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Autor Thema: Vom Schicksal verweht  (Gelesen 16245 mal)

Beschreibung: Henry und Harry in der Windigen Stadt

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #15 am: 04.09.2014, 13:22:01 »
Harry verfügte über eine Reihe übernatürlicher Fähigkeiten, von denen die machtvollste ohne Frage der „Soulgaze“ war. Wenn Harry eine Person auf eine bestimmte Weise ansah, dann konnte er in dieser gewisse Dinge seiner Persönlichkeit, seiner Wünsche, Ziele und seiner metaphysischen Konstitution sehen. Harry war sich nicht sicher, was er da sah. Es konnte einfach die Persönlichkeit eines Menschen sein oder dessen Aura. Es hatte sicherlich Anteile davon, aber es war gleichzeitig auch mehr und Harry hatte sich angewöhnt, von der Seele eines Menschen zu sprechen.

Wenn es tatsächlich die Seele war, die er betrachtete, dann war sie anders, als man es sich vorstellte. Die Seele eines Menschen ist natürlich sehr individuell, da sie in Beziehung steht zu ihrer Lebensgeschichte und ihrer Umwelt. Aber zwei Menschen die sich in ihren Erlebnissen und ihrer Zielen ähneln, wie zum Beispiel Zwillinge, können innerlich sehr unterschiedlich „aussehen“. Wenn man eine Seele betrachtete, dann kommt es nicht nur darauf an, was sie ausmacht. Harry nahm an, dass sich der Mensch – oder besser: dessen Seele – auch selbst innerlich betrachtete und das, was sie vorfand, in eine gewisse Form goss, um sich zu begreifen. Und je nachdem, was eine Seele für sich selbst als charakteristisch oder als besonders erachtete, waren gewisse Elemente vorder- oder hintergründiger, besonders detailreich gezeichnet oder eher versteckt, hell oder dunkel. Die Seele eines Künstlers sah ganz anders aus als die eines Mathematikers, die einer religiösen Person ganz anders als die einer unreligiösen, die einer magisch-begabten Person schließlich ganz anders als die einer magisch unbegabten, und so weiter. In eine Seele zu schauen, war immer etwas anders. Manche Seelen gaben sich preis wie ein Film, andere glichen einem Aktenschrank mit vielen Ordnern, andere eher einem Mülleimer und wieder andere einem Stillleben (das absonderlichste, was Harry gesehen hatte, war die Seele eines Intellektuellen: Sie glich der Tonbandaufnahme einer Vorlesung und war gespickt mit Zitaten und Bonmots berühmter, amerikanischer Autoren).

Mit anderen Worten: Wie sich eine Seele präsentierte, hing auch davon ab, welche Weltansicht eine Person hatte und welche Begriffe sie verwendete. Manche Dinge blieben einer Seele wohl auch unerkannt, wenn sie sie nicht beschreiben konnte. Harry ahnte auch, dass nicht nur die Sprachfähigkeit der Seele ihre Erscheinung beeinflusste, sondern auch die Sprachfähigkeit des Betrachters. Manche Dinge erkannte Harry wohl auch in seiner Weise oder auch gar nicht, eben weil er auch nicht anders konnte, als in seinen Begrifflichkeiten zu denken.

Es gab wohl einen einfachen Weg, diese letzte Hypothese zu überprüfen. Es war nämlich so, dass der Soulgaze keine metaphysische Einbahnstraße war. Wenn Harry in die Seele einer Person sah, dann konnte wohl auch die Person einen Blick in seine eigene Seele werfen. Aber Harry hatte sich nie getraut, zu fragen, was andere in ihm gesehen hatten. Es gab wohl Dinge, die wollte man selbst nicht über sich wissen...

Harry hatten schon die ganze Zeit überlegt, ob er wohl in Henrys Seele blicken wollte. Die Prozedur trug immer ein gewisses Risiko mit sich, weil man den Anblick einer Seele immer sehr intensiv wahrnahm und nie wieder vergaß. Eigentlich sagten ihm all seine normalmenschlichen Sinne, dass Henry der war, der er vorgab zu sein. Die Ausrüstung schien echt—was einen sehr schlechten Scherz entfernter Bekannter ausschloss—die Verwirrung und Verzweiflung ebenfalls. Der Akzent schwankte zwar, aber vielleicht haben Henrys Eltern verschieden gesprochen oder er versuchte Harrys amerikanischen Akzent nachzuahmen. Der Punkt war: unter normalen Umständen hätte Harry ihm geglaubt.

Wenn seine vorletzte Klientin nicht genauso unschuldig dahergekommen wäre. Harry war ihr zwar gerade noch rechtzeitig auf die Schliche gekommen, doch die Wächter[1] wollten ihm seine Beteuerungen, nicht ihr Komplize gewesen zu sein, nicht abkaufen. Und selbst wenn, hatten sie gehöhnt, selbst wenn er nicht gewusst haben sollte, dass seine Klientin eine Gestaltwandlerin war (welche die Identität ihres letzten Opfers—einer hochkarätigen Staatsanwältin—angenommen hatte, um einen wichtigen Prozess zu boykottieren), dann wäre es trotzdem Harrys Schuld gewesen, wenn Menschen zu Schaden gekommen wären, weil er fahrlässig gehandelt und ihre Identität nicht rechtzeitig überprüft habe. Und deshalb hatten die vier Wächter dort drüben am Tisch, obwohl Harry unter Einsatz seines Lebens das Schlimmste verhindert hatte, ihm seine zweite und offiziell letzte Warnung erteilt—und das waren schon doppelt so viele wie andere je von ihnen bekommen hatten. Beim nächsten Mal wäre der Kopf ab.
 1. das sind die Richter und Henker der magischen Community, wird im Post genau erklärt
« Letzte Änderung: 04.09.2014, 13:32:05 von List »
"Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen."
- Hokusai

Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #16 am: 04.09.2014, 13:31:24 »
Überhaupt: Henry... dieser Name störte Harry schon die ganze Zeit! Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: St. Henry Catholic Cemetery! Letzter in einer Reihe von acht spukbesuchten Friedhöfen. War Henry der, dessen Ankunft sich da angekündigt hatte? Und wenn ja, was war er: Spuk oder Heiliger, Monster oder Himmelsbote? Oder doch ein Feenwesen. Feen liebten nichts mehr als einen dramatischen Auftritt. (Die meisten Feen, denen er bislang begegnet war, hatten zu viel Grimms Märchen gelesen; vielleicht lag es daran.)

Und deshalb sah er Henry jetzt tief in die Augen.

Henry wusste nicht, wie ihm geschah, als Harry ihm so plötzlich und geradewegs in die Augen sah. Ihm blieb kaum genug Zeit sich zu wundern, dass Harry so gar nicht blinzelte, dann wusste er plötzlich Dinge über ihn, die man allenfalls über einen langjährigen Bekannten wissen konnte und meist nicht einmal dann.

Er will mir tatsächlich helfen. Sein letztes Geld hat er hergegeben, um mir eine warme Mahlzeit, einen Kaffee und Whiskey bis unter den Tisch auszugeben. Umsonst wird er mich bei sich wohnen lassen für egal wie lange. Seinen Freunden vorstellen. Herumfragen, ob jemand Arbeit für mich hätte. Mir helfen, mich in seiner Welt zurecht zu finden. Und nicht eine müde Kupfermünze wird er dafür verlangen, obwohl er dringend Geld braucht, obwohl es normalerweise sogar sein Beruf ist, für Geld Klienten zu helfen, obwohl er kurz davor steht, Haus und Habe zu verlieren, weil er seine Miete und Schulden nicht zahlen kann.

Mein Freund will er sein. Er sehnt sich nach Freundschaft. Als Kind war er allein, hatte keine Kameraden in seinem Alter, weil er anders war als sie, und auch heute besitzt er mehr Feinde als Freunde. Wahre Freundschaft, das ist für ihn Vertrauen und Akzeptiertsein. Er sehnt sich danach, jemandem vertrauen zu können. Sich nicht verstellen zu müssen. Weder verachtet noch gefürchtet, sondern geschätzt zu werden. Für einen solchen Freund würde er alles tun. Durch dick und dünn gehen und ohne Zögern das eigene Leben opfern, um das des Freundes zu retten.

Er findet mich sympathisch. Er würde mir gerne vertrauen, und doch er wagt es nicht. Ein Gedanke plagt ihn: dass ich nicht der bin, der ich behaupte zu sein. Dass ich vielleicht nicht einmal Mensch, sondern ein Monster bin. Da ist er sich nämlich gar nicht sicher! Da hat er bereits einmal zu oft vertraut und fast hat es ihn das Leben gekostet. Eine ganze Kette an Argumenten hat er sich zurecht gelegt, die ihm so logisch erscheinen, dass sie beinah schon beweisen, ich müsse jemand mit finsteren Absichten sein. Dennoch hofft er das Gegenteil.

