Einstieg für den Neunten General
KESH (auch genannt: Die blutige Welt)
Im 2015. Jahr des Kreuzzugs
Voller Verzweiflung hatten sich die letzten seiner Männer um ihn gescharrt – sie bildeten ein kleines Karree um den Neunten General – um ihren General, der sie aus der Bedeutungslosigkeit der Neunten Armee zu Siegen geführt hatte. Er kannte diese Männer, hatte sie mit harten Worten und noch härterer Hand geschliffen; sie zu dem gemacht, was sie nun waren – die beste Einheit des gesamten Kreuzzugs.
Doch was dem Feind an Fähigkeiten und Erfahrung fehlte, machte er an diesem Tag mit Mannstärke und überwältigender Kraft wett. Sie standen einer Überzahl von zehn zu eins gegenüber. Und unter den armen Seelen der gegnerischen Truppen stachen die schuppenbewährten Köpfe und die geifernden Mäuler der Drachengeborenen hervor.
„
So soll es also enden“, ging ihm durch den Kopf. Er fasste den Griff seiner Klinge fester und ließ sie sirrend durch die Luft schneiden. Mit Bestimmtheit drängte er sich an seinen Männern vorbei und stellte sich in die erste Reihe – wie er es immer getan hatte. „
Aber wenn ich gehe, dann nehme ich jeden einzelnen von denen mit!“
Der Neunte General ließ sein Visier hochschnellen und wandte sich an seine Männer. „
Wir haben zusammen Dutzende Schlachten geschlagen – und immer gesiegt! Diese Welt ist ein Glutofen. Und wir wurden in ihr immer wieder neu geschmiedet – mit Feuer, Eisen und Blut!“ Jubel brandete auf und die Männer spendeten Beifall. Er deutete mit der Klinge den Hügel hinab auf die heraneilenden Angreifer.
„
Dort unten ist ein naiver, nichtsnutziger Haufen von Anfängern. Seht sie euch an, wie sie heranstürmen und glauben, gegen die beste Einheit des gesamten Kreuzzugs eine Chance zu haben!“ Wieder brachen die Männer in zustimmenden Jubel aus.
„
Aber wir – wir wissen es besser. Mag sein, dass sie Zehn mal so viel Mann gegen uns werfen, wie in unseren Reihen sind. Aber jeder meiner Männer ist das Zwanzigfache von denen wert!“ Nun gab es kein Halten mehr. Die Krieger reckten ihre Waffen in die Höhe und ein ohrenbetäubender, anhaltender Schlachtruf schallte über das Feld und den Hügel hinunter.
Der Neunte General wandte sich um, deutete mit dem Schwert auf die Gegner und schrie: „
Auf! Zum Sieg!“
Und mit diesen Worten stürmte der Grubengeborene voran, an der Spitze seiner Männer seinen Feinden entgegen. Feinden, von denen er nicht wusste, warum sie gegen ihn kämpften. In einem Krieg, von dem er nicht wusste, warum er begonnen hatte, und warum er immer noch andauerte. Aber all das war auf einmal bedeutungslos – weggewischt mit dem ersten Streich seiner Klinge, die sich tief in die Kehle eines gegnerischen Soldaten bohrte und das erste Blut des nun beginnenden Schlachtgetümmels vergoss.
Seine Männer kämpften wie Sagengestalten und behaupteten sich tapfer gegen die Übermacht – doch er wusste, dass sie früher oder später unter dem schieren Druck der Gegner zusammenbrechen würden. Mit mächtigen Hieben spaltete er eine Rüstung nach der anderen, zerschmetterte er einen Brustkorb nach dem anderen und die Feinde fielen um ihn herum, ohne ihn verletzen zu können.
Dann hörte er ein Stampfen und drehte sich nach dem Geräusch. Ein Drachengeborener, ein besonders großes Exemplar dieses teuflischen Volkes, hatte sich seinen Weg zu ihm gebahnt. Fast neun Fuß hoch ragte er in die Höhe – ein raues, altes Kettenhemd rasselte um seine Schultern und die Pranken umfassten eine riesige Doppelaxt. Der Neunte General erkannte, dass die Klingenblätter nicht aus Eisen waren, sondern im Beige des Knochenbeins schimmerten. Er hatte davon gehört, dass manche der Drachengeborenen Klingen aus Drachenknochen benutzten. Doch nun wunderte er sich vor allem darüber, dass ihm im Getümmel der Schlacht die Zeit blieb für solche Beobachtungen und Gedankengänge.
Aber dieser eine Lidschlag des Wahrnehmens war vorüber und der Drachengeborene stürzte sich mit Gebrüll auf ihn. Der Neunte General parierte den mächtigen Hieb und trieb seinen Feind mit Konterattacken zurück. Immer wieder schlugen die beiden mächtigen Krieger aufeinander ein. Um sie herum gewannen die Truppen des Feindes die Überhand. Er sah und hörte seine Männer sterben und erkannte, dass er bald umzingelt sein würde. Der Drachengeborene blutete aus mehreren Wunden, doch er hielt sich auf den Beinen und griff mit unvermindertem Eifer an.
Und dann kam dieser Augenblick. Der eine Moment der Unachtsamkeit, in dem der Tiefling nach einem Vorstoß nicht schnell genug wieder in die Abwehrhaltung kam. Die mächtige Axt traf ihn mittig auf die Brust und die Wucht des Aufpralls hob ihn von der Erde und ließ ihn durch die Luft fliegen. Die Axt durchschlug wie durch ein Wunder nicht die Rüstung, doch sie trieb ihm die Luft aus den Lungen und als er hart mit dem Rücken auf dem steinigen Grund landete, war es ihm, als würde jeder einzelne seiner Wirbel brechen. Er hatte Schwierigkeiten, seinen Blick zu fokussieren. Alles begann zu verschwimmen und ein Summen legte sich auf seine Ohren, das rasch lauter wurde. Wie durch einen Schleier sah er den riesigen Feind über ihm stehen. Der Drachengeborene knurrte und hob seine Waffe. „Jetzt stirbst du!“ Dann ließ er die Axt hinunter sausen. Der Neunte General hatte die Augen geschlossen, doch mit den zufallenden Lidern verstummte plötzlich auch das Rauschen in seinen Ohren. Eine Dunkelheit umfing ihn, die vollkommen war. Er hielt sie für die Dunkelheit des Totenreichs. Doch dem war nicht so.