Autor Thema: Salem  (Gelesen 2262 mal)

Beschreibung: 30 Lidae und ein ganzes Leben

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Khenubaal

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Salem
« am: 02.01.2016, 20:32:40 »
Hallo Leute,

ich habe mich entschlossen, hier in unserem Forum eine Fortsetzungsgeschichte im Kingdoms of Kalamar-Setting zu schreiben, und zwar aus mehreren Gründen, die da wären:

1) Ich habe Bock drauf!  :)
2) Ich hoffe, dass sie dem einen oder anderen von euch gefällt und
3) Außerdem noch ein paar tiefere Einblicke in die Welt von Tellene ermöglicht und...
4) Ach ja - ich habe Bock drauf!  :)

Da es eine Fortsetzungsgeschichte werden soll, kommen nach und nach in weiteren Beiträgen weitere Teile hinzu, wobei ich mich bemühen werde, je ein in sich geschlossenes Kapitel pro Beitrag zu posten. Ich bitte euch aber daher, in diesem Thread nichts zu posten, um den Lesefluss nicht zu unterbrechen. Wer einen Kommentar (positives, wie negatives ist immer willkommen) zur Story hat, sollte das im OOC-Thread posten.

Übrigens - sollte der eine oder andere von euch auf den Geschmack kommen und selber Mal eine Story im KoK-Setting schreiben wollen - gebt Bescheid und ich mache dafür einen eigenen Thread auf.

In diesem Sinne: viel Spaß beim Lesen.

Khenubaal

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Salem
30 Lidae und ein ganzes Leben

1: Ibtissam


"Ukhluch, bitte! Ich habe kein Geld! Nicht eine einzige Lida!"

"Falsche Antwort!"

Die Faust des Krangi schnellte blitzartig auf das Gesicht des vor ihm knieenden Mannes herunter. Ein dumpfer Knall erscholl und die zerlumpte Gestalt krachte rücklings in den Staub der Seitengasse. Ukhluch trug zwei dornenbewährte Stahlringe an den Fingern der Rechten. Von denen tropfte jetzt Blut. Links, knapp unterhalb der Augenhöhle des Mannes, klaffte eine tiefe Wunde, die sich über die Wange hinab bis zum Kinn zog.

Die wenigen umstehenden Gestalten huschten in die Schatten. Zwei Schaulustige an der Mündung zur Töpferstraße eilten davon. Warda, die Nachbarin, knallte die Fensterläden der kleinen Holzhütte zu. Und auch Aabid ließ schnell die Zeltplane runter. Nur Salem - ein kleiner Junge - seine drei Schwestern und seine Mutter blieben wie angewurzelt im Zelteingang stehen. Ihr Zelt stand am Ende der Sackgasse, die bis auf Ukhluch, seine beiden Häscher und Salems Vater, der blutüberströmt im Staub lag, nun so menschenleer und verlassen war, wie nie zuvor.

Salem verübelte es den Nachbarn nicht, dass sie sich versteckten. Dort lebten Freunde und Spielkameraden von ihm, Freundinnen seiner Mutter und seiner Schwestern, und einige gute Männer. Aber sein Vater hielt sich eher an die Trinker und Taugenichtse. Und selbst wenn nicht - jeder wusste, was passierte, wenn man sich Leuten wie Ukhluch widersetzte. Das konnte man von niemandem verlangen.

Salem zitterte. Er war erst zwölf Sommer alt und hatte Angst. Dann hörte er ein Schluchzen und sah zur Seite. Rabi, seine jüngste Schwester, war auf die Knie gesunken und weinte leise. Seine beiden anderen Schwestern eilten zu ihr, knieten sich neben ihr hin und begannen, sie zu trösten. Auch sie zitterten. Salem schaute zu seiner Mutter. Sie stand da, wie angewurzelt, und schaute mit glasigem, leerem Blick auf die Szenerie in der Gasse. Wie der Wüstenfuchs vor der Kobra. Wie eine Puppe führten ihre Hände mechanisch weiter die Bewegungen aus, die sie seit Jahren als einziges kannten, und flochten weiter an dem halbfertigen Flechtenkorb in ihrem Schoß.

"Bitte, bitte - Ukhluch" - sein Vater war wieder zu sich gekommen. Salem schaute nach vorn. Sein Vater kroch rücklings nach hinten und flehte den Krangi wieder an. "Noch eine Woche bitte! Noch drei Tage! Ich besorge das Geld!"

