ASHUR
Das 4.837. Jahr seit dem Blutschwur von Adun
Als Aethe nach vorne trat und ihre Worte rief, schauten die drei Gestalten sich wieder abwechselnd an. Ein Paar unverständliche Worte wurden gewechselt und wieder kreuzte einer von ihnen die Arme vor der Brust, doch es schien, als hätte die Tochter Nodons einen Teil der Spannung lösen können. Vielleicht kam es ihr nur so vor, doch es schien, als würde die Spitze des Pfeils zusammen mit dem Bogen langsam gen Boden schwenken.
Dann rannte Taram los - und die drei Gestalten zuckten zusammen. Der Bogenschütze hob schnell seine Waffe und ließ den Pfeil von der Sehne - doch er war wohl überrascht worden und die Distanz zwischen ihnen war recht lang und so bohrte sich der Pfeil gut zehn Fuß von der Stelle entfernt, wo der Suli-Jan vor einem Augenblick noch gestanden hatte, und wo der Neunte General und Aethe immer noch standen, in den Boden. Taram dagegen verschwand im blauen Dickicht des Waldes.
Die drei Gestalten gerieten in wilde Aufregunung. Der Neunte General und Aethe sahen Klingen in den Händen der beiden aufblitzen, die bis dahin noch keine Waffe gezogen hatten. Es war wohl das trainierte Auge und der Instinkt eines erfahrenen Kämpfers, der den Tiefling auf so etwas achten ließ, doch verwundert registrierte er, dass die beiden keine Klingen
gezogen hatten - sie hatten nicht zu Scheiden am Gürtel oder sonst wohin gegriffen, sondern die Klingen schienen einfach in ihren Händen erschienen zu sein. Sie hielten sie wie Messerkämpfer, mit der Klinge nach hinten - ungewöhnlich für Schwerter.
Und sie hielten sie defensiv. Das konnte selbst Aethe erkennen, so wie die drei Gestalten die Oberkörper nach hinten genommen und sich breitbeinig hingestellt hatten. Man erkannte deutlich, dass sie einen Angriff erwarteten und sich darauf vorbereiteten. Immer wieder schauten sie umher ins Dickicht auf der Suche nach dem Suli. Aufgeregte Rufe gingen hin und her. Langsam kam den Aethe und dem Neunten General der Verdacht, dass nicht nur die Entfernung dafür sorgte, dass sie kein Wrt verstanden, sondern auch die Tatsache, dass die drei wohl eine andere Sprache sprachen.
Diese Vermutung wurde zur Gewissheit, als einer der Schwertträger etwas in ihre Richtung rief:
"Ki vagy te! Hol van a többi!" Aethe hatte das Gefühl, dass es keine bloßen Ausrufe, sondern Fragen waren, doch sie verstand kein Wort. Ebenso erging es dem stahlgepanzerten Tiefling neben ihr.
Derweil lief Taram durch das Dickicht der Bäume und umrundete mit schnellen, weiten Schritten die Lichtung. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war - vielleicht der immer noch nicht ganz verklungene Schock seines plötzlichen Aufwachens hier; seine Ohren klangen noch immer leicht nach. Vielleicht aber auch die fremdartige Umgebung und die fremdartigen Laute der sicher ebenfalls fremdartigen Tiere, die ihn umgaben - allein das Blau überall schien die Sinne zu überreizen, nicht zu reden von den doppelten Schatten, die alles und jedes warf. Vielleicht war es auch sein eigener, schneller Atem und die Konzentration auf die drei Gestalten, die er als Angreifer eingestuft hatte.
Doch er hatte den Reiter einfach nicht bemerkt. Er war nur noch dreißig, vielleicht vierzig Fuß von den Dreien entfernt, nahezu seitlich zu ihnen, da tauchte plötzlich ein Reiter im leichten Galopp seitlich vor ihm auf. Auch dieser hatte ihn wohl nicht gesehen und so bockte das Reittier überrascht auf gab ein erschrockenes Wiehern von sich. Fast hätte es wohl seinen Reiter abgeworfen, doch dieser hielt sich noch im Sattel. Taram hatte weniger Glück - vor Schreck war er nach hinten auf den Rücken gefallen und richtete sich erst jetzt langsam wieder auf - und erstarrte, als er die fremdartige Gestalt auf dem Reittier sah:
Ein graublaues Gesicht schaute auf ihn hinab, die Oberfläche nicht mit einer Haut oder mit Pelz überzogen, wie man es gewohnt war, sondern mit einer Art weichem Stein - anders konnte er es in diesem Augenblick nicht benennen. Es schien in Schichten aufgetragen und war langgezogen - mit spitzem Ende unten - das Kinn? - und oben. Es war völlig haarlos und ohne erkennbaren Mund und Nasenbein. Dafür hatte es die durchdringendsten Augen, die der Suli je gesehen hatte: kein Weiß, keine erkennbaren Pupillen, sondern ein helles, blaues Licht, dass aus ihnen heraus zu leuchten schien, ähnlich wie das Leuchten des Kristalls, an dessen Fuß sie aufgewacht waren.
[1]Der Kopf krönte einen langgewachsenen, nahezu zwei Meter langen Körper - ebenfalls in dem gleichen graublauem, weichen Stein. Die Beine waren lang, die Obenbeine muskulös, während die Unterbeine dünner wurden. Ähnlich verhielt es sich auch mit den Armen und dem Oberkörper selbst. Während erstere in den Oberarmen dicker waren und in langen, dünneren Unterarmen endeten mit langfingringen Händen, verfügte die Gestalt über breite Schultern, eine beeindruckende Nackenmuskulatur und wallende Brustmuskeln. Doch die Taillie fiel unnatürlich dünn aus, ähnlich einer Frau, obwohl Taram die Gestalt eindeutig als männlich einstufte.
Dies alles konnte der Suli beobachten, da der Mann nur einen gut gearbeiteten Lendenschurz in Rot und Braun trug, Sandalen aus einem auf den ersten Blick unbekannten Material, eine ärmellose Lederrüstung und Unterarmschützer. Sowohl in der Mitte der Rüstung als auch auf den Unterarmschützern prangte ein Zeichen in Gold, doch Taram hatte nicht die Zeit, es sich genauer anzusehen.
Als sich das Reittier - ein grünfarbenes Wesen; Taram erinnerte es entfernt an ein Pferd, da es ähnlich gebaut war, doch es hatte ebenfalls keine Haare, sechs Beine und war wohl knapp anderthalb Mal so groß, wie die Pferde der Steppe, die der Krieger kannte - beruhigt hatte, griff sein Reiter nach hinten und zog etwas hervor. Taram erkannte sofort, worum es sich handelte: eine Waffe. An einem wohl knapp drei Fuß messenden Schaft, den der Mann mit beiden Händen umklammerte, schloss sich eine wohl eine ebenso lange, gebogene Klinge an. Sie glänzte feuerrot.
Da hörte Taram ein weiteres Reittier nahen und den Reiter wenige Augenblicke später aus dem Dickicht herborbrechen. Noch bevor der Neuankömmling ganz zu sehen war, rief er etwas - anscheinend zu Reiter vor ihm. "Necrenzel hesk! Félreértés ne essék!" Der Suli verstand die Worte nicht, doch der Reiter vor ihm, hörte auf, seine Waffe weiter zu heben.