Und deshalb macht er da gerade etwas mit mir, blickt in meine Seele und öffnet mir die Seine, auf dass ich ihn durchschauen möge genau wie er mich. Und dabei weiß er nicht, was er mehr fürchtet: dass ich ein Mensch bin und er sich durch sein Tun und sein Misstrauen meine Freundschaft bereits verscherzt hat, oder dass ich ein Monster bin, er also recht hatte und das richtige tat und mich nun bekämpfen müsse.

Außerdem glaubt er, keine Wahl zu haben. Wegen der Wächter dort drüben am Tisch. Er hat Angst vor ihnen. Richten würden sie ihn, gnadenlos, sollten sie auf die Idee verfallen, er könne wissentlich—oder auch unwissentlich!—einem Monster geholfen haben. Den Luftzug ihrer Klinge spürt er schon an seinem Hals. Zweimal haben sie ihn bereits gewarnt; als nächstes käme die Hinrichtung.

Und dabei ist er ein Mensch, der Gutes tun will. Er will Gutes tun und dabei aber auch beweisen, den Wächtern wie der ganzen Welt, dass er jemand ist, der Gutes tut. Offenbar wird dies in weiten Kreisen angezweifelt. Sogar von ihm selbst. Geradezu panisch ist seine Angst, er könne das Falsche tun, nein, etwas richtiggehend Böses.

Ausgeschlossen vom christlichen Heil glaubt er sich, seit seiner Geburt und durch keine Schuld seinerseits außer der, geboren worden zu sein. (Nicht einmal getauft ist er!)

Denn größer als seine Angst, dass ich ein Monster sein könnte, ist die, dass er selbst eines ist.

Wie der Rest seiner Familie.

« Letzte Änderung: 08.09.2014, 07:18:16 von Harry Webster »
My name is Harry Aleister Mulholland Webster. Conjure by it at your own risk.

Paranoid? Probably. But just because you're paranoid doesn't mean that there isn't an invisible demon about to eat your face.

Henry

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #17 am: 04.09.2014, 21:58:00 »
Harry hatte Recht, was seine Vermutungen bezüglich des Soulgaze' angingen. Zumindest dahingehend, dass sich eine Seele dem Betrachter auch nach dessen eigenen Verständnis nach offenbarte. Als Henry in Harrys Seele blickte, da offenbarte sich ihm ein schmerzlicher Konflikt zwischen zwei Wesensteilen. Henry verstand, dass Harry sich vor der einen Seite fürchtete, denn sie hatte die Macht, alles zu vernichten, wonach er strebte. Und andererseits konnte er diese Seite auch nicht verleugnen, denn sie war ein Teil von ihm. Henry verstand dies sehr gut, denn es war zum Teil auch seine eigene Geschichte, wenn es bei Harry wohl auch dramatischer war.

Henry versuchte zu verstehen, woraus dieser Konflikt resultierte, was sein Grund war. Er stellte eine wortlose Frage und er bekam eine wortlose Antwort. Henry bekam einen Eindruck von Harrys Eltern und dann waren da zwei Attribute, die Harrys Eltern auszeichneten. Henry verstand Harrys Vater als einen Drachen und Harrys Mutter als eine Fee. Harry hatte Henry zwar bereits ein zwei Dinge über Magie erzählt, doch Henry dachte noch zu sehr in eigenen Kategorien, als dass er verstand, was Drache und Fee bedeuteten. Daher dachte Henry beim Drachen an ein Wappentier[1] und schloss daraus, dass Harrys Vater wohl ein Adliger gewesen sein mochte. Und die Fee? Henry vermutete, dass Harrys Mutter wohl eine Heidin gewesen sein mochte, die an Mythen oder Okkultismen glaubte.

Henry hatte weiterhin den Eindruck, als wäre der Drache der zerstörerischere Anteil in Harry. Das verwunderte Henry nun wiederum gar nicht. Wenn es wirklich um Okkultismus ging, dann könnte dies die Folge haben, dass der Drache die Fee auslöschen würde. Doch damit würde Harry seine Mutter verlieren, vielleicht auch andere nahestehende Menschen und gewisslich einen Teil von sich selbst. 'Fiat Iustitia et pereat mundus', flüsterte Henry erschrocken[2].

Henry hatte nun eine Erklärung gefunden, warum Harry immer nach 'Feen' suchte und was es mit der ganzen Rede von Magie auf sich hatte. Wie gründlich er Harry dabei in manchen Details missverstand, war Henry nicht bewusst, da er nur das erkannte, was er von sich selbst auch kannte.
 1. Drache als Wappentier
 2. Gerechtigkeit geschehe und die Welt wird untergehen.
« Letzte Änderung: 04.09.2014, 22:10:55 von Henry »
"Be just, and fear not: Let all the ends thou aim'st at be thy country's, Thy God's, and truth's." - Shakespeare: King Henry VIII., Act 3, Scene 2

Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #18 am: 05.09.2014, 02:29:01 »
Harry dagegen befand sich, kaum dass er Henrys Blick begegnet war, in einer kleinen, gemütlichen Hütte. Die Wände waren aus grauen, grob gehauenen Steinblöcken errichtet worden. Zur rechten war ein Kamin, in welchem ein behagliches Feuer brannte. An einem eisernen Haken hing ein großer Kessel, aus welchem nach Lamm und Minze riechender Dampf kam. Vor dem Kamin standen zwei Stühle mit breiten Armlehnen, die zum Sitzen einluden, auf dem Boden daneben eine Flasche und einige Gläser. An der Wand lehnte ein altertümliches Saiteninstrument. Außerdem waren da noch zwei Regalbretter an der Wand befestigt. Das eine enthielt nur zwei Bücher, die in der niedrigen Stube überdimensioniert wirkten. Harry betrachtete die beiden Bücher. Es waren „The Holy Bible“ und „The Book of Common Prayer“. Beide wiesen massive Gebrauchsspuren auf. Auf dem anderen Regalbrett hatte jemand ordentlich Gegenstände aufgereiht. Harry erkannte einen zerbrochenen Steinguttopf mit Brotkrümmeln, ein blutiges Taschentuch, den Totenschädel eines Schafs und eine kleine Stickerei von einer blauen Kornblume. Diese Dinge waren zwar geordnet, aber von einer dicken Staubschicht überzogen. Darunter las Harry die Inschrift: "And I will give unto thee the keys of the kingdom of heaven: and whatsoever thou shalt bind on earth shall be bound in heaven: and whatsoever thou shalt loose on earth shall be loosed in heaven."[1] Offensichtlich symbolisierten diese Gegenstände die Sünden, welche Henry gelassen—und gebunden—waren.

Harry setzte seine Detektivbrille auf und betrachtete diese Sünden eine nach der anderen und aus der Nähe. Sein erster Gedanke war: Aha. Henry hat also einmal Mutters besten Steinguttopf zerdeppert, dem Nachbarjungen eine blutige Nase verpasst, beim Schafhüten nicht aufgepasst—wahrscheinlich, weil er sich mit dem hübschen Schäfermädel, der die Stickerei gehörte, hinter den Büschen vergnügt hat—und deshalb hat der Wolf sich eins der Schafe geschnappt.

Sein zweiter Gedanke war, dass Henry als erwachsener Mann solch Bubenstreiche wohl kaum noch für Sünden halten würde. Es musste also mehr dahinter stecken.[2]

Harry untersuchte die vier Gegenstände aus der Nähe. Aha, der Steinguttopf war mit Absicht zerdeppert worden, sonst wäre er wohl kaum in so viele kleine Teilchen—Staub teilweise!—zersprungen. Das Blut auf dem Taschentuch stammte aus verschiedenen Zeiten und hatte den Stoff völlig durchtränkt—da hat es mehr als nur eine blutige Nase gegeben. Und das Schaf, nun, das arme und offenbar weibliche Tier war ermordet—genauer: erdolcht—worden. Diese Erkenntnisse schienen Harry nicht sehr hilfreich, da er den Täter ja bereits kannte: Henry. Warum sollte Henry ein Schaf erdolchen? Warum sollte es eine Rolle spielen, ob dieses männlich oder weiblich war? Was war so sündhaft daran, wenn's bei einer Prügelei mal ne blutige Nase gab? Und der Steinguttopf war vielleicht das rätselhafteste. Was sollten die Brotkrümel darin?

Du bist doch der Detektiv, Harry, sag Du's mir!

