Mit einem lauten Klirren gleitet das winzige Durchreichgitter am Boden der Gitterwand auf. Kaum eine Handbreit hoch und vielleicht derer vier breit, ist der sich dadurch öffnende Schlitz dazu gedacht, Nahrung und andere Kleinigkeiten an die Gefangenen reichen zu können, ohne dass mann die Gittertür als Gesamtes aufschließen muss.
Einer der Wächter - ein hochgewachsener, schlaksiger Elf mit hohen Wangenknochen und roten Haaren - schiebt ein halbes Laib Brot und eine metallene Schüssel mit Eintopf hindurch. Zerkochte Fleischbrocken schwimmen in der mattbraunen Brühe - Elrynor vermag nicht zu sagen, ob es Huhn, Kaninchen, Ferkel oder Reh ist. Reh ganz sicher nicht - derart edles Fleisch würde man nicht an einen Gefangenen verschwenden; selbst wenn der Gefangene einst der Sohn eines Edelmanns aus dem eigenen Stamme war. Huhn könnte es sein, oder Kaninchen, aber auch Fuchs, Hyäne oder Dachs. Wählerisch ist man sicher nicht gewesen. Der Wächter - Padraig heißt er - schließt das Durchreichgitter und wieder schneidet das Klirren durch die Ohren des Gefangenen. Elrynor sieht, wie er zur gegenüberliegenden Zelle schreitet und dabei eine Schüssel mit etwas aufnimmt, dass bestenfalls nach verwässertem Kot aussehen mag, und - da ist sich der Hexer sicher - auch nicht besser riecht. Das erinnert ihn daran, dass er es trotz allem immer noch besser getroffen hat, als sein Gegenüber.
Ein weiterer der insgesamt drei Wächter um die beiden Zellen schreitet durch sein Sichtfeld. Er sieht den Mann sich aufstellen, einen Pfeil anlegen, kurz zielen und dann selbigen abfeuern. Die aufgestellte Zielscheibe - wie er aus gelegentlichen Kommentaren des Schützen weiß, gut siebzig Fuß entfernt aufgestellt, liegt außerhalb des Bereichs, den er durch die eine Gitterwand seiner Zelle überblicken kann, doch am zufriedenen Grinsen des selbigen ist abzusehen, dass der Schuss gesessen haben muss. Auch das erinnert ihn daran, dass er es hätte schlechter treffen können.
Wie er aus dem Studium der Bücher weiß, waren die Gefängnisse der meisten Völker feucht und dunkel - oft als Verließe unter der Erde angelegt, mindestens aber hinter hohen und meist fensterlosen Mauern, wo man seine Zeit in triefender, kalter Dunkelheit verbrachte und Tag und Nacht zu einer einzigen, ewigen Dämmerung verschmolzen. Wo man weder die Sonne sehen, noch frische Luft atmen, noch irgendein Geräusch der Außenwelt wahrnehmen konnte. Das alles leuchtete Elrynor als Teil der Bestrafung der Eingekerkerten ein. Er hatte nie verstanden, warum sein Volk ein derart mildes Gefängnis für die eigenen Vebrecher errichtet hatte: zwei Zellen aus hellem Stein - beide knapp zwanig Fuß lang und sieben Fuß breit, mit einem Graben für die Notdurft an einer der kurzen Seiten. Beide Zellen standen in einem Abstand von ungefähr dreißig Fuß zueinander und hatten anstelle der steinernen Wand, stählerne Gitterstäbe auf den einander zugewandten Seiten, so dass die Wächter, die ihr Lager und ihre Feuerstelle inmitten aufschlugen, einen guten Blick auf die Gefangenen hatten. Die Zellen standen ansonsten frei im Wald - abgesehen von dem kleinen Wächterhäuschen etwa eine Viertelmeile von den nächsten Behausungen des Stammes entfernt, aber immerhin innerhalb des Perimeters der Wächter, die um Jaylin patroullierten und damit immer noch innerhalb der Siedlungsgrenzen; Jaylin hatte keine befestigten Mauern, doch den ständigen Patroullien um die Stadt herum entging nichts, und so bildeten deren Routen die inoffizielle Siedlungsgrenze, wie es anderswo Palisadenwände getan hätten. Wo die Männer von Shanahan patroullierten trennten sich Stadt und Wildnis voneinander. Und dennoch: durch die Gitterstäbe kam die frische Luft des Waldes - der Duft von Blumen und Tierdung ebenso, wie der Gesang der Vögel, das Zirpen der Insekten und das ferne Rauschen des Baches im Nordosten. Das Sonnenlicht weckte einen Morgens und die Sterne begleiteten einen Nachts. Alles Annehmlichkeiten, von denen Gefangene in echten Verließen nur träumen konnten - falls sie es denn konnten. Und obwohl Elrynor die Milde dieses Gefängnisses als freier Mann nicht uneingeschränkt gutheißen konnte, war doch nicht zu leugnen, dass sie ihm nun zum Vorteil gereichte.
