigkeit fähig ist, selbst die Orks und die Drow. Die Existenz des Gewissens ist für mich Grund genug, zu glauben, dass die kosmische Waagschale immer ein wenig in Richtung des Guten ausschlägt. Freilich, es gibt genug Menschen, die dem Gewissen nicht trauen. Sie sagen, dass das Gewissen durch die Erziehung ausgeschaltet werden kann. Das ist richtig - und es ist auch der Grund, warum ich niemandem raten kann, die ersten drei Begründungen ganz zu vernachlässigen. Aber das wichtigste ist das Gewissen. Ohne Liebe und Barmherzigkeit kann keine Gesellschaft bestehen, es sei denn, sie sei eine Tyrannei.

Dieses und noch viel mehr meinte Ilmater als er uns jenes Wort gab, welches lautet: 'Seid barmherzig, wie auch ich barmherzig bin. Und liebt einander, wie ich Euch liebe. Mein Gesetz und meine Propheten haben niemals etwas anderes von Euch verlangt.' Lasst uns diesen Wortes den Tag über gedenken. Aber wisset, dass ein ganzes Menschenleben nicht ausreicht, um seine göttliche Weisheit zu begreifen."

Damit war der Schlusssatz gefallen. Die Schüler schlugen ihre Bücher zusammen und sammelten ihre Schreibutensilien zusammen. Bald würde das Mittagsgebet beginnen.
« Letzte Änderung: 02.08.2014, 17:55:33 von List »
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Die Wende
« Antwort #27 am: 02.08.2014, 19:14:17 »
Das Gewissen sollte von allem das wichtigste sein? Das gab Alaric zum einen Hoffnung, denn er war sich sicher, dass er ein Gewissen durchaus besaß. Doch Pater Johannes schien Gewissen mit Liebe und Barmherzigkeit gleichzusetzen, was Alaric äußerst beunruhigte und verwirrte. Auch die Bestätigung, dass Gewissen durch Erziehung verdorben oder gar ausgeschaltet werden konnte, war ernüchternd—in seinem heiligen Buch hatte Alaric diesen Satz doppelt unterstrichen. Wo war sein Gewissen gewesen, damals in Tiefwasser? Die Antwort war leicht: es war die ganze Zeit dabei gewesen und hatte ohnmächtig zugeschaut. Er hatte es sogar gehört, diese verzweifelte Stimme in seinem Kopf, viel zu leise und verzagt, um etwas zu erreichen. Mit Angst hatte er sie verwechselt und daher mit der ganzen Kraft seiner Überzeugung—Indoktrination!—zum Verstummen gebracht.

Alaric fand es sehr erstaunlich, was Pater Johannes aus seinen, des Schülers, unbeholfenen Ausführungen gemacht hatte. Gewissen, Vernunft, Tradition und die göttliche Ordnung... hatte Alaric wirklich von all dem gesprochen? Wenn ja, dann wirr durcheinander. Der Pater hatte die vier Prinzipien irgendwie aus dem Wirrwarr herausgehört, benannt und geordnet und dann einleuchtend dargestellt.

Und statt den Schüler für seine mangelnde Redegewandtheit zu tadeln, hatte er ihn gelobt—übrigens schon zum zweiten Mal. (Das war doppelt so oft wie in seinen sechzehn Jahren im Kloster vom Singenden Stein.) Alaric hatte eigentlich erwartet, dass der Pater seine Aussage auseinander nehmen würde, dass er die Fehler darin aufdecken und vielleicht gar der Lächerlichkeit preisgeben würde, wie es Alaric oft genug in seinem alten Kloster widerfahren war.

Am meisten gefreut aber hatte er sich ja über das Lob des Paters für seine Zeichnungen. Das kannte er ganz anders von früher. "Pack endlich deine Kritzeleien weg", hatte Bruder Alban, Lesemeister des Klosters vom Singenden Stein, ihn ständig angeschrien, "sonst fliegen sie ins Feuer!" Da waren sie dann auch oft genug gelandet. Einmal hatte der Bruder gar Alarics gesamte Mappe den Flammen übergeben, und Alaric hatte sich gehörig die Hände verbrannt bei dem Versuch, sie daraus zu erretten—weswegen er zum Überdruss auch noch eine Tracht Prügel verabreicht bekam. Das einzige Lob, das er in der ganzen Zeit je erhalten hatte—von Meister Hairon—galt der erfolgreichen Durchführung seines ersten Mordauftrages.

Alaric schob diesen Gedanken mit Gewalt beiseite, klappte sein heiliges Buch zu, in dem er so gut er konnte mitgeschrieben hatte, auch wenn er heute abend noch einiges würde ergänzen müssen[1], und erhob sich.

Er wartete noch, bis die anderen acht Novizen den Raum verlassen hatten, dann trat er auf Pater Johannes zu.