Als Harry sich genauer umsah, fand er überall im Raum verteilt weitere Inschriften. "I will bless the LORD at all times: his praise shall continually be in my mouth." und "I sought the LORD, and he heard me, and delivered me from all my fears." und dann war da noch "Come, ye children, hearken unto me: I will teach you the fear of the LORD. What man is he that desireth life, and loveth many days, that he may see good? Keep thy tongue from evil, and thy lips from speaking guile. Depart from evil, and do good; seek peace, and pursue it.[3]

Neben den ganzen Bibelzitaten fand Harry aber auch Zitate von Shakespeare. Offensichtlich mochte Henry Shakespeare sehr. "Be just, and fear not: Let all the ends thou aim'st at be thy country's, Thy God's, and truth's", stand über dem Rüstungsständer. "Let me have men about me that are fat, Sleek-headed men, and such as sleep o' nights", stand über dem Kamin. Neben einem Bild, das wohl Henrys Vater darstellte, stand: "That deep torture may be called a hell, When more is felt than one hath power to tell."

Endlich etwas, das Harry verstand und sogar nachvollziehen konnte! Henry liebte also seinen Vater, sonst hätte er sein Bild nicht hier hängen. Von der Mutter gab es im ganzen Zimmer kein Bild und auch nichts, das an Irland erinnerte. Im Gegenteil: die vielen Zitate waren sehr... englisch. Und doch gab es etwas, das Henry seinem Vater gerne gesagt hätte, ihm aber niemals gesagt hatte, weil es einfach zu schwer war, in Worte zu fassen: dass seine Gefühle ihm gegenüber zwiegespalten waren. Dass es da neben der Liebe auch Anklage gab und, als Folge davon, Scham, weil es doch der Vater war, den man lieben und ehren sollte. Darauf wiederum folgte die Wut, dass der Vater ihn dazu gebracht hatte, sich wegen der berechtigten Vorwürfe zu schämen, obwohl es doch dessen Schuld war, dass man anders war als die anderen, dass man niemals und nirgendwo dazugehörte; Wut auch darüber, dass die väterliche Strenge und Unnahbarkeit es unmöglich machten, ihm diese Vorwürfe ins Gesicht zu sagen... Halt, waren das immer noch Henrys Gefühle oder längst Harrys?

Über Henrys Bett fiel Harry eine weitere Inschrift auf, die ihn nachdenklich stimmte: „By night on my bed I sought the one who my soul loveth: I sought her, but I found her not. I will rise now, and go about the city in the streets, and in the broad ways I will seek her who my soul loveth: I sought her, but I found her not.“[4].

Wiederum offensichtlich, zumal das Bett ein Ehebett war, aber nur auf einer Seite jemand zu schlafen schien. Auch die Sehnsucht nach einer Frau, die sein Leben teilte, kannte Harry nur zu gut, auch wenn er sich weniger poetisch ausdrücken würde und noch weniger Hoffnung als Henry hatte, in dieser Hinsicht jemals Erfüllung zu finden.

Harry sah sich weiter um und fand eine kleine Tür. Über der Tür war Psalm 22 komplett niedergeschrieben. Besonders stachen die Verse 13 bis 15 hervor, sie waren viele Male nachgefahren worden, zuletzt in blutrot: „They gaped upon me with their mouths, as a ravening and a roaring lion. I am poured out like water, and all my bones are out of joint: my heart is like wax; it is melted in the midst of my bowels. My strength is dried up like a potsherd; and my tongue cleaveth to my jaws; and thou hast brought me into the dust of death.

Harry trat durch die Tür – und wäre beinahe gestürzt. Vor ihm war der Boden aufgerissen und ein riesiger Abgrund tat sich auf. Der gesamte Raum war vom Abrund verschluckt worden. Doch hinter dem Abgrund, da tat sich eine prachtvolle Landschaft auf. Harry sah eine sattgrüne, hügelige Landschaft und er hatte keinen Zweifel daran, dass dies Irland war, so wie Henry es sah. Überall waren Schafe und dann vereinzelt auch Menschen, die sangen und glücklich aussahen. Niedrig hängende Wolken brachten warmen Regen und es lag der würzige Geruch von frisch gemälzter Gerste in der Luft. Die Sonne legte sich auf das Land und tauchte die Szenerie in ein dunkles rot. Es würde gleich Nacht werden – und irgendwie beunruhigte das Harry. Er wusste nicht warum, aber die aufkommende Dunkelheit machte ihn unruhig, ja, ließ sogar Angst in ihm hochkommen. Waren das die Gedanken von Henry? Oder waren es seine Gedanken?

Harry schwindelte und er trat rasch vom Abgrund zurück. Zerrissen in der Seele! Dort—unerreichbar!—die weite, sonnendurchflutete Welt der Mutter, hier die dunkle, enge Welt des Vaters: bewundernswerte Literatur, aber Strenge; trostspendender Glaube, aber bar jener sorglos lachenden Freude, die er drüben sah; Wissen, Fortschritt, Verstand, Stolz: alles hier, und dennoch sehnte das Herz sich nach dem Drüben, nach den grünen Wiesen mit den glücklichen Menschen.

Aber die Stimmung, die er da gerade gespürt hatte, sagte ihm, dass es mehr als nur Sehnsucht war, das Harry für das Irland seiner Mutter empfand; da war auch etwas dunkleres. Sie hatten ihn ausgegrenzt, die glücklichen Schäfer, als sei er ein Wolf unter ihren Schafen. Nur wegen des englischen Vaters? Oder auch wegen des Temperaments? Harry vermutete letzteres. Eigentlich war er sich dessen sicher. Wie bei ihm selbst war so etwas eben nicht ausschließlich, wie man das selbst gerne sehen würde, nur die Schuld der anderen: des Vaters, wegen dem man anders war; der Mitmenschen, die einen deshalb ausgrenzten... Aber Henry wollte sich das genausowenig eingestehen wie Harry selbst.

Nach dieser Erkenntnis untersuchte Harry abermals die vier Gegenstände auf dem Regal, welche Henrys Sünden darstellten, denn etwas glaubte er inzwischen verstanden zu haben: Henry sieht den Dingen ungern direkt in die Augen, oder vielleicht sind wir in Amerika da heutzutage nur wegen zu vieler Jahre Psychoanalyse geschulter und, nun, vielleicht sollte man sagen: masochistischer veranlagt. Henry jedenfalls denkt ganz anders, weniger analytisch, mehr in Symbolen. Ja, für alles gibt es eine Analogie, ein passendes Bibelzitat, oder wenigstens eine Szene aus Shakespeare. Nicht einmal die eigenen Gefühle drückt Henry gern in eigenen Worten aus, vielleicht weil er Angst hat, diese könnten unzulänglich sein. Oh je, wenn ich jeden meiner Ergüsse an der Weisheit der Bibel oder Wortgewandtheit Shakespeares messen würde, ich verbrächte mein halbes Leben auf der Couch!

Und deshalb erinnerte Henry sich lieber an das blutige Taschentuch als an die vielen Prügeleien, die er mit den Nachbarsjungen und später mit den jungen Männern seines Alters ausgetragen hatte, wann immer sie es wagten, ihn als nicht Irisch genug auszugrenzen. Deshalb erinnerte er sich lieber an den Tonkrug, den er im Zorn zerschlug, als an den Streit mit den Eltern. Deswegen erinnerte er sich lieber an das Schaf, das er getötet hat, weil... Ähm. Ne, an dieser Stelle kam Harry immer noch nicht weiter. Warum ein Schaf abstechen? Beim Nachbarn, aus Rache? Das konnte er sich nicht vorstellen. Nein, das musste ein Geheimnis bleiben. Mit Schafen kannte Harry sich einfach nicht aus.

Als letztes nahm er die Stickerei in die Hand. Jetzt erst sah er, dass diese als einziger der vier Gegenstände nicht verstaubt war. Eine Sünde, die nicht verjährt war, oder wie immer das theologisch korrekt hieß? Was stand da gestickt? "Denie thy Father and refuse thy name." War das Shakespeare oder die Bibel? Daraus ergäben sich zwei sehr unterschiedliche Deutungen. In jedem Fall ging es um eine Frau, doch die Frage war: Hatte Henry wegen dieser Frau, trotz der ganzen Bibelsprüche hier, sich im Herzen bereits von Gott oder zumindest seiner Kirche abgewandt und damit, so würde er sagen, Name, Ehre und Seelenheil verloren? Oder war das Zitat von Shakespeare? Romeo und Julia böte sich da an. Vergiss, dass du Sohn deines Vaters bist, lege deinen Familiennamen ab und komm zu mir?

So oder so, da steckte zuviel Gefühl in diesem Symbol, als dass es sich um eine abstrakte Liebe handeln könnte. Henry war einmal, oder vielleicht immer noch, tragisch verliebt. Entweder seine Religion oder ihre irische Familie hatten ein glückliches Ende verhindert. Ob das Mädchen zu Schaden gekommen war? Gar gestorben, wie Julia? Jedenfalls fühlte Henry sich schuldig. So schuldig, dass er sich selbst nicht vergeben konnte.

Ein letzter Gedanke jagte Harry hinterher, als das Gesehene um ihn herum schon zu verblassen begann und Henrys Gesicht dahinter wie aus dem Nebel auftauchte. Es sprach der Barde selbst: "I could be bounded in a nutshell, and count my selfe a King of infinite space; were it not that I have bad dreames."