Seit drei Wochen saß er nun schon in diesem Kerker. Einer Straftat beschuldigt, die er nicht begangen hatte. Fürst Adair machte doch tatsächlich seine Magieexperimente vor nun schon drei Jahren für sein schreckliches Leiden verantwortlich. Und das gestützt nur auf vage und unbewiesene Anschuldigungen aus alten Aufzeichnungen, wonach "unvorsichtiger Umgang mit der Magie zu Pandemie und Siechtum in der Gemeinde" führen könne. Eine absurde, nicht zu beweisende und auf tönernen Füßen stehende Anschuldigung - jedoch immer noch ausreichend, wenn Ankläger und Richter in einer Person zusammenfallen. Seinem Stand hatte er es wohl zu verdanken, dass er die Annehmlichkeiten dieses "Freiluftgefängnisses", wie er es früher scherzhaft getauft hatte, genießen durfte, anstatt von einem der Männer aus der Fürstenwache enthauptet worden zu sein.
In den gut zwanzig Tagen hatte er sich an das tägliche Ritual seiner Wächter gewöhnt. Es waren immer drei - stets zwei aus der Siedlungswache, der Truppe von Liam Shanahan; und seit seiner Einkerkerung einer aus der sechsköpfigen Fürstenwache, der Leibgarde von Declan Adair. Letztere waren allesamt so kaltherzig und elitär, wie ihr Kommandant und der Fürst, welchen sie bedingungslos ergeben waren. Alle in der Siedlung mieden die Blutumhänge, wie sie aufgrund ihrer auffalend roten Kapuzenumhänge genannt wurden; einem Statussymbol, dass sie von den Wächtern unterscheiden und allen klarmachen sollte, dass diese Männer nur den offenen Kampf wählen und keine Tarnung brauchen. Alle mieden sie, ja - und die Wächter beobachteten sie mit Argwohn und ohne Vertrauen. Letzterem mangelte es auch Declan Adair im Bezug auf die regulären Wächter und deren Kommandanten, wie man in Jaylin munkelte. Nachdem Shanahan einige Male sich öffentlich zurückgehalten hatte, wenn der Fürst neue Vorschläge und Anweisungen zur weiteren Abschottung von fremden Einflüßen vorbrachte, zweifelte Declan an der Loyalität des Kommandanten. Das war wohl auch ein Grund dafür, warum er es vorzog, einen aus seiner Leibgarde an den Zellen zu haben. Und hier wiederholte sich alles im Kleinen. Die beiden Wächter beobachteten den Blutumhang mit Argwohn, während dieser keine Möglichkeit vergab, seine beiden Begleiter von oben herab zu behandeln.
Als Padraig zur gegenüberliegenden Zelle tritt und den Durchreichschlitz aufschließt, wendet sich der Schütze an ihn. "Gib diesem Hund nur die halbe Portion. Diese Viecher sind auch so schon zäh genug. Wir müssen sie nicht auch noch mästen."
Padraig schaut daraufhin stumm zu seinem Kameraden, der am Feuer sitzt und seinen Blick erwidert. In den Augen des Rotschopfs ist Bitterkeit und Bedauern zu lesen, doch sein Waffenbruder deutet mit einer Seitenbewegung des Kopfes an, keinen Streit mit dem Fürstenwächter anzufangen. Daraufhin vergießt Padraig die Hälfte der stinkenden Brühe aus der Schüssel und stellt den Rest in die Zelle hinein. Er tritt zurück und einige Augenblicke später kommt die Elrynor inzwischen bekannte Gestalt aus den Schatten, die vor wenigen Tagen hergeschleppt und in die Zelle geworfen wurde. Ein stämmiger Krieger, mit wulstigen, beeindruckenden Muskeln, einem hart geschnittenen Gesicht und einer wild-lockigen, schwarzen Mähne. Ein Kargi-Krieger, wie aus den Gruselgeschichten für die Kinder des Dorfes, mit grünlicher Haut, wild brennenden, gelben Augen, hervorschimmernden Reißzähnen und üppiger Behaarung auf Brust, Unterarmen und -beinen; zwar nicht sonderlich hochgewachsen, jedoch mit dem breiten Kreuz eines Ochsen. Sein linkes Auge ist immer noch zugeschwollen und Blutergüsse zieren Gesicht und Körper. An seinem Gang ist zu sehen, dass mindestens eine Rippe gebrochen und noch nicht verheilt ist. Der Blick ist gehetzt; wie der eines in die Enge getriebenen Tieres. Und das stimmt ja auch. Auch wenn der Mann sich nun mit dem Gesicht voran hinkniet, die Schüssel aufnimmt und ohne den Rücken zu kehren, wieder in die Schatten zurückkehrt, hat Elrynor den Rücken des Kargi noch aus vorhergehender Beobachtung in Erinnerung und weiß um die roten Streifen, die von den Peitschenhieben der Fürstenwache und der weniger zarten Wächter zeugen. Auch das erinnert ihn daran, dass er es hätte schlechter haben können; aber das ist ein schwacher Trost für jemanden, der zu unrecht eingekerkert wurde vom eigenen Fürsten, den er darüber hinaus auch noch in dessen Politik unterstützt hat.