• Drucken

Autor Thema: Eine neue Ordnung  (Gelesen 24445 mal)

Beschreibung: Einstieg für Will und Arjen

0 Mitglieder und 2 Gäste betrachten dieses Thema.

Arjen Bucalo

  • Beiträge: 134
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #60 am: 08.11.2014, 13:21:23 »
Arjen sah, wie Luca die Tränen in die Augen stiegen. Und auch der unausgesprochene Satz sagte genug aus. Er stellte sich vor, wie es gewesen sein musste, als zwei Helfer, die mit ihm zusammen den Unterschlupf vorbereitet hatten, plötzlich wie Bestien über ihn und seine Kinder herfallen wollten.

Mit langsamen Schritten ging er zu Will und Angelo und griff dem entkräfteten Mann unter den Arm. "Lass es uns versuchen", sagte er zu dem Barden. Sollte Will einwilligen, würde er ihm helfen, den Mann auf die Tragfläche zu führen und dort dann Luca bei der Seilwinde unterstützen.

Dabei ging ihm jedoch auch eine weitere Aussage von Luca durch den Kopf. "'Wir waren glücklich im Wald, bis...' - heißt das, dass dieses Chaos nicht nur in Aradan herrscht, sondern überall in Liur? Oder gar darüber hinaus? Die Götter müssen wahrlich verrückt geworden sein", dachte er düster. Sobald sie auf der PLattform wären, hatte er vor, Luca zu fragen, aber erstmal mussten sich seine Begleiter dazu entschließen.
« Letzte Änderung: 08.11.2014, 13:21:34 von Arjen Bucalo »

William Marlowe

  • Beiträge: 489
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #61 am: 08.11.2014, 14:02:41 »
Gute Vorstellung, dachte Will. Vielleicht sogar die Wahrheit. Wenn nicht, werden wir's bald merken. Wenn doch... dann habe ich womöglich ein ganz anderes Problem am Hals. Wie wird Luca wohl reagieren, wenn er erfährt, weswegen ich drei Jahre lang in einem Straflager Steine geklopft habe? Wenn Angelo erst wieder klar im Kopf ist, wer weiß schon, was er dann noch alles ausplaudert? Zweimal hat er die Sache schon angedeutet und meinen vollen Namen gleich als erstes ausposaunt, nachdem ich mich vorsichtig nur als Will vorgestellt hatte. Vielleicht reicht ja auch mein Name allein. Vielleicht hat Luca seinerzeit, wenn er doch einmal in Aradan war, um Vorräte aufzufrischen oder was auch immer, doch etwas von dem Skandal mitbekommen, der immerhin über Wochen Stadtgespräch war. Ja, und was wird ein Vater von zwei Töchtern schon tun, wenn er erfährt, dass er sich einen verurteilten Vergewaltiger ins Haus geladen hat?

Will hatte eine Vision—eine sehr kurze Vision—wie ein buntgekleiderter Mann von einem vierstöckigen Gebäude in die Tiefe stürzte und gleich hier vor seinen Füßen auf dem Steinboden aufschlug, dass die Knochen nur so barsten und der Kopf wie eine Melone platzte.

Doch hier stehen bleiben konnte Will auch nicht. Er sah Arjen an und nickte zögernd seine Zustimmung. Dann traten sie zu dritt auf die Plattform zu.
Hell hath no limits, nor is circumscribed
In one self place, for where we are is hell,
And where hell is must we ever be.

Sternenblut

  • Moderator
  • Beiträge: 7375
    • Profil anzeigen
    • Aradan - Stadt der Toten
Eine neue Ordnung
« Antwort #62 am: 08.11.2014, 17:35:27 »
Und so stiegen die Männer gemeinsam auf die Plattform, die Luca - angeblich, wenn Wills Befürchtungen stimmten - gebaut hatte. Bei näherer Betrachtung wurde die Geschichte realistischer: Die Metallplatte schwankte stark hin und her, wenn sie an den Seilen zogen, geriet auch schnell in Schieflage, und einige Male rutschten sie wieder ein Stück abwärts, nachdem sie sich mühsam hochgearbeitet hatten. Luca lächelte schief. "Es ist noch nicht ganz ausgereift. Aber es funktioniert."

Und so ließen sie Stockwerk für Stockwerk hinter sich. Schließlich kamen sie dem obersten Stock näher, und dann, endlich, konnten sie Stück für Stück die Etage sehen. Wills Zweifel waren bis zuletzt geblieben - waren sie in eine Falle geraten? Erwartete sie hier eine Meute Schläger?