"Bitte entschuldigt, Pater Johannes, ich hätte noch eine Frage", begann er zögernd. "Eigentlich könnt Ihr Euch denken, worum es geht. Es ist nun mehrere Wochen her und ich... also, ich habe noch keine Lösung gefunden und es lässt mich nicht los..." Er vergewisserte sich durch einen Blick in den Korridor, dass niemand sich mehr in Hörweite befand.

"Also, ich habe noch keinen Weg gefunden, Lord Nasher eine Nachricht zukommen zu lassen. Einen Boten kann ich nicht schicken, weil ich niemanden kenne, dem ich diese Sache anvertrauen kann—außer Euch, aber Ihr sagtet bereits, dass Ihr es nicht tun wollt. Daher kam ich zu dem Schluss, dass ich doch selbst zu ihm muss, oder vielleicht treffe ich einen seiner Vertrauten, die bei meiner... Anhörung oder bei dem Geas dabei waren. Daher meine Frage: werdet Ihr mir Ausgang gewähren? Heute nachmittag vielleicht oder morgen?"
 1. siehe Charakterfaden, ganz unten, Stichwort: Alarics "Heilige Schrift", Eintrag: Über das Gewissen.
« Letzte Änderung: 11.08.2014, 18:15:51 von Alaric Schattenfels »

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Die Wende
« Antwort #28 am: 02.08.2014, 19:44:13 »

Pater Johannes
Der Pater nickte, wobei er die Augen schloss. "Das Mittagsgebet darfst Du nicht auslassen und auch nicht die Mette am Abend. Gehe also nach dem Mittagessen - oder schon vor dem Mittagessen, falls Du davon ausgehst, die Zeit zu benötigen. Und nimm einen der Novizen mit, vielleicht am besten Novize Benno. Ich gebe den Brüdern Bescheid, dass Ihr nicht zur Arbeit kommt."

Alaric wolte sich schon zum Gehen wenden, da hielt ihn der Pater noch einmal zurück. "Novize Alaric, ich wollte Dir noch zwei Dinge sagen. Das erste ist, dass Du eine außergewöhnliche Gabe hast, die Dinge aufmerksam zu betrachten. Es ist mir an Deinen Bildern aufgefallen. Ich will Dich ermutigen, wende diese Fähigkeit auch nach innen an. 'Erkenne Dich selbst', das ist für einen Mönch sehr wichtig.

Und zweitens will ich Dir sagen, dass ich mir dessen bewusst bin, Dir eine Antwort schuldig geblieben zu sein. Du sagtest, die Gruppe sei immer stärker als der Einzelne, und dass es deshalb ohne Aussicht sei, gegen die Gruppe aufzubegehren. Ich komme auf Deine Aussage zurück. Morgen sprechen wir darüber, warum es diesen Tempel gibt."
« Letzte Änderung: 02.08.2014, 20:50:41 von List »
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Die Wende
« Antwort #29 am: 02.08.2014, 20:01:02 »
Alaric nickte Zustimmung, obwohl ihm gar nicht aufgefallen war, dass Pater Johannes ihm eine Antwort schuldig geblieben war, vermutlich weil er die Aussage, auf die der Pater sich bezog, nicht im mindesten als Frage gemeint hatte. Für ihn war es ein Fakt. Einleuchtend und selbsterklärend. Wie konnte ihm da eine Antwort fehlen?

Etwas anderes kam ihm an den Worten des Paters seltsam vor. Was hat er da gerade gesagt? Das ist mir an Deinen Bildern aufgefallen. Wie wollte der gute Mann nach dem Betrachten von nur zwei von Alarics Bildern, egal wie gut diese geworden waren, schon zu diesem Urteil gelangt sein? War es doch Pater Johannes gewesen, der seine Mappe durchgeblättert hatte?

Alaric klappte den Mund, der sich schon zu dieser Frage geöffnet hatte, wieder zu. Er wollte es gar nicht wissen.

"Wenn ich Benno mitnehmen soll, dann kann ich erst nach dem Mittagessen gehen", sagte er. "Aber ich muss den Brief ja noch verfassen, das erledige ich dann während dessen. Benno wird sich freuen, wenn er heute mal meine ganze Portion haben darf." Nicht nur ein Drittel davon, wie sonst.

Er rang kurz mit sich, dann sagte er: "Danke." Und damit meinte er viel mehr als nur die Ausgangserlaubnis. Er hoffte, Pater Johannes würde das verstehen.

Alaric fing Benno also nach dem Mittagsgebet ab, zog ihn in eine möglichst stille Ecke und teilte ihm den Plan mit.

"Ich muss gleich nach dem Mittagessen ein Schreiben zum Schloss Niewinter bringen. Pater Johannes hat gesagt, du sollst mich begleiten. Ich kümmer mich schnell noch um alles. Wenn du magst, kann du derweil meine Portion mitessen. Und pack dir ein paar Pfeffernüsse ein, falls wir länger warten müssen. Bis zur Abendmette sollen wir zurück sein."
« Letzte Änderung: 03.08.2014, 14:47:42 von Alaric Schattenfels »