Und dann saß Harry da und sah Henry an und wusste nicht, was er sagen sollte. Henry war tatsächlich ein Mensch, und die Geschichte, die er Harry erzählt hatte, schien zu stimmen.

"Ähm", sagte Harry. "Das... ähm... gerade... tut mir leid. Ich wollte nur... also... bin einfach zu oft... reingefallen auf Leute, die Hilfe zu benötigen schienen, und dann aber... na ja... und Eure Geschichte war ja auch ein wenig... schwer zu glauben, das müsst Ihr zugeben, oder? Es war jedenfalls nicht bös gemeint..."

Harry biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Die Stammelei war ja schrecklich.

"Oh verflixt, Henry, es tut mir leid, OK? Ehrlich, Mann. Das, was gerade passiert ist, passiert von allein, wann immer ich jemandem länger als eine Sekunde in die Augen blicke, also vermeide ich das meist. Aber wenn man den Leuten nicht in die Augen schauen kann, dann entgeht einem viel, dann durchschaut man sie einfach nicht. Und deshalb falle ich auf jeden rein, der mir mit einer netten Geschichte kommt und mich um Hilfe bittet. Deswegen wollte ich einfach wissen, woran ich bei Euch bin. Vergeben und vergessen?" bat er kleinlaut.
 1. Mt 16,19
 2. Profession (P.I.) = 17 => Tipps.
 3. Alles aus Ps 34
 4. nach Hoheslied 3,1-2
« Letzte Änderung: 15.09.2014, 16:46:56 von Harry Webster »
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Henry

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #19 am: 05.09.2014, 13:21:09 »
"Was ist da gerade geschehen? Ich habe Dich gesehen. Ich meine... ich habe... Dich... gesehen.", stotterte Henry, als er wieder seine lebensweltliche Umgebung gewahr wurde. Unter anderen Umständen wäre er wahrscheinlich verängstigt gewesen, denn was Harry da gerade getan hatte, das musste Magie gewesen sein. Anders war es gar nicht zu erklären, was Henry da gerade erlebt hatte. Aber das was Henry gesehen hatte, hatte ihn einfach nur... - Henry wusste gar nicht genau, wie er sich dabei fühlte. Es war ihm, als hätte er so etwas wie einen Leidensgenossen gefunden, denn Harrys Geschichte war die seine, in gewisser Weise.

Henry schien Harrys Entschuldigung gar nicht gehört zu haben. "Du bist ein Kind zweier Welten, nicht wahr? Es heißt zwar, dass Mann und Frau zu einem Fleisch werden, aber in Deinem Fall ist das anders. Du bist das, was Dein Vater war, und gleichzeitig bist Du das, was Deine Mutter war. Und diese beiden Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Sie kämpfen gegeneinander an und Du weißt nicht, auf welcher Seite Du stehst. Du weißt, wenn eine Seite gewinnen würde, dann würde sie die andere vernichten."

Henry war tief bewegt von dem, was er gesehen hatte. Er konnte gar nicht anders, als das, was er gesehen hatte, in Worte zu fassen. Da waren so viele Gedanken, dass sie ihm geradezu aus dem Mund fielen. "Es ist ein Konfiklt, der Dich umtreibt, schon so lange, wie Du denken kannst. Du hast versucht, Dich irgendwo niederzulassen und einen eigenen Weg zu finden. Du wolltest das unversöhnliche vereinen und einfach nur Deinen Platz in der Welt finden. Aber man kann nicht vor sich selbst fliehen, nicht wahr? Jede Regung ist eine Entscheidung zwischen dem einen und dem anderen. Die Menschen vertrauen Dir nicht, denn sie ahnen, dass Du anders bist, zumindest zum Teil. Darum hast Du niemals Freunde gefunden, niemals... eine Frau kennengelernt." Henry zögerte bedeutungsvoll, als er von Frauen sprach.

"Oh Mann, ich kenne diese Geschichte. Es ist, gewissermaßen, meine eigene, nur in Grün. Mein Vater war ein englischer Edelmann und meine Mutter war eine irische Clansfrau. Ich wurde nach englischer Lebensweise erzogen und wollte immer nur nach meinem Glauben leben. Aber meine Nachbarn waren alles Clansmänner, die entweder katholischen oder heidnischen Glauben angehörten. Sie haben mich nie akzeptiert, höchstens respektiert. Und manchmal nicht einmal das. Ich war ein Sonderling. Nicht Fleisch und nicht Fisch. Ich muss Dir etwas erzählen. Kurz bevor ich aus... meiner Welt gerissen wurde, da klopfte es an meiner Tür. Die Clansbrüder wollten mich mitnehmen, um gegen die Engländer zu kämpfen, die Irland kolonialisiert hatten. Hätte ich mich ihnen angeschlossen, vielleicht wäre ich dann ein Ire geworden. Aber ich hätte meinen Glauben verraten. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich hätte mich den Engländern angeschlossen. Aber ich hätte gegen meine Landsgenossen kämpfen müssen. Ich hätte... mir das niemals verziehen."
« Letzte Änderung: 05.09.2014, 13:50:57 von Henry »
"Be just, and fear not: Let all the ends thou aim'st at be thy country's, Thy God's, and truth's." - Shakespeare: King Henry VIII., Act 3, Scene 2

Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #20 am: 05.09.2014, 14:30:46 »
Harry nickte bei Henrys Worten mehrmals. Als dieser von Frauen sprach, murmelte er dazwischen: "Das ist noch mal etwas komplizierter als die Sache mit den Freunden."

Als Henry geendet hatte, sah Harry sehr nachdenklich aus. "Egal für welche Seite Ihr gekämpft hättet, Ihr hättet es Euch niemals verziehen. Und wenn Eure Familie Euch wirklich als der respektiert hätte, der Ihr seid, hätte sie keine Entscheidung von Euch verlangt. Nun, wenigstens ist Euch das alles ja nun erspart geblieben. Das nenne ich mal Glück im Unglück.

Ich für meinen Teil hätte eigentlich kein Problem, mich für eine Seite zu entscheiden, wenn es eine reine Entscheidungsfrage wäre. Das Erbe meiner Mutter, damit könnte ich gut leben. Aber von dem Teil der Familie lebt niemand mehr, während die Familie meines Vaters schon seit vielen Generationen sehr auf ihren Kinderreichtum achtet - und auf enge Familienbande. Und auch in mir ist das Erbe meines Vaters einfach stärker... Ich bin einfach mehr wie er als wie meine Mutter. Das lässt sich nicht verleugnen."


Harry bemerkte erst jetzt, dass er schon die ganze Zeit nervös mit seinem Irish Coffee herumspielte. Er nahm einen Schluck und stellte das Glas wieder ab.

"Das heißt übrigens Seelenblick, was da gerade geschehen ist. Oder zumindest nenne ich es so. Und bevor Ihr fragt: ich weiß nicht, warum es passiert oder wie es funktioniert. Ich habe Großvater Mortimer genau diese Fragen bestimmt ein Dutzend mal gestellt, bis er geschimpft hat, ich solle endlich damit aufhören, er wisse es nicht. Die ganze Welt und das Leben der Menschen bestünde eben aus ungeklärten Fragen, ich solle mir nur nicht einbilden, ich sei da der einzige oder in irgendeiner Weise ärger vom Leben bestraft als andere. Ich wette, Euch gehen gerade auch eine ganze Menge an Fragen durch den Kopf. Also, ich kann Euch nur versprechen, Euch bei der Suche nach Antworten zu helfen - falls es da Antworten gibt.

Übrigens hat es auch einen Vorteil, dass wir das mit dem Seelenblick nun hinter uns haben"
, versuchte Harry Henry für das Positive der Situation zu erwärmen. "Von nun an können wir uns nämlich in die Augen sehen, ohne Angst zu haben, dass es noch einmal passiert, denn es passiert zwischen denselben Leuten immer nur einmal. Und das ist doch viel netter, oder? Ich kann da nur von mir selbst ausgehen, aber ich finde es ganz schrecklich, niemandem länger als eine Sekunde in die Augen sehen zu dürfen. Da macht man sich auch keine Freunde mit.

Ihr habt meine Frage nicht beantwortet: Könnt Ihr mir verzeihen? Ich weiß, ich hätte Euch vorher um Erlaubnis bitten sollen oder wenigstens vorwarnen, aber... Nein, kein aber. Ich hätte es tun sollen."