"Alles in Ordnung! Ich habe Freunde mitgebracht!" sagte Luca laut genug, um oben gehört zu werden. Der Wind pfiff hier stark um ihre Ohren, und ließ die instabile Plattform noch mehr schwanken. Dennoch war die Reaktion derer, die sie oben erwarteten, deutlich zu hören. "Papa! Papa!" hörten Will und Arjen die Stimmen zweier Mädchen - Kinder, ihren Stimmen nach zu urteilen.

Und dann kamen sie oben an. Zwei Mädchen, Will schätzte sie auf etwa sechs und acht Jahre, rannten auf sie zu, und als Luca von der Plattform trat, umarmten sie ihren Vater sofort.

Die Etage selbst war geräumig: Es gab keine abgetrennten Räume, auf der Fläche von gut zwölf mal zwölf Metern standen ein halbes Dutzend Betten, einige kleine Schränke, Fässer und ähnliches.
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

William Marlowe

  • Beiträge: 489
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #63 am: 08.11.2014, 19:59:24 »
Als Will die beiden Mädchen sah, hellte sich sein Gesicht auf. Das waren ja noch Kinder! Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Mit Kindern kannte er sich aus, da kam er gut mit aus. Da konnte ihm auch keiner eine Missetat nachsagen.

"Hallo ihr zwei! Ich bin der Will. Und wer seid ihr? Da habt ihr ja ein richtiges Baumhaus hier, einfach famos. Sagt, welches Bett ist denn noch frei, wo dürfen wir unseren erschöpften Kameraden hier ablegen?"
Hell hath no limits, nor is circumscribed
In one self place, for where we are is hell,
And where hell is must we ever be.

Sternenblut

  • Moderator
  • Beiträge: 7375
    • Profil anzeigen
    • Aradan - Stadt der Toten
Eine neue Ordnung
« Antwort #64 am: 08.11.2014, 23:00:09 »
Die jüngere der beiden klammerte sich noch an ihren Vater. Sie hatte langes, rotblondes Haar, und trug ein dreckiges Sommerkleid mit rot-weißen Längsstreifen. Ihre Schwester trat einen Schritt von Luca zurück, hielt aber eine Hand um die Hüfte ihres Vaters. Ihre Haare waren ebenfalls rotblond, aber kurz geschnitten. Im Gegensatz zu ihrer Schwester trug sie ein kariertes Baumwollhemd und eine braune Stoffhose.

Sie hob leicht ihre Hand, und lächelte schüchtern. "Hallo. Unsere Betten sind da hinten an der Wand. Die weiter im Raum sind wieder frei. Ich bin Lissa."
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

William Marlowe

  • Beiträge: 489
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #65 am: 08.11.2014, 23:36:48 »
"Lissa? Das ist..." Will schluckte. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals. "Das ist ein sehr schöner Name. Meine Ge— meine beste Freundin heißt Lissie. Und du bist genauso mutig wie sie. Wenn du etwas älter bist, schenk ich dir 'ne Bratpfanne."

Bevor er erklären konnte, was es mit der Bratpfanne auf sich hatte, brabbelte Angelo etwas Unverständliches vor sich hin und sackte dann stöhnend in die Knie. Will und Arjen schleiften ihn zum nächsten Bett und ließen ihn daraufplumpsen. Sofort legte Will seinen Kostümsack ab, kramte abermals den Wasserschlauch hervor sowie etwas Brot und setzte sich auf die Bettkante. Erst flößte er Angelo etwas Wasser ein, dann versuchte er sein Glück mit dem Brot, wobei er nur das Weiche verwandte. Dabei redete er die ganze Zeit beruhigend auf den Mann ein.

"So, mein Freund. Nun sind wir in Sicherheit. Und nachdem Ihr mir erzählt habt, was Ihr alles für mich getan habt, ohne dass ich es je ahnte, lasst mich etwas für Euch tun. Aber dabei müsst Ihr mir auch helfen. Mund aufmachen, kauen, schlucken... so ist's gut. Wir sind hier unter Freunden, klar? Jeder wird gebraucht. Jeder hilft dem anderen. Keiner gibt auf. So, und darauf trinken wir jetzt noch einmal."
« Letzte Änderung: 08.11.2014, 23:41:08 von William Marlowe »
Hell hath no limits, nor is circumscribed
In one self place, for where we are is hell,
And where hell is must we ever be.

