Cesare nickte dem bleichen Fremden knapp zu—ohne Vorwurf oder Entschuldigung, lediglich in Anerkennung des Missgeschicks—und hob sein Messer auf. Dann betrachtete er die
lepera[1] vor sich.
Pandoras Chakra. Eins von zweien, die Cesare nur allzu gut kannte. Nicht das, was er einmal auf der eigenen Brust gesehen hatte. Er sah auf die röchelnde Frau hinab und wusste nicht, ob er Mitleid oder Verachtung fühlen sollte—'sollte' war hier das ausschlaggebende Wort. Tatsächlich fühlen tat er sowieso weder das eine noch das andere. Tatsache war: das hätte er selbst sein können. Oder eben nicht. Er hatte dem Ruf nach Vereinigung widerstanden. Dem Ruf, alle Last und Verantwortung abzugeben, sich mit dem Urganzen zu vereinen, das Selbst darin aufgehen zu lassen, Freiheit und Willen einzutauschen gegen sorglose Geborgenheit, zurückzukriechen in den Mutterleib... Sein Wille war stärker gewesen als Noxens Lockruf.
Seine zweite Überlegung war natürlich: was dachte sich Lodovicos Geschäftsfreund eigentlich dabei, in seiner näheren Umgebung Banden von
leperi zuzulassen? Das war in mehr als einer Hinsicht schlecht fürs Geschäft, egal ob man vom Burngeschäft sprach oder von Grubenkämpfen. Eigentlich konnte niemand so dumm sein. Irgendwas war da faul.
Er beugte sich vor und fuhr der Frau mit der Klinge über die Kehle. Danach zog er das Wiedertäuferkreuz, das er an einem langen Lederband um den Hals trug, unter seiner Kleidung hervor und küsste es. Nachdem er sein Messer im Schnee abgewischt und wieder eingesteckt hatte, erhob er sich ohne weiteren Kommentar.
In seinen Ohren rauschte es. Wegen des Kampfes und der blutigen Szene um ihn herum, auch, aber vor allem wegen der plötzlichen Sorge: was, wenn dieser Geschäftsfreund und seine Grubenkämpfe längst ausgehoben worden war. Oder ein Konkurrent hatte einen kleinen Coup veranstaltet und die Sache übernommen. Oder Richter Mehler kam durch die
leperi hier auf dumme Gedanken und startete eine Mission, die Verursacher zu vernichten.
In jedem Fall: meine eigene wurde gerade um einiges schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Und wenn ich versage, darf ich nicht zu meiner Schar zurück.Cesares Schritte hatten ihn zuerst zu Kathrin geführt. Lebte sie noch? Konnte man die Blutung noch stoppen? Dem schien nicht so.
[2] Also ging er zu dem jungen Lupo hinüber, der eindeutig tot war.
Cesare kniete bei ihm und murmelte: "Oh, mio povero bellissimo uccellino!"
[3] Dann zog er abermals sein Kreuz hervor und bekreuzigte sich auf Wiedertäuferart, indem er das Kreuz erst an die Lippen führte, dann an die Stirn, dann an die Brust und zuletzt an die linke Schulter. Mit erhobener Stimme betete er darauf:
"Dalle profondità
a te ho gridato, o Signore;
Signore, ascolta la mia voce.
Siano i tuoi orecchi attenti
alla voce della mia preghiera.
Se avrai considerato le colpe, Signore,
Signore, chi resisterà alla tua ira?
Poiché presso di te è il perdono
e per merito della tua legge ti ho fatto fronte, o Signore.
L'anima mia si è retta sulla sua parola,
ha sperato l'anima mia nel Signore,
Dalla veglia del mattino sino a notte,
speri il nostro mondo nel Signore,
perché presso il Signore vi è misericordia,
e abbondante è presso di lui la redenzione.
Ed egli redimerà il mondo da tutte le sue colpe."Er wiederholte das Gebet auf Borcisch
[4]: fehlerfrei, ohne Zögern, aber mit einem starken Akzent, und schloss mit einem kurzen, auch Kathrin und den schweigsamen Rudi miteinbeziehenden:
"O Signore, dare riposo eterno a loro e a tutti morti. E splenda essi la luce perpetua. Lasciali riposare in pace"[5], das er unübersetzt ließ.
Das Kreuz wieder unter die Kleidung schiebend, erhob er sich, ging zum toten Franz hinüber und schnappte sich dessen Flinte. Die Waffe mit beiden Händen beim Lauf packend, beugte er sich über den Toten und stieß mit dem Kolben wieder und wieder auf dessen Schädel ein, bis dieser Brei war—oder einer der anderen Gruppenmitglieder ihn stoppte.