« Letzte Änderung: 08.09.2014, 07:31:07 von Harry Webster »
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Henry

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #21 am: 05.09.2014, 14:57:03 »
"Nein, keine Fragen mehr. Ich bin für's Erste bedient.", sagte Henry erschöpft. "Mir raucht der Kopf. Diese ganze Sache ist zu kompliziert geworden und ich kann auch nicht weiter darüber nachdenken. Aber es ist richtig, was da mit mir passiert ist, hat mich um die entgültige Entscheidung gebracht. Vielleicht sollte ich darüber dankbar sein. Aber wenn ich morgen wieder in Irland aufwachen sollte, dann stellen sich diesselben Fragen wieder" Henry ließ geräuschvoll Luft aus seinem Mund entweichen. "Nun gut, wie heißt es? Take therefore no thought for the morrow: for the morrow shall take thought for the things of itself. Sufficient unto the day is the evil thereof.[1]"

Henry schüttelte den Kopf und widmete sich still seinem Essen. Mit seinen fettigen Fingern griff er nach dem hübschen, hohen Becher aus Glas. "Ist das wieder so ein 'Kaffee'-Getränk? Es muss ziemlich beliebt sein. Oh, aber dieser hier schmeckt viel besser, als der, den ich bei Dir bekam. Entschuldige, nichts gegen Dein Getränk, man muss sich vielleicht einfach nur daran gewöhnen. Dieser hier ist einfach mehr nach meinem Geschmack.", sagte Henry und zog den Irish Coffe bis zur Hälfte leer. Sahne bedeckte Henrys Oberlippe. Er wischte den Schaum einfach mit dem Handrücken ab und strich ihn an die Tischdecke.

Henry wurde gewahr, dass Harry ihn noch immer ansah und auf etwas zu warten schien. "Oh, ach ja, das mit dem Seelenblick. Nun, tu es einfach nicht wieder, okay? Das ist einfach ein bischen... zu ungewöhnlich für mich. Bei mir zu Hause... hm... 'zu Hause', meine ich, da werden Zauberer an den Pranger gestellt. Aber ich glaube nicht, dass Du etwas böses im Sinn hattest. For there is nothing either good or bad, but thinking makes it so[2], denke ich mal. Aber bitte, tu es nicht wieder. Und im Übrigen, vergeben und vergessen."

"Der Blutpudding ist gar nicht mal so übel.", kommentierte Henry sein Essen, etwas gezwungen. Er schien das Gespräch wieder auf normale Themen lenken zu wollen.
 1. Mt 6,34
 2. Shakespear: Hamlet
« Letzte Änderung: 05.09.2014, 14:59:58 von Henry »
"Be just, and fear not: Let all the ends thou aim'st at be thy country's, Thy God's, and truth's." - Shakespeare: King Henry VIII., Act 3, Scene 2

Harry Webster

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Vom Schicksal verweht
« Antwort #22 am: 05.09.2014, 21:30:30 »
"An den Pranger nur?" fragte Harry grinsend. "Nicht auf den Scheiterhaufen? Da hab ich ja noch mal Glück gehabt. Aber wenn Ihr so ein Shakespeare Fan seid, ein Zitat kenn ich auch! When shall we three meet again? In thunder, lightning, or in rain?—When the hurly-burly's done, When the battle's lost, and won.—That will be ere the set of sun.—Where the place?—Upon the heath.—There to meet with Macbeth.—I come, Graymalkin.—Paddock calls.—Anon." Für die letzten beiden Zeilen krümmte Harry sich zusammen wie eine alte Frau mit Buckel, hob beide Hände wie über einen Hexenkessel und machte Hexbewegungen mit allen zehn Fingern, während er heiser krächzte: "Fair is foul, and foul is fair, Hover through the fog and filthy air." And then he cackled like a witch.[1]

"Aber im Ernst, das mit dem Blick, das geht wirklich nur einmal zwischen zwei Personen. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht noch einmal auslösen. Seht Ihr?"

Und Harry sah Henry geradewegs in die Augen. Oder versuchte es. Sein Blick zuckte immer wieder nach oben, unten oder zur Seite, weil er es einfach so gewohnt war. Schließlich hielt er mit einer Hand sein Kinn fest und kniff die Augen fest zusammen; so gelang es ihm dann tatsächlich, Henry länger anzusehen, bevor er halb verzückt, halb verlegen lachte.

"Also, ich finde, wir haben was zu feiern! Ihr braucht Euch nicht mehr zu entscheiden, welche Seite Ihr verraten müsst, und ich kann jemanden gerade in die Augen sehen! Da hol ich uns gleich noch zwei Whiskey. Pete hat übrigens auch einen Selbstgebrannten, der schmeckt Euch vielleicht besser als das Standardzeug."

Er erhob sich und tat zwei schwankende Schritte, bevor er sich an der Tischkante festhalten musste. Er blickte einige Male abschätzend zwischen dem Tresen—der ihm plötzlich sehr weit entfernt vorkam—und ihrem Tisch hin und her, bis er die Lösung gefunden hatte und sich seinen Zauberstaub schnappte. Er grinste. Dann wurde er ernst, als ihm eine zweite Idee kam.

"Wenn wir uns schon den guten Whiskey leisten wollen... Also, bei uns gibt es da so eine Tradition, Henry. Also, um ehrlich zu sein, würden die meisten Leute in heutiger Zeit das als eher als altmodisch ansehen, aber ich bin ein bisschen altmodisch—Ihr seid ja auch nicht gerade postmodern—und wo wir uns ja so ähnlich sind, dass wir fast Brüder sein könnten, und mit unseren Familien beide nicht ganz so viel Glück hatten... Na ja, also, hättet Ihr Lust, Bruderschaft mit mir zu trinken? Auf dass keiner von uns beiden seinen Whiskey je allein trinken muss? Den guten Whiskey hol ich unabhängig von Eurer Antwort", versicherte er rasch.[2]


 1. Wie lacht eine Hexe im Deutschen? Komme ich heute abend nicht drauf. Birne Matsch.
 2. P.S. Was immer du tust, ich muss nur im nächsten Post allein zum Tresen, den Whiskey holen... (um eine Auflage des SL zu erfüllen...)
« Letzte Änderung: 05.09.2014, 21:59:49 von Harry Webster »
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Paranoid? Probably. But just because you're paranoid doesn't mean that there isn't an invisible demon about to eat your face.

Henry

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« Antwort #23 am: 05.09.2014, 22:51:56 »
"Wirklich? Du kennst Shakespear? Und dann auch noch sein vielleicht bestes Stück: McBeth. Sag, wird es immer noch aufgeführt? Im großen Theater? Und unten steht das Gossenvolk und oben sitzt die Gentry? Ich würde es selbst gerne sehen.", erwiderte Henry erfreut.

"Bruderschaft? Also gut!", sagte Henry noch immer in wohliger Stimmung. "Hol' doch schon einmal die Gläser. Wenn wir ganz altmodisch sein wollen: Bei uns hat man sich immer noch den Respekt des anderen verdient, bevor man sich verbrüderte. Man hat sich gegenseitig auf die Schnauze gehauen. Die Iren sind ein lustiges Völkchen, aber manchmal auch etwas stumpf. Ich schätze, der Seelenblick soll uns beiden genügen, oder?" Harry war sich einen Moment lang nicht sicher, ob ihn Henry auf den Arm nehmen wollte[1]. Er entschied sich, jetzt die beiden Drinks zu holen.

Henry blickte Harry hinterher, wie er zum Tresen torkelte. "Captain, wir haben haben den Hafen verlassen und das offene Meer erreicht.", murmelte Henry amüsiert. Er selbst war mehr gewohnt als Harry und daher fühlte er sich noch einigermaßen gut. Lange würde er aber auch nict mehr brauchen, schätzte er.
 1. Falls Du einen Sense Motive machen möchtest: Nein, tut er nicht.
« Letzte Änderung: 06.09.2014, 00:33:09 von Henry »
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« Antwort #24 am: 06.09.2014, 00:11:44 »
"Shakespeare? Klar wird der noch aufgeführt. Auf der ganzen Welt! Und es gibt Filme. Das ist so etwas wie eine Aufführung, nur billiger. Oder ich würd' dich[1] auch in eine echte Aufführung ausführen, kein Problem, wenn du mir vorher hilfst, das Geld für die Karten zusammenzukratzen."

Henrys zweite Bemerkung—vonwegen was zu seinen Zeiten als Voraussetzung für eine Verbrüderung galt—brachte Harry zum Lachen. "Ha, der war gut! Ich seh' schon, du bist jemand, der seinen Humor nicht verliert, egal wie verfahren die Situation.[2] Ich zitiere zu einem solchen Zeitpunkt normalerweise uralte Filme, was auch witzig wäre, wenn die Leute nur verstehen würden, wovon ich rede. Aber jetzt hol ich erst mal den Whiskey."

Auf seinen Stecken gestützt schaffte Harry es unbeschadet an den Tresen, wo er in eine längere Verhandlung mit Pete trat, ob dieser ihnen noch ein allerletztes Mal zwei Whiskey anschreiben würde: erstens war St. Patrick's Day; Harry zweitens ein ehrlicher Mann, der seine Rechnungen stets bezahlte, egal wie spät; und drittens—was Pete schließlich überzeugte—musste es, um Bruderschaft zu trinken, tatsächlich der gute Whiskey sein.