Sternenblut

  • Moderator
  • Beiträge: 7375
    • Profil anzeigen
    • Aradan - Stadt der Toten
Eine neue Ordnung
« Antwort #66 am: 09.11.2014, 10:32:17 »
Während Will sich um 'Angelo' kümmerte, ging Luca zu einem der Schränke im hinteren Bereich, holte einen kleinen Tonkrug hervor, entkorkte ihn und goss etwas Flüssigkeit in einen Zinnbecher auf einem nahen Schreibtisch. Anschließend füllte er den Becher mit Wasser aus einer ebenfalls zinnenen Karaffe auf.

"Gebt ihm das", ordnete Luca an, während er auf Will zuging. "Es stärkt ihn gegen Krankheiten. Er ist so schwach, wenn er jetzt krank wird, könnte ihn das töten."

Angelo, der etwa die Hälfte von dem angenommen hatte, was Will ihm gegeben hatte, lag nun halb liegend, halb sitzend auf dem Bett, die Augen ins Leere gerichtet. "Es schmeckt nicht besonders. Ihr müsst ihn vermutlich zwingen, es zu trinken. Ihr wisst schon, Mund auf, Trunk rein, Nase zu. Er muss es ganz auftrinken, ich habe nicht mehr viele Vorräte."
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

Arjen Bucalo

  • Beiträge: 134
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #67 am: 09.11.2014, 10:46:38 »
Die ganze Zeit auf der hochfahrenden Plattform versuchte Arjen die Anspannung hoch zu halten. Auch wenn er Luca glaubte, waren da immer noch die Instinkte des Soldaten, die zur Vorsicht mahnten, zur Sachlichkeit. Dann rief Luca seine Töchter und helle Mädchenstimmen antworteten ihm. Als Arjen ihren Klaing hörte, durchfuhr ihn dieser bis ins Mark.

Dann kamen sie oben an und er sah, wie die beiden auf ihren Vater zuliefen und ihn umarmten. Der Krieger half Will mit automatischen Bewegungen, Angelo auf dem Bett abzulegen. Doch dann konnte er nicht anders als reglos und stumm darzustehen und sich die Mädchen anzusehen. Nachdem er den Mörder seiner Familie getötet hatte, war er sofort festgenommen worden. Es war das erste Mal seit dem Tod von Frau und Sohn, dass er wieder Kinder sah und Kinderstimmen hörte.

"Lukas..." murmelte er kaum hörbar mit bebender Stimme und schaute weiter auf die beiden. Vor seinem geistigen Auge erschien sein siebenjähriger Junge, der genau wie die beiden Mädchen freudestrahlend auf der Plattform stand. Arjen blinzelte, um das Bild besser fokussieren zu können. Auch wenn er wusste, dass es ein Trugbild war, wollte er diesen Eindruck so lange es ging, festhalten. Da stand sein Junge und lächelte ihn an. Abermals blinzelte der Krieger - nur um die Auge zu schließen und den Blick abrupt abzuwenden. Lukas' Gesicht hatte sich in das des braunhaarigen Mädchens verwandelt - von damals, dem nebligen Novembermorgen. "Ihr Götter - ich dachte, dieses Bild hätte ich tief genug begraben", schoss es ihm durch den Kopf.

Mit einem Schütteln vertrieb der Krieger die Gedanken, in der Hoffnung, dass sein kurzer Aussetzer nicht allzu sehr aufgefallen war. Er versuchte sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, wo Luca gerade Will half, Angelo zu verarzten. "Ihr wart ehrlich zu uns, Luca", sagte er zu ihrem Gastgeber. "Entschuldigt, dass wir Zweifel hatten. Und habt dank für Eure Hilfe" Während er sprach, sah er, dass bei Angelo wohl seine Hilfe nicht mehr gebraucht wurde. Also trat der Krieger an einen Rand der Plattform und versuchte sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen, doch er konnte sich nicht so recht konzentrieren. Einmal hing ihm immer noch der Schock der Trugbilder nach, und da war auch Lucas Aussage von vorhin, die ihn nicht losließ.[1]

