Harry sah dem davoneilenden Lehrmeister eine Zeit lang hinterher, sprachlos vor Verwirrung aber auch Enttäuschung. Verwirrt, denn statt seine Fragen zu beantworten, hatte Arisai ein Dutzend neue aufgeworfen; enttäuscht, da Harry, auch wenn er nicht verstand, wie so etwas möglich war—was, auf dieser Welt kann jeder Magie? Man braucht sie bloß, oder vielmehr muss man sie, lernen wie Mathematik?—so hatte er doch eines verstanden: die Magier hier im Haus, die waren nicht wie er.
Da hatte er doch tatsächlich geglaubt, hier unter seinesgleichen zu sein, sich endlich einmal, der Enge der Familie ebenso wie der Masse der Uneingeweihten entkommen, all der Ungläubigen daheim, die ihn bestenfalls für einen Spinner, schlimmstenfalls für einen Teufelsanbeter hielten, kurz: dass er sich endlich einmal mit Gleichgesinnten hätte austauschen können, vielleicht gar Freunde unter ihnen gewinnen und wenn auch nur, seiner Situation geschuldet, oberflächlich... doch nichts war damit!
Ein Außenseiter auch hier. Eine Seltenheit, die bestenfalls begafft würde. Er wusste schon, wie es sein würde, denn so kam es immer, wenn jemand ein natürliches Talent besaß, für das andere schuften mussten: aus Neid geborene Anfeindung und Geringschätzung würde ihn treffen. Wenn man sich überhaupt auf längere Gespräche mit ihm einließe, dann nur, um ihm klar zu machen, dass seine Art der Magie minderwertig sei, nur die ihre wäre die einzig wahre, die einzig logische oder einzig heilbringende oder einzig was-auch-immer!
Er zuckte traurig mit den Schultern. "Tja, das war wohl bloß ein schöner Traum", murmelte er bei sich.
Doch als Tai'Lor sich verabschiedete, riss Harry sich wieder zusammen. "Oh, aber denkt daran, ich muss pünktlich um zehn ins Bett, der Schönheitsschlaf, Ihr wisst schon. Und was Fragen angeht, ach, Fragen hätte ich mehr als irgendeiner mir Antwort geben könnte, und jede Antwort wirft bloß neue Fragen auf. Nein, das ist zwecklos, zu viel auf einmal wissen zu wollen, da warte ich lieber ab, ob Meister Arisai es nachher schafft, ein paar Lichter in meinem Dunkel zu entzünden.
Wegen der Tempelmorde wollte ich noch eine Sache erwähnen, wahrscheinlich ist es Quatsch, weil hier eh alles ganz anders funktioniert, oder Eure Gelehrten sind längst auf die Idee gekommen, haben sie überprüft und verworfen. Wie Ihr wisst, hab ich mich gestern abend nach der hiesigen Zahlenmystik erkundigt."
Harry senkte die Stimme und beugte sich vor, damit auch gewiss keiner im Vorbeigehen aufschnappte, was er sagte:
"Also, wenn wir bei mir daheim wären, tät ich mit einiger Sicherheit befürchten, dass die Abstände zwischen den Morden nun kürzer werden. Für ein Ritual, also beispielsweise ein Beschwörungsritual oder dergleichen, muss sich der Täter nämlich jetzt steigern. Drei Morde im Abstand von drei Tagen hat er bereits begangen, dann würden jetzt zwei in zwei Tagen Abstand folgen, ein letzter dann nach einem. Summa summarum, sechs Morde in zwölf Tagen. Ohne auf die Einzelheiten der irdischen Zahlenmystik einzugehen, wäre das eine sehr magische, sehr mächtige Kombination. Das heißt, die zwölf ist eigentlich heilig, nicht dämonisch, das wäre bei uns die elf, allerdings... unsere Gäste scheinen sich für Göttersprösslinge zu halten, so scheint es mir, oder gar selbst für Götter. Also vielleicht hat da sogar eine heilige Zwölf ihren Sinn. Und das ganze wäre auch mathematisch nett und adrett und wunderbar stimmig, wenn hier die Magie so wissenschaftlich ist."
Die Rede, obwohl flüssig, fast ein wenig zu schnell dahergesprochen, fiel Harry schwer. Eigentlich war er sich vollkommen sicher, dass er damit nur einmal mehr seine vor nichts Halt machende Unkenntnis über diese Welt demonstrierte, dass er hier schon wieder den Adepten gab, der mit naiv-dümmlichen Zwischenrufen die ernsthaft diskutierenden Professoren zu stören wagte...
"Wie gesagt, das ist wahrscheinlich entsetzlich dumm und zu simpel gedacht. Ich wollte es nur gesagt haben, nicht dass ich mich morgen früh ärger, wenn ich von einem weiteren Mord in der Nacht erfahre und mich fragen muss: hätt ich den vielleicht verhindern können."
Ich hasse es! Mir so dumm und hilflos vorzukommen! Jede Gewissheit in Zweifel ziehen zu müssen. Darf ich mir nicht einmal mehr sicher sein, dass zwei und zwei auf dieser Welt vier ergeben? Pah! Und Rillfarsells Elfengöttin nennt Henry 'den Verlorenen'!