Während Pete also mit Whiskeyflasche und Gläsern hantierte, fiel Harrys Blick auf eine schwarze Ausbuchtung im Holz der Theke vor ihm, etwa in Bauchhöhe. Nein, keine Ausbuchtung, da steckte etwas! Er bückte sich, um die Sache genauer zu untersuchen. Es schien sich um eine Münze zu handeln. Seltsam. Es sah fast so aus, als hätte sich diese Münze—wie ein Wurfstern, den jemand mit aller Kraft geworfen hatte—in das harte Eichenholz gebohrt. Sie fühlte sich warm an.

Eine antike Münze. Ob die etwas wert ist? Ist zwar nur aus Silber—komplett schwarz angelaufen—aber je nachdem, wie selten sie ist... bis zu 1000 Dollar wären da mit etwas Glück schon drin. Davon könnte ich, wenn schon nicht die Miete, dann wenigstens die Reparatur an meinem Käfer bezahlen... und die Rechnung hier im Pub! Obwohl, so schlecht, wie meine Aktien allgemein gerade stehen, ist's wohl eher eine Allerweltsmünze, die für schlappe fünfzig oder siebzig über den Auktionstisch geht. Aber wissen kann man's nie. Ich könnte ja auch einmal Glück haben!

Also versuchte Harry—sein Vater hatte ihn einmal einen hoffnungslosen Optimisten genannt—die Münze aus dem Holz zu ziehen. Sie steckte ganz schön fest. Das hatten wahrscheinlich schon ganz andere probiert, die da herauszuziehen, sonst würde sie wohl kaum noch stecken! Aber er ließ nicht locker. Jeder andere hätte längst aufgegeben aus Angst, sich noch lächerlicher als eh schon zu machen. Nicht Harry. Ihm war es egal, was andere von ihm dachten. So sagte er sich zumindest gern. Und er könnte einen kleinen pekunären Zuschuss wirklich gut gebrauchen.

Na, komm schon, du dummes Ding! Warum fühle ich mich gerade wie Klein-Artur aus der Disney Version, wie er sich abmüht, das große Schwert aus dem Stein zu ziehen? Was, bin ich es etwa nicht wert, Herrscher über alle Britonen zu werden? Na warte, wir werden schon sehen, wer hier seinen Willen durchsetzt!

Kaum hatte er dies gedacht, da löste sich die Münze mit einem Ruck, der ihn einen Schritt zurückstolpern ließ. Im gleichen Augenblick knallte Pete die beiden Whiskeys vor Harry auf den Tresen, sodass die Münze erst einmal in die Jackentasche wanderte, einer späteren Untersuchung harrend.

Harry schnappte sich die Whiskeys und schaffte es gerade noch bis an ihren Tisch zurück, bevor ihm plötzlich die Luft wegblieb, als wäre er in einen Tank mit Eiswasser getreten. Als nächstes wurde zuerst sein Kopf, dann sein ganzer Körper von einem unerträglichen Druck erfüllt—so musste es sich anfühlen, ohne Raumanzug durch die falsche Tür eines Airlocks zu spazieren—bevor ihm schließlich schwarz vor Augen wurde und er wie eine Marionette, deren Strippen zerschnitten wurden, zusammensackte. Das Zerbersten der Whiskeygläser hörte er noch; den eigenen Aufschlag spürte er nicht mehr. Davor spukte aber noch ein letzter Gedanke durch seinen Geist: Oh, great. I'm inside a guy who mixes his metaphors.
 1. So, du duzt mich ja schon seit dem Blick, für mich hat's das Vergeben gebraucht und die angenommene Bruderschaft.
 2. Sense Motive um 1 daneben  :P
« Letzte Änderung: 06.09.2014, 20:59:55 von Harry Webster »
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« Antwort #25 am: 06.09.2014, 20:04:44 »
Henry war seinen eigenen Gedanken nachgegangen, während Harry die beiden Whiskey besorgte. Er blickte erst wieder auf, als Harry zurückkam zum Tisch. "Du, sag mal, ist alles in Ordnung?", fragte Henry und runzelte die Stirn. Harry sah plötzlich so seltsam aus, so anders. Und plötzlich sackte Harry zusammen und drohte umzufallen. Henry sprang sofort auf, stieß mit dem Knie gegen die Tischplatte und die Whiskey-Gläser fielen herunter und zerbrachen auf dem Fussboden. Rechtzeitig bekam Henry Harry zu fassen, bevor dieser auf dem Boden aufschlug. Doch Harry schien unter Henrys Fingern immer leichter zu werden. Wenige Sekunden später hielt Henry nur noch ein Armband von Harry in den Fingern.

Die Wächter hatten die ganze Szene mitangesehen. Langsam und bedrohlich kamen sie auf den Tisch zu. Sie machten Henry Angst. Nach allem was Harry gesagt hatte, war mit den Männern nicht zu spaßen. Sie bildeten einen Halbkreis um Henry, sagten aber zunächst keinen Ton. Henry ronn der Schweiß herab.

Das war kurz bevor im Pub alle Glühbirnen zerplatzten und der Schankraum von einer undurchdringlichen Schwärze erfüllt wurde. Henry verlor erst seine Sicht, dann seine Orientierung und dann sein Bewusstsein.



Sankturio

Als Henry wieder erwachte, schwitzte er noch immer. Ihm war heiß und Sonnenlicht blendete. Henry realisierte, dass er auf sandigem Boden lag. Zwei behelmte Personen beugten sich über ihn. "... Er trägt nicht die Kleidung der Wüstenvölker. Vielleicht ist er aus Khanduras?", sagte die eine Person. "Keine Ahnung, von hier ist er jedenfalls nicht. Er ist völlig unpassend gekleidet für diese Gegend. Kein Wunder, dass er zusammengebrochen ist.", meinte die andere. "Still jetzt, ich glaube, er kommt zu sich.", unterbrach die erste Stimme die zweite.

"Was ist passiert? Wo bin ich? Wo ist Harry?", fragte Henry. Sein Kopf dröhnte.

"Wo Euer Gefährte ist, können wir nicht sagen. Wir haben Euch alleine gefunden, ein paar Meter weiter östlich. Jedenfalls, Ihr seid in Kehjistan, dem Großreich von Zakarum. Wie heißt Ihr?"

Henry richtete sich halb auf, indem er sich auf seine Arme stützte. Sein Kopf brachte ihn fast um. "Henry. Henry ist mein Name. Eben war ich noch in einer Schänke und dann ging das Licht aus und ich bin hier erwacht."

Die beiden Männer lachten schallend. "Oh ja, das ist mir auch schon oft passiert. Erst einen heben gehen, dann gehen die Lichter aus und plötzlich findet man sich allein und mittellos auf der Straße wieder." Die beiden Männer wechselten amüsierte Blicke. "Mann, Ihr könnt von Glück sagen, dass wir Euch zuerst gefunden haben. Am besten, Ihr kommt erst einmal mit uns. Hm, Ihr seht stark aus. Vielleicht könnt Ihr uns nützlich werden. Wenn ich Euch so ansehe, dann habt Ihr ohnehin keine Wahl. Nicht eine Münze hattet Ihr dabei."

"Zuerst gefunden? Wer hätte mich denn sonst finden können?", fragte Henry und versuchte, auf die Beine zu kommen. Die Männer halfen ihm und stützten ihn.

"Sandwürmer...", sagte der zweite Mann.

Henry wurde in einen nahegelegenen Tempel gebracht. Der Priester dort war sehr an Henry interessiert und nahm sich viel Zeit für ihn. Weil Henry nicht verstand, erklärte der Priester ihm alles, was er für's Erste wissen musste. Henry war in Kehjistan erwacht, in einer Welt, die sich Sankturio nannte[1]. "Dies ist ein Tempel von Zakarum, der großen Kirche des Lichts. Ihr habt sicherlich schon von ihr gehört. Vielleicht seid ihr selbst ein Zakarumnit?", sagte der Priester.

Henry musste zugeben, dass er noch nie von Zakarum oder der Kirche des Lichts gehört hatte.

"Oh, Ihr müsst wirklich von sehr weit herkommen. Das Licht Zakarums hat sich mittlerweile über fast die gesamte mittlere Welt ausgebreitet. Erst vor kurzem ist Fürst Leoric mit einer Heerscharr demütiger Streiter nach Khanduras aufgebrochen. Vielleicht seid Ihr aus Sharval?" Der Priester schien wirklich sehr an Henry interessiert zu sein. Seine Augen musterten ihn unentwegt. Auch die beiden gepanzerten Wächter am Ende des Raums beobachteten Henry aufmerksam.

"Ich weiß mittlerweile gar nichts mehr. Ist Zakarum Euer Gott?", sagte Henry müde.

"Nicht direkt. Unser Gott hat keinen Namen, aber er ist groß und mächtig. Vor fast hundert Jahren offenbarte der Erzengel Yaerius einem jungen Novizen namens Akara das Geheimniss des Lichts. In diesen Stunden findet eine große Schlacht zwischen den Mächten des Himmels und derer der Hölle statt. Die Engel werden die Finsternis zurückschlagen und ein ewiges Lichtreich errichten. Der Erzengel sagte auch, dass dies die Zeit der Menschen sei. Nun entscheidet sich, wer zum Lichtreich gehören und wer vernichtet wird. Darum gilt es nicht nur dem Bösen in einem selbst zu widerstehen, sondern auch selbst dem Bösen entgegenzustehen. Das Lichtreich ist nahe und der Frieden und die Freude wird unermesslich sein. Wer aber dem Bösen angehört, wird Pein in Ewigkeit haben. Wie hört sich das für Euch an? Glaubt Ihr, was ich sage?"

In Henrys Kopf schwirrten die Worte umher. Irgendwie hörte sich alles, was der Priester sagte, sehr vertraut an. Und gleichzeitig war es auch sehr fremd. Engel, das kommende Friedensreich und die Vernichtung der Höllenmächte, das klang ihm sehr vertraut. Es hätte eine Nacherzählung der Johannesoffenbarung sein können. Doch es war auch etwas anderes. Es war nicht die reine Botschaft Jesu, so viel konnte Henry sagen. Überhaupt, wie konnte man vom Friedensreich sprechen, ohne die Worte Jesu zu verwenden. "So etwas ähnliches habe ich schon gehört. Ich glaube, dass diese Welt und alles Böse in ihr vergehen muss. Und ich glaube, dass wir alle Kinder Gottes werden müssen, um gerettet zu werden.", antwortete Henry schließlich.

Der Priester sah zufrieden aus. "Ich habe sofort gespürt, dass Ihr der Wahrheit nicht fern seid. Die Entscheidung ist bereits gefallen. Wir werden Euch in den Orden der Aufgehenden Sonne aufnehmen. Ihr werdet der Welt ein Licht werden und Euer Lohn wird groß sein."

Henry antwortete nichts. Er wurde in den Orden aufgenommen und wurde ausgebildet. In dieser Zeit dachte er wenig an Shakespear. Die Ordensleute konnten die Genialität Shakespears nicht würdigen. Sie fanden ihn anstößig und obszön. Sie lachten nicht gerne, dafür übten sie sich im Kampf. Der Kampf war ihre Kontemplation. Immer wieder betonten sie, dem Bösen nicht ungerüstet entgegentreten zu können. Hand und Herz mussten gestählt werden für die Begegnung. Henry hatte noch nie Männer so kämpfen sehen. Die Clansleute in Irland waren während der Rebellion gegen König Henry wie wilde Berserker gewesen. Sie hatten keine Rüstungen und kämpften mit allem, was gerade zur Hand war. Formationen und Taktik waren nicht ihre Sache. Die einzige Taktik, die sie kannten, war der Überraschungsangriff. Die Ordensleute hier kämpften in geschlossenen Verbunden und gingen sehr diszipliniert vor. Sie waren gegen sich mindestens so unbarmherzig, wie sie es auch ihren Feinden gegenüber waren. Shakespeare mochten sie zwar nicht, dafür liebten sie aber die Gebete, die Henry ihnen aus seinem Glauben rezitierte. Sie mochten insbesondere die Psalemen und baten Henry, sie für sie aufzuschreiben. Nur die Bedeutung Jesu verstanden sie nicht. Und wenn Henry vom Heiligen Geist sprach, dann sagten sie, dass er sich nach Dienstschluss betrinken könne.

Mit der Zeit unternahm Henry immer seltener den Versuch, den Ordensleuten das Evangelium zu verkünden. Aber er hielt sie auch nicht für verloren. Letztlich waren die Gemeinsamkeiten von Christentum und Zakarum größer als die Unterschiede. Henry verstand es als ein Zeichen, dass die Zakarumniten von Himmel und Hölle, Engel und Dämonen und dem zukünftigen Friedensreich sprachen. Wenn sie auf die zukünftige Erlösung hofften - nunja, vielleicht wird Gott seinen Sohn auch eines Tages in diese Welt senden, so dachte Henry.

Dennoch waren die folgenden drei Jahre eine harte Lehrzeit für Henry. Nach seiner Ausbildung kam er mit vielen Dingen in Berührung, die er entweder für Aberglauben gehalten oder vor denen er sich gefürchtet hatte. Er wurde in eine Stadt jenseits des Meers entsandt, Luth Golein war ihr Name, und dort in der Garnison stationiert. Er lernte unterschiedliche Arten von Magie kennen, diejenigen die man fürchten musste und diejenigen, die auch die Zakarumniten benutzten. Er kämpfte gegen wilde Bestien, Banditen und musste auch feststellen, dass die Auferstehung von Toten nicht immer etwas Gutes war. Er fügte sich überdies nicht immer gut ein in die Reihen der Ordensleute, denn er bewahrte sich sorgsam Gnade und Barmherzigkeit in seinem Herzen auf. Henry wurde für seine Kampfkraft bewundert, aber letztlich schätzte man ihn als unzuverlässig ein. Darum bekleidete er auch nie einen der höheren Ränge und war lange Zeit ein einfacher Hauptmann der Stadtwache.

Mit der Zeit wurden die Angriffe der Wüstenbestien und der Untoten immer heftiger. Die Männer sprachen davon, dass etwas großen passieren würde. Die Mächte der Finsternis sammelten ihre letzten Kräfte, so hörte man. Kurze Zeit später wurde Henry damit beauftragt, die Kanalisation von Luth Golein nach einer untoten Bestie namens Radamant zu durchsuchen und das Böse zu vernichten. Eben kämpften sie gegen eine Gruppe von Mumien und Skeletten, da bemerkte Henry plötzlich ein wohlbekanntes Flimmern vor Augen. "Oh nein, nicht jetzt...", murmelte er. Dann verlor er das Bewusstsein.
 1. Das ist die Spielwelt der Diablo-Reihe. Diese Geschichte findet etwa ein Jahr vor den Ereignissen von Diablo 1 statt. Ich habe die Welt hier in den Grundzügen erläutert
« Letzte Änderung: 06.09.2014, 22:32:51 von Henry »
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« Antwort #26 am: 06.09.2014, 21:18:25 »

Jurij Klee
Es war ein sonniger erster Juni im Jahre 2030 in Berlin. Schon jetzt, vor der Mittagszeit dieses Samstages, waren über 28 Grad erreicht und keine einzige Wolke trügte den Himmel. Trotz der Hitze waren viele Menschen auf den Beinen. Es war der zweite Tag des Karneval der Kulturen, und im zehnten Jahr des Bestehens der großen Union sollte dieser traditionelle Umzug etwas Besonderes werden. Die ganze Stadt hatte sich herausgeputzt. Fast an jedem größeren Platz waren Bühnen aufgestellt worden und überall tanzten die Menschen zu Musik aus den verschiedensten Ländern. So auch am Urbanhafen.[1]

Vor dem großen Urbankrankenhaus war eine Bühne aufgestellt. Rechts und links davon reihten sich Feststand an Feststand. Das meiste was verkauft wurde war Essen, aber es gab auch Stände mit Teppichen aus der Türkei, Kleider aus Südamerika, Muscheln aus den Philippinen und noch viele andere Dinge.
Momentan war es verhältnismäßig ruhig auf den Platz. Die meisten Menschen waren entlang der Schlange von Festständen zur Gneisenauer Straße gefolgt. Dort sollten bald die ersten Festwagen vorbeikommen. Dennoch waren über hundert Menschen vor dem Urbankrankenhaus und auf der anderen Seite im Böcklerpark unterwegs. Viele von ihnen nutzten die Zeit um etwas zu essen und andere lauschten der traditionellen türkischen Musik von der Bühne.

Einer von ihnen war Jurij. Auf dem Rückweg vom morgendlichen Training im Dojo wollte er sich hier etwas zu essen besorgen. Natürlich hatte er schnell etwas Passendes gefunden. Ein afrikanischer Stand hatte einen Kochbananeneintopf verkauft. Mit dem Essen in seiner schwarz lackierten Schale hatte er sich dann auf die andere Seite des Landwehrkanals begeben. Direkt vor der Bühne war es für den Geschmack des jungen Mannes zu laut. Hier ließ er sich auf der Kaimauer mit dem Blick zur Bühne und dem Krankenhaus nieder. Er genoss das sehr würzige Essen und die Sonne welche seine Muskeln wärmte.
Seinen Rucksack und die Waffentasche mit den Karateutensilien hatte er neben sich auf die Mauer gelegt. Auch wenn seine Augen geschult waren, konnte er sie nicht überall haben. Schließlich war so ein Fest ein Paradies für Taschendiebe und beim Überqueren der nahen Admiralbrücke musste er lästigerweise einige Verkäufer von Zer und anderen Rauschmitteln mit einem bestimmten nein verscheuchen.