Also gab der Krieger den Versuch auf und sprach die Frage laut aus, die ihm auf der Seele lag. "Ihr sagtet vorhin, dass ihr vorher im Wald gelebt habt, "bis...". Was meintet ihr damit? Heißt das, dass diese Seuche, die die Menschen in Untote verwandelt auch außerhalb der Stadt tobt?"
 1. Perception: 3
« Letzte Änderung: 09.11.2014, 10:49:30 von Arjen Bucalo »

Sternenblut

  • Moderator
  • Beiträge: 7375
    • Profil anzeigen
    • Aradan - Stadt der Toten
Eine neue Ordnung
« Antwort #68 am: 09.11.2014, 11:02:59 »
Luca sah Arjen einige Sekunden schweigend an, als dieser seine Frage gestellt hatte. Jedes Lächeln, jede Freude war nun aus seinem Gesicht verschwunden. "Lissa, gehst du rüber zu euren Betten und erzählst deiner Schwester die Geschichte vom Einhorn?"
Lissa sah ihren Vater an, und wollte zunächst widersprechen. Dann aber nickte sie nur, und nahm ihre Schwester an die Hand. "Komm, Ani. Ich erzähl dir eine Geschichte."

Die beiden Mädchen gingen in den hinteren Bereich des Raums, und Luca setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Er schien plötzlich sehr erschöpft.

"Wir hatten eine Hütte im Wald. Die Mädchen, ihre... ihre Mutter und ich. Eines Morgens wachte ich auf, weil wir draußen Geräusche hörten. Ich ging zur Tür, Helena zum Fenster. Plötzlich schrie sie auf. Sie hatte einen Fensterladen leicht geöffnet, nur um nachzusehen, und..."

Lucas Hände zitterten, als er erzählte. Er biss die Zähne aufeinander, und atmete mehrfach heftig ein und aus. "Sie haben sie durchs Fenster gezogen. Sekunden später hörten ihre Schreie auf. Wir hatten ein Versteck, für Notfälle, unterhalb des Bodens. Ich bin mit den Mädchen runter, bis es draußen ruhig wurde. Wir flüchteten nach Aradan, gut eineinhalb Tagesreisen entfernt. Am Morgen, als wir ankamen, war die Stadt seit einigen Stunden gefallen."
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

Arjen Bucalo

  • Beiträge: 134
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #69 am: 09.11.2014, 12:48:13 »
Als Arjen die heftige Reaktion des Mannes sah, rügte er sich innerlich für die Direktheit, mit der er die Frage gestellt hatte. "Ich habe auch meine Frau verloren", gab er plötzlich zu - er wusste nicht genau, warum er diesem Mann, den er fast gar nicht kannte, das erzählte, aber irgendwie konnte er nicht anders. Als er Lucas fragenden Blick sah, verneinte er mit einem Kopfschütteln. "Nein - nicht die Untoten. Es geschah vor zwei Monaten - ein Monster in Menschengestalt, ja, aber ein lebendiges."

Der Krieger schaute über die Schulter und sah die beiden Mädchen, wie Lissie Ani gerade eine Geschichte erzählte. "Ihr habt wunderschöne Töchter", sagte er. "Mein Sohn wäre jetzt ungefähr in ihrem Alter gewesen, doch er starb mit seiner Mutter. Ihr habt das Glück, dass eure Töchter leben, und ihre Mutter durch sie ebenfalls."

Dann fiel Arjens Blick auf Will und Angelo, und ihm wurde bewusst, dass er wohl laut genug gesprochen hatte, dass neben Luca auch die beiden ihn hätten hören können. Unbewusst strafften sich seine Züge. "Wie geht es euch?", fragte er in richtung Angelo, doch der fragende Blick, der auf Will ruhte, machte deutlich, dass die Worte wohl eher an den Schauspieler gerichtet waren.
« Letzte Änderung: 09.11.2014, 12:49:01 von Arjen Bucalo »

William Marlowe

  • Beiträge: 489
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #70 am: 09.11.2014, 13:57:24 »
Will roch an dem Gebräu, das Luca ihm reichte, und verzog das Gesicht. "Das wird lecker, Freund", sagte er und leckte sich die Lippen, bevor er sich über Angelo beugte und leise rezitierte: "Natterzung' und Spinnenbein, // Fliegenflügel, Gänseklein, // Kommt alles in den Topf hinein. // Egelblut und Rattenschwanz, // Tollkirsch, Faulwurz, Teufelsglanz, // Dreimal geht herum mein Tanz. // Brodel, Kessel, zisch und spei, // Dass mein Hexentrank bald fertig sei!"