"Halt's Maul!" Ukhluch schrie und holte den Mann mit zwei kraftvollen Schritten ein. Er zog ein langes Jagdmesser unter seinem Umhang hervor und kniete sich über seinem Opfer hin. Mit einem kräftigen Stoß nagelte er den zerlumpten Überwurf nur einen Fingerbreit von der Schulter des Mannes entfernt am Boden fest.

"Du kennst Ukhluch. Jeder hier im Töpferviertel kennt Ukhluch. Ich leihe jedem Geld, der in Not ist. Ich gebe jedem eine Chance. Aber ich will mein Geld pünktlich zurück! Keine Schonfristen!" Er hatte die Worte laut geschrieen, so dass jeder in der Gasse und darüber hinaus sie hören konnte. Seine beiden Häscher lachten auf und grölten. Nun kniete sich Ukhluch noch tiefer über Salems Vater. Der Junge sah, wie eine Geiferspur aus dem Maul des Krangi seinem Vater auf das Kinn tropfte, als dieser leiser weitersprach. "Und du weißt, was passiert, wenn ich mein Geld nicht pünktlich kriege - mit Zins."

Salems Vater zitterte am ganzen Körper. Seine Stimme stotterte. Es war ein erbärmlicher Anblick. 'Du verdammter Säufer', dachte Salem. Der Junge verschränkte die Arme und unterdrückte die Angst in sich, so gut es ging. Alles - nur nicht so sein, wie sein Vater. "Bitte Ukhluch!", flehte dieser wieder. "Ich habe nichts - keine einzige Lida!"

Der Krangi entblößte die Hauer in einem eisigen Lächeln und schaute auf zu Salem und seiner Familie. "Ja", sagte er. "Aber du hast drei Töchter. Die Älteste - wie alt ist sie? Fünfzehn Sommer, sechzehn? Auf jeden Fall alt genug, um als Lustsklavin in einem der Bordelle unterzukommen. Ist zwar hässlich und abgemagert - sicher keine 30 Lidae wert, aber ich mache heute dir zu liebe eine Ausnahme."

"Ibtissam?", murmelte Salems Vater. "Aber sie ist meine Tochter. Nein, nein. Das geht nicht. Die gebe ich nicht her!"

Ukhluch klatschte mit der flachen Hand auf den staubigen Boden und heulte entzückt auf. "Die gibt er nicht her!", rief er seinen Häschern zu. Die beiden Männer fielen in das Lachen ein. Ein Lachen, das anhielt und und nicht zu enden schien, bevor es dann doch abrupt und mit einem harten Faustschlag auf das Gesicht des liegenden Mannes abriss.

"Ich nehme mir alles, Säufer!", schrie Ukhluch den Mann an, während er seine Faust wieder zurückzog. "Wenn deine Tochter dir was wert war, hättest du daran denken sollen, bevor du dein ganzes Darlehen versoffen hast! Also - ich frage noch einmal, und diesmal deutlicher. Entweder deine Tochter kommt mit, und du bist mir bis an dein Lebensende dankbar, dass ich dich verschont hab'. Oder: ich zermatsche deinen Kopf hier und jetzt, so dass du Futter für die Wüstenratten wirst, und nehme mir deine Tochter danach zur Deckung meiner Kosten. Was sagst du?"

Salems Vater zitterte nun noch mehr. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel. Und Salem sah, dass seine Lumpen sich um die Lenden herum dunkler färbten. Er hatte sich eingenässt. "Ja", murmelte er. Salem riss vor Entsetzen die Augen auf. "Ja - klar. Natürlich! Danke! So machen wir das."

"Na also", murmelte der Krangi zufrieden. "Sag ihr, sie soll herkommen."

Salems Vater schluckte. "Ja", murmelte er wieder. Dann schluckte er noch einmal. Und noch einmal. "Ibtissam?", rief er schließlich. "Ibtissam. Komm her!"

Salem schaute zu seiner großen Schwester. Sie stand da wie angewurzelt, wagte nicht zu atmen. Tränenfurchen zogen sich über ihre Wangen. Das schwarze, lockige Haar verdeckte den Hals, doch er wusste, dass sie malmte und schluckte. Ihre Hände zitterten, doch sonst konnte sie sich nicht bewegen. Der Junge schaute seine Schwestern und seine Mutter an, doch auch sie standen nun völlig starr.

"Also, was ist?", rief Ukhluch. "Bist du so ein Wofooka, dass selbst deine Tochter nicht auf dich hört?"

"Nein, nein - sie kommt gleich", murmelte der Mann. "Ibtissam! Komm sofort her!", rief er wieder.