Nun egal. Das trübte seine Laune nicht. Nachher, wenn er seine Taschen weggebracht hatte, wollte er mit Martin noch einmal hierher. Sein bester Freund und Mitbewohner war gerade von einer Vernissage aus Bangkok zurückgekommen und holte den Schlaf der ganzen letzten Woche nach.

Gerade als er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte und das zufriedene Gesicht Richtung Sonne hob, stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase. Er brauchte eine Weile, dann fiel es ihm ein. Es roch wie Luft die von Blitzen durchzuckt wurde, nach Spannung. Fragend öffnete er wieder die Augen und suchte die Quelle dieses Geruches, doch weder Regenwolken waren am Himmel, noch schien es von der Bühne oder den Gründerzeitbauten hinter ihm zu kommen. Auch andere Menschen auf der Kaimauer hatten den sich sogar noch verstärkenden Geruch bemerkt. Keiner schien wirklich ausmachen zu können, woher er kam. Nervosität breite sich aus und die ersten verließen die Mauer. Auch Jurij machte sich gerade bereit zum Aufbruch.

~~~

Als Harry wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Sein Schädel brummte. Neben sich hörte er ein Stöhnen, welches ihm zeigte, dass es nicht nur ihm so ging. Mühsam drehte er sich auf den Rücken und hob den Kopf, doch konnte er den Blick, der sich ihm bot, nicht einordnen.



"Wo sind wir?" fragte Harry verwirrt. "Hat Pete uns rausgeschmissen?" Dann, panisch—denn es gab nur einen Grund, warum Pete jemanden hinausschmiss: "Hab ich angefangen zu zaubern? So betrunken kann ich doch eigentlich nicht gewesen sein!"
 1. Karte des Urbanhafens
« Letzte Änderung: 06.09.2014, 21:22:47 von Harry Webster »
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Henry

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« Antwort #27 am: 06.09.2014, 21:47:40 »
Als Henry wieder zu bewsstsein kam, hörte er eine lange nicht gehörte Stimme neben sich. Er blickte sich um und sah dann Harry. Er erkannte ihn sofort, denn er hatte sich nicht verändert. Henry wiederum hatte sich sehr verändert. Er trug die Rüstung der Ordensleute und führte den außergewöhnlichen Schild in Form einer Sonne.

Henry erfasste die Situation schneller, als Harry es tat. "Ich habe nicht gedacht, Dich wiederzutreffen. Himmel, Harry, gut Dich zu sehen. Wo sind wir diesmal gelandet? Egal, darum kümmern wir uns später. Wie ist es Dir ergangen? Du hast Dich nicht verändert. Hm... nicht einmal gealtert scheinst Du zu sein. Das... muss Magie sein.", Henry lachte herzlich. Dennoch, so schien es Harry, hatte sich der Mann, den er keine 5 Minuten vorher zum letzten Mal gesehen hatte, stark verändert. Er hatte noch immer diese gutmütigen Augen und jenes gewinnende Lachen, doch gleichzeitig war der Mann selbstsicherer geworden und strahlte eine gewisse Ruhe aus, welche auffiel. Harry war sich sicher, dass für Henry mehr als 5 Minuten vergangen waren.

Henry kramte in einem seiner kleinen Beutel am Gürtel und zog Harrys Armband aus Runensteinen hervor. "Hier, das trage ich schon eine Ewigkeit mit mir herum. Ich hatte fest gehofft, dass wir uns wiedersehen würden. Hab verdammt noch mal Recht behalten."
« Letzte Änderung: 06.09.2014, 22:08:32 von Henry »
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« Antwort #28 am: 06.09.2014, 23:09:35 »
"Was, wer, gealtert? Wieso... wir waren doch gerade erst... sind wir denn nicht mehr in...?"

Statt die Frage zu vollenden, setzte Harry sich lieber auf und blickte panisch umher.

"Mein Schildarmband", sagte er überrascht, als Henry es ihm hinhielt. Er griff automatisch danach, aber dann musterte er bloß verdattert sein rechtes Handgelenk, an welchem er das Armband normalerweise immer trug, sogar im Bett, und welches heute unerklärlicherweise armbandlos war.

"Wir sind nicht mehr in Chicago, nicht wahr? Aber wie... ich mein... sind wir...?"

Er unterbrach sein Gestammel, als er sich an etwas erinnerte. Ihm wurde schlecht.  Mühsam erhob er sich und durchsuchte dann mit fahrigen Händen sämtliche Innen- und Außentaschen seines schwarzen Ledermantels, von denen es gut ein Dutzend gab. Endlich fand er, was er gesucht hatte: aus der linken, unteren Außentasche zog er eine abgegriffene, schwarz angelaufene Silbermünze von etwa einem Zoll Durchmesser. Er ging einige Schritte auf den Kai zu, an welchem ein einzelner Mann saß und sie aus den Augenwinkeln zu mustern schien, doch Harry beachtete ihn nicht.

Er sah einen Augenblick die Münze an, dann Henry, dann holte er weit aus—mit dem falschen Arm, erkannte er rechtzeitig, dort hielt er ja noch sein Armband!—dann also mit dem anderen Arm, und warf die Münze in hohem Bogen in den nahen Fluss.

"Wie es mir ergangen ist?" fragte er kopfschüttelnd, während er die Stelle, an der die Münze untergegangen ist, im Auge behielt. "Aus meiner Sicht wollten wir gerade Bruderschaft trinken mit Petes gutem Whiskey. Und wieso redest du plötzlich von Magie, wo du das Wort vorher nicht über die Lippen gebracht hast? Zu 'ungewöhnlich', näher wolltest du sie nicht bezeichnen! Und den Pranger fandest du gerade recht für alle Zauberer! Aber wenn ich ehrlich sein soll, Henry, so siehst du hier einen ziemlich ratlosen Zauberer vor dir. Was immer soeben mit mir geschehen ist: Feenmagie war da nicht im Spiel. Irgend etwas anderes reißt uns durch die Gegend. Und vielleicht auch wieder durch die Zeit."

Nach diesem Worten griff er wieder in die linke, untere Außentasche und zog eine schwarze Münze hervor. Es war dieselbe, die er gerade erst in den Fluss geschmissen hatte.

Er schnaubte spöttisch. "Dieses Teil ist jedenfalls mal verflucht."
« Letzte Änderung: 07.09.2014, 12:04:56 von Harry Webster »
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Henry

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« Antwort #29 am: 07.09.2014, 01:11:05 »
Henry verzog nachdenklich den Mund. "So ist das also. Du wurdest geradewegs in diese Welt gespült und ich habe einen kleinen Abstecher nach Sankturio gemacht. Nur die Kurzfassung: Ich wurde drei Jahre lang in einem Orden ausgebildet und danach habe ich gegen wilde Bestien und wandelnde Tote gekämpft. Auch auf den ein oder anderen Zauberer bin ich getroffen. Nimm einen Rat von mir, lass ab von dem Teufelszeug. Am Ende werden sie doch alle wahnsinnig und wollen Dämonen beschwören und die Welt versklaven."

Henry trat zu Harry heran und blickte auf's Meer. "Drei Jahre bin ich dort gewesen und für Dich sind keine fünf Minuten vergangen. Ich habe versucht, herauszufinden, was mit mir geschehen ist, aber ich habe keine Antwort bekommen können.", sagte er nachdenklich. "Was auch immer diese Dimensionsreisen bewirkt, es muss sehr mächtig sein. Ich habe bisher nichts getroffen, was so viel Macht gehabt hätte. Vielleicht hätte der alte Horazon so viel Kraft gehabt. Aber dies sind alte Geschichten und keine Dinge dieser Tage. Heute werden die Schlachten nicht durch Macht, sondern durch Massen entschieden. Viele gute Kameraden sind gefallen. Aber ich merke gerade, ich rede, als ob ich noch in Sankturio wäre."

Henry klopfte Harry kräftig auf den Rücken. "Drei Jahre Zeitunterschied, Harry. Ich hoffe, das wird nicht zur Regel. Am Ende stünde ich als weißbärtiger Greis vor Dir und erzählte Dir Geschichten. Eins ist sicher: so jung kommen wir nicht mehr zusammen. Und Du hast auch schon das Stichwort gegeben. Wir wollten auf Bruderschaft trinken."

Harry stellte seinen Rucksack auf den Boden und kramte eine kleines Bündel hervor. "Du wirst es nicht glauben, aber ich habe noch den guten, alten irischen Whiskey dabei. Was hätte ich ihn alleine trinken sollen? Drei Jahre werden ihm gut getan haben, was meinst Du?" Henry entkorkte die Flasche und hielt sie Harry auffordernd hin. "Sláinte!"
« Letzte Änderung: 07.09.2014, 01:13:13 von Henry »
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