Dann hielt er Angelo den Becher an die Lippen und bat ihn noch einmal direkt und inständig, doch bitte brav zu schlucken[1], doch sollte Angelo sich wehren, würde er ihm halt, wie Luca vorgeschlagen hatte, die Nase zuhalten und hoffen, dass das Zeug dem armen Kerl nicht den Magen umdrehte und alles wieder hochkäme.

Während Angelo sich würgend mit dem Trank abmühte, lauschte Will dem Gespräch der beiden anderen, welches sich—unweigerlich vielleicht—dem Thema Familie zuwandte. Und dann war es Wills Magen, der sich umdrehte: der eine hatte seine Frau, der andere gleich die ganze Familie verloren. Wie hohl mussten Wills aufmunternde Worte in ihren Ohren klingen! Doch war Hoffnung am Ende nicht genauso schrecklich? Der Gedanke, dass Lissie da draußen war, allein mit den Kindern... die Vorstellung, jeden Augenblick könnte einer von ihnen oder auch alle gefressen oder gebissen werden...

Will begriff nicht sofort, dass Arjens Frage an ihn gerichtet war.

"Lissie und die Kinder sind irgendwo da draußen", sagte er dann. "Ich war unterwegs, als... Aber ich mach mir keine Sorgen. Lissie hat ihre Bratpfanne dabei. Was redet der Mann da? fragt ihr, ist sein Verstand schon dahin? Aber ihr habt Lissie noch nie eine Bratpfanne schwingen sehen. Als ich sie kennengelernt habe, hat sie mir damit um ein Haar den Schädel eingeschlagen, und ich kann mich viel schneller wegducken als so ein Wiedergänger. So einer hätte keine Chance!"

Doch kaum hatte er geendet, wurden seine Augen schreckensweit. "Wenn ihr etwas zustößt... wenn ich sie niemals wiederseh..." Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie einen Blitz. "Sie ist die erste Frau, die... die erste Frau, die..." Er konnte den Satz nicht einmal zu Ende denken, geschweige denn sprechen. Wozu auch? Es war ja zu spät. "Wenn ich es ihr bloß gesagt hätte, vor drei Nächten. Da hab ich's schon gedacht. So was ähnliches jedenfalls. Sie hätte es verstanden."

Etwas verspätet bemerkte er, dass sein Gesicht glühend heiß war—und damit wohl auch feuerrot—und er beugte sich rasch wieder über Angelo.
 1. Diplomatie = 17
« Letzte Änderung: 09.11.2014, 14:02:00 von William Marlowe »
Hell hath no limits, nor is circumscribed
In one self place, for where we are is hell,
And where hell is must we ever be.

Sternenblut

  • Moderator
  • Beiträge: 7375
    • Profil anzeigen
    • Aradan - Stadt der Toten
Eine neue Ordnung
« Antwort #71 am: 09.11.2014, 14:47:01 »
Luca seufzte. "Vor alledem hier habe ich als Druide in den Wäldern gelebt. Ich kümmerte mich um das Gleichgewicht der Natur. Die Bewahrung der Ordnung. Doch nun herrscht eine neue Ordnung. Neue Regeln. Wir konnten vieles nicht tun, was wir gerne getan hätten, und wir sind gezwungen, Dinge zu tun, die wir lieber nicht tun würden." Sein Gesicht verzog sich. "Als sich einer unserer ersten Begleiter verwandelte... ich hatte keine Bratpfanne, nur einen schweren Stein, der hier herumlag."

Er schüttelte den Kopf, als wolle er damit die Bilder in seinem Geist loswerden. "Ich weiß nicht, ob das, was geschehen ist, nur hier in Aradan und der näheren Umgebung von Liur geschehen ist. Oder ob... ob es weiter reicht. Aber hier, an diesem Ort, gelten neue Regeln, und wir werden nur überleben, wenn wir uns damit abfinden. Ich spreche nicht nur von Notwendigkeiten. Als Druide... ich spüre, dass die Welt sich verändert hat. Was immer geschehen ist, geht viel tiefer, als nur das Erwecken der Toten aus ihren Gräbern." Sein Blick fiel auf seine Töchter. "Jeder muss entscheiden, was seine Prioritäten sind."
« Letzte Änderung: 09.11.2014, 14:48:36 von Sternenblut »
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

William Marlowe

  • Beiträge: 489
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #72 am: 09.11.2014, 16:27:47 »
"Prioriäten", sagte Will. "Das setzt voraus, dass man sich schon über mehr als den nächsten Augenblick hat Gedanken machen können. Bei Euch mögen die Prioritäten offensichtlich sein, aber bei mir... ich wüsst', wie gesagt, nicht 'mal, wo ich anfangen sollte mit der Suche."