Salem hörte ein Schluchzen. Er schaute wieder zu seiner Schwester und sah, wie sie einen Fuß vor den anderen zu setzen begann und langsam auf ihren Vater und seine Peiniger zuging. "Mutter!", rief Salem. "Tu' was!"

Seine Mutter schaute ihn mit demselben starren Blick an. Auch ihre Wangen waren von Tränenfurchen durchzogen, aber die Augen waren ausdruckslos und leer. 'Ohne Hoffnung, ohne Kraft', dachte Salem. "Aber was soll ich denn tun, mein Junge?", murmelte sie.

Salem ballte die Fäuste. Erst jetzt merkte er, wie schwer er atmete, dass auch er weinte und wieder am ganzen Körper zitterte, aber diesmal vor Wut. "Nein!", schrie er.

Dann, plötzlich, lief er los. Mit zwei Sätzen hatte er seine Schwester eingeholt und riss sie wieder zurück, so dass sie in den Staub fiel. "Nein! Nein! Nein!", rief er immer wieder, lief dabei weiter auf Ukhluch und seinen Vater zu und blieb vor diesen stehen.

"Was willst du, Knirps?", fragte Ukhluch belustigt.

Salem zitterte noch stärker, atmete so schwer, als hätte er nicht dreißig Fuß, sondern dreißig Meilen zurückgelegt. Aber es gab jetzt kein zurück. "Ich komme mit dir, Ukhluch. Nimm mich anstatt meiner Schwester", sagte er.

Der Krangi und seine Häscher starrten den Jungen entgeistert an. Salem sah, dass auch das Gesicht seines Vaters denselben Ausdruck hatte, und er spürte dieselben Blicke in seinem Rücken. Dann lachte Ukhluch auf. "Dich?", rief er, sich schüttelnd. "Was soll ich mit dir? So dürr und schwächlich, wie du bist, bringst du auf dem Sklavenmarkt keine zehn Lidae ein. Oder hast du da eine Möse unter deinen Lumpen versteckt?" Der Krangi lachte über seinen eigenen Scherz und auch die beiden Männer hinter ihm fielen ein.

"Hey!", rief Salem trotzig. "Ich bin stark - ich kann drei Kant Holz auf einmal schleppen. Außerdem bin ich schlau! Ich kann rechnen und lesen! Ich bin mehr als zehn Lidae wert!"

Die drei Männer lachten noch lauter auf. "Ach ja?", rief Ukhluch. "Gut", er hielt seine linke hoch und streckte alle Finger aus. "Wie viele Finger halte ich hoch?"

Salem konnte nicht rechnen - das war eine Lüge gewesen. Aber jeder im Töpferviertel wusste, dass ein reudiger Hund Ukhluch mal einen Finger abgebissen hatte. Salem hoffte, dass es die linke Hand gewesen war. "Vier!", rief er sofort.

Der Krangi schüttelte sich immer noch, doch langsam klang das Gelächter ab. "Stimmt, Knirps. Aber das nächste mal solltest du hinschauen, bevor du antwortest. Das sieht dann so aus, als könntest du wirklich zählen", sagte er mit einem Grinsen.

An den Mann am Boden gewandt sagte er: "Ich mag deinen Knirps, Säufer. Ist noch so klein, dass er zwischen meinen Füßen durchlaufen könnte, hat aber schon mehr Eier, als du." Dann schaute er wieder zu Salem. "Also gut, Knirps. Ich nehme dich - deine Schwester darf bleiben."

Salem nickte. Er merkte plötzlich, dass er nicht mehr zitterte, nicht mehr weinte. Er stand völlig still und äußerlich ruhig dar. Aber ihm war, als würden seine Knie gleich nachgeben und als würde es vor seinen Augen jeden Augenblick schwarz werden. Aber so kam es nicht. Er sagte nur "Gut" und nickte noch einmal.

Später konnte er sich an die nächsten Minuten - die Minuten des Abschieds - nicht mehr erinnern. Alles verschwamm hinter einem grauen Schleier, der in den darauffolgenden Tagen und Monaten immer weiter zu völliger Schwärze gerann. Salem behielt nur ganz wenige Eindrücke zurück. Er wusste nicht mehr, wie das Gesicht seiner Mutter ausgesehen hatte, als er sich von ihr verabschiedete. Er nahm an, dass es genauso ausdrucklos und leer gewesen war, wie zuvor. Er wusste auch nicht, welchen Gesichtsausdruck sein Vater gehabt hatte, als er ging, ohne sich zu verabschieden. Er war sich sicher, dass der Grund dafür darin lag, dass er dem alten Säufer nicht einmal einen Blick zugeworfen hatte, als er an ihm vorbeilief.