Falls es Angelo für den Augenblick gut gehen sollte, würde Will sich erheben und ans nächste Dachfenster treten und ebenfalls einen Blick über die Stadt werfen. Würde er sie in ihrem neuen Gesicht überhaupt wiedererkennen? So viele Wahrzeichen und Erkennungsmerkmale waren verbrannt und eingestürzt. Würde er überhaupt den ungefähren Standort des Waisenhauses von hier aus erraten können?[1] Was gab es dort in der Nähe, wohin mochte Lissie mit den Kindern geflohen sein? Sie würde vielleicht so wie Luca denken: an die kleinen, weniger offensichtlichen Schlupfwinkel, nicht die großen, an die jeder denken würde. Aber es musste Platz für zwanzig Kinder sein. Was gab es da?[2] Doch Wills Gedanken waren viel zu wirr und sein Blick verschleiert.

"Wie meint Ihr das, Ihr spürt, dass die Welt sich verändert hat? Was hat sich verändert? Mein erster Gedanke war, dass die Götter uns verlassen haben oder gar bestrafen wollen, aber als Angelo vorhin zusammenbrach, habe ich meine Götter um Hilfe angerufen, und sie haben geantwortet. Also zumindest Zida und Neodor haben uns nicht verlassen."
 1. perception = 12
 2. knowledge (local) = 7
« Letzte Änderung: 09.11.2014, 16:53:45 von William Marlowe »
Hell hath no limits, nor is circumscribed
In one self place, for where we are is hell,
And where hell is must we ever be.

Sternenblut

  • Moderator
  • Beiträge: 7375
    • Profil anzeigen
    • Aradan - Stadt der Toten
Eine neue Ordnung
« Antwort #73 am: 09.11.2014, 20:51:29 »
Nachdem Will Angelo den Trank aufgezwungen hatte, schlief dieser kurz darauf ein. Zuerst atmete er heftig; dann wurde er ruhiger und schien in einen tiefen, erholsamen Schlaf zu sinken.

Als Arjen die Ruinenstadt betrachtet hatte, waren seine Gedanken zu verstreut, um wirklich zu sehen, was vor ihm lag. Will betrachtete die Stadt etwas genauer - wenn auch seine Aufmerksamkeit nicht gänzlich den Resten der Schillernden Stadt galt. Von hier oben aus wirkte die Verwüstung fast noch schlimmer, als wenn man durch die Straßen lief. Will sah nicht nur die verwüsteten Häuser um sich herum; er konnte sehen, wie sich die Zerstörung über die Weite der Stadt erstreckte. Und überall lagen sie, wie Murmeln, die ein unachtsames Götterkind verloren hatte: Die toten Körper der Menschen, Elfen und anderer Völker, die einst hier gelebt hatten. Ebenso wie die toten Körper jener Wanderer, die schließlich durch das Feuer umgekommen waren.

Schwarz vor Ruß und ausgebrannt, in sich zusammengestürzt, leblos: Aradan sah aus, als hätte eine Armee roter Drachen die Stadt dem Erdboden gleich gemacht. Die Vernichtung war absolut. Eine halbe Million Einwohner, Reisende nicht mitgerechnet, waren gestorben. Kaum mehr als eine Handvoll schienen überlebt zu haben. Zumindest soweit sein Blickfeld es zuließ, konnte Will nichts erkennen, was wie ein Rückzugsort der letzten Streiter aussah, eine Festung, in der sich die letzten paar tausend Überlebenden zurückgezogen hatten. Vermutlich, weil es so etwas nicht gab.

Sicher, es gab das eine oder andere Gebäude, in dem vielleicht noch jemand überlebt haben mochte; irgendwo in der Ferne konnte Will das berüchtigte Sanatorium von Aradan erkennen, in einer anderen Richtung die legendäre Festung des Schwertmeisters Ashan (ein Mann, dessen Leben man ohne viel umzuschreiben in gleich ein Dutzend Theaterstücke hätte verarbeiten können). Doch ob dort irgendwo tatsächlich noch jemand lebte, konnte Will nicht sagen.

Er ahnte, in welcher Richtung das Waisenhaus liegen musste, doch wo genau, ließ sich von hier schwer sagen. Es war auf jeden Fall eine weitere Reise, irgendwo zwischen zwei und vier Stunden, wenn man die neuen Gegebenheiten in der Stadt mit rechnete. Denn immer wieder musste man umkehren, neue Wege finden, weil irgendwo eine Straße versperrt war oder einem eine Horde entgegen kam.

Schließlich gab er es auf: Welches Mauseloch sich Lissie und die Kinder auch gesucht hatten - er konnte nur hoffen, dass sie eines gefunden hatten -, von hier aus würde er sie nicht finden.

Luca schüttelte mit dem Kopf. "Es lässt sich schwer erklären. Die Götter sind noch da, Magie funktioniert noch immer, ohne jede Veränderung. Aber..." Er kaute einige Sekunden auf seiner Unterlippe, und schien dabei nach den richtigen Worten zu suchen. "In der Welt, in der wir noch vor wenigen Tagen gelebt haben, waren die Kreaturen, die die Stadt verwüstet haben, etwas Widernatürliches, etwas, was das Gleichgewicht gestört hat. Etwas, das nicht sein sollte. Wir selbst mögen es immer noch so empfinden, weil wir aus dieser Welt kommen. Doch in der neuen Ordnung... sie sind ein Teil der Welt, sie gehören hier her. Das ist, was ich gespürt habe. Was das über diese Welt sagt..."

Er ließ seinen Satz unvollendet. Sein Blick wanderte wieder zu seinen beiden Mädchen. Ani lag inzwischen im Bett, ihren Kopf auf dem Schoss ihrer ältern Schwester, die Augen kurz davor, ganz zuzufallen.
"Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realismus." - Alfred Hitchcock

Arjen Bucalo

  • Beiträge: 134
    • Profil anzeigen
Eine neue Ordnung
« Antwort #74 am: 10.11.2014, 09:09:40 »
Als Arjen Wills Ausbruch hörte - mehr eine Art Geständnis, als eine Aussage, musste er den Blick wieder abwenden. All diese Tage und Wochen seit dem Tod seiner Familie hatte er immer wieder wiederholt, dass er alles dafür geben würde, wenn nur Diana und Lukas am Leben wären.

Doch - jetzt, in diesem Zeiten - war der Tod nicht ein gnädigeres Schicksal, als die ungewisse Flucht vor den Wanderern, während die ganze Welt, wie Luca sagte, im Wandel schien. "Nein", dachte er trotzig. "Ich würde viel dafür geben, wenn Diana und Lukas nun Zusammen mit Wills Familie da draußen wären - am Leben, und möge die Chance noch so klein sein."

Er trat an Will heran und schaute mit ihm über die Stadt. "Wahrscheinlich haben sie sich ebenfalls einen Unterschlupf gesucht, wie wir. Wenn du sie suchen willst, dann helfe ich dir. Aber erstmal müssen wir uns darüber klar werden, wo wir sie überhaupt in Sicherheit bringen könnten."

Arjen war nie der große Redner gewesen und das wurde ihm wieder bewusst. Seine Worte klangen sachlich - so, als würde er einen Schlachtplan entwerfen. Er wusste, dass in solchen Augenblicken emotionaler Beistand gefragt war und weniger sachliche Ratschläge, und mochten sie noch so gut sein. Das hatte ihm auch Diana oft genug gesagt, wenn er wieder Mal Lösungsvorschläge für Probleme unterbreitet hatte, anstatt sie einfach zu trösten. Aber so war er nun einmal, das ließ sich nicht ändern. Er hoffte trotzdem, dass seine Worte Will ein wenig halfen.

Er wandte sich an Luca und sagte. "Ihr sagtet, dass ihr nicht mehr viele Vorräte habt. Bevor wir aus dem Theater fliehen mussten, hatte ich den Gedanken, ihn zu einem sicheren Ort auszubauen, nach weiteren Überlebenden zu suchen - wie ihr. Ihr habt uns eure Gastfreundschaft angeboten. Wenn ihr also wisst, wo wir weitere Vorräte finden können, oder weitere Überlebende, oder falls andere Hilfe benötigt wird, so sagt es und ich helfe gerne, wenn ich kann."

  • Drucken