Nur einen einzigen Schnappschuss hatte sein Unterbewusstsein in aller Deutlichkeit behalten. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er sich an nichts sonst erinnerte - weil sein Kopf alle Kraft und allen Raum dafür gebraucht hatte, dieses eine Bild so vollkommen zu bewahren? Als sie an der Mündung der Gasse angekommen waren, hatte Salem noch einmal nach hinten geblickt. Er hatte in Ibtissams Gesicht geschaut, in das wunderschöne Gesicht seiner Schwester, das er sogar besser kannte, als sein eigenes Spiegelbild, und das jetzt von Tränen überströmt war. Sie weinte, aber als sie sah, dass er sie anschaute, hielt sie die Tränen zurück und lächelte ihn traurig an. Wann immer Salem in seinem späteren Leben die Augen schloss, konnte er seine Schwester in diesem Augenblick sehen. Nie zuvor und nie danach hatte ein Gesicht zugleich so viel Trauer und so viel Dankbarkeit in sich vereinen können. "Tsalani", murmelte Salem leise, wohlwissend, dass sie ihn nicht mehr hören konnte. Lebwohl. Dann bog er zusammen mit den Männern in die belebte Töpferstraße ein.

Einer der Häscher schlug ihm zur Aufmunterung grob auf die Schulter. "Hast Mut, Junge", sagte der Mann. "Auf den Sklavenmarkt zu gehen, um die eigene Schwester zu retten. Das bringen nicht viele - Kulem!.

Salem schaute den Mann trotzig an. "Ich habe es nicht für meine Schwester getan", sagte er. "Ich habe es für mich getan. Egal, an wen ihr mich verkauft. Jedes Leben ist besser als das bei diesem Arschloch von Vater."
« Letzte Änderung: 04.01.2016, 18:45:34 von Khenubaal »

Khenubaal

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Salem
« Antwort #1 am: 21.08.2016, 23:44:02 »
2: Die Herrin

"Zwanzig Lidae? Du willst wohl meinen Verstand beleidigen? So etwas kannst du den Wüstenratten aus Sokorhaaz anbieten, aber sicher nicht mir." Der Mann schlug den Saum seines Umhangs über die Schulter und wandte sich zum Gehen um.

Der Sklaventreiber machte zwei eilige Schritte und stellte sich ihm in den Weg. "Bitte, Efet", rief er ihn an. "Ich hatte nicht vor, dich zu erzürnen. Der Junge hat gute Augen und feste Zähne. Er ist völlig gesund."

"Und was soll ich mit einem völlig gesunden, abgemagerten Jüngling mit festen Zähnen anfangen, du Dummkopf?", zischte der Mann hervor. "Ich habe dir gesagt, ich suche Dockarbeiter. Sie sollen jeden Tag acht Stunden in der prallen Sonne Schiffsladungen beladen und löschen. Kann der Junge vielleicht beschlagene Kisten, voll mit Zedernholz, oder ein Talent Silber mit seinen Zähnen vom Schiff in meine Lagerhallen ziehen? Du stellst meine Geduld auf eine harte Probe, Lassad. Sag mir, warum ich mich weiter mit deiner minderwertigen Ware beschäftigen soll, anstatt zu einem der angesehenen Sklavenhändler zu gehen."

Der Sklavenhändler senkte demütig den Kopf und wies mit der Hand die menschliche Wand aus zusammengeketteten Leibern hinunter. "Ich entschuldige mich, Herr. Dort findest du fünf Svimohzer mit breiten Schultern und im entsprechenden Alter. Sie werden die ihnen zugedachte Aufgabe wie zehn erledigen. Und aus respekt vor dir und deinem edlen Haus möchte ich Sie dir zum Selbstkostenpreis überlassen - nur 50 Lidae für jeden."

Auch nachdem er geendet hatte, blieb Lassad demütig gebückt und wartete geduldig auf die Antwort. Der hohe Herr ließ sich Zeit. Mit dem rechten Fuß klopfte er mehrmals auf dem Boden, während die Finger der Linken seinen Schnurrbart zwirbelten. "Also gut - ich sehe sie mir an", sagte er schließlich und schritt am Sklavenhändler vorbei. "Wenn sie so gut sind, wie du sie preist, nehme ich alle fünf für insgesamt 200 und keine Lidae mehr", fügte er noch hinzu, ohne anzuhalten oder sich umzudrehen.

Lassad fluchte leise in seinen Ziegenbart, wirbelte herum und kam mit wutverzerrtem Blick auf Salem zu. Der Junge blieb regungslos stehen. Er wusste, was jetzt kommen würde. Der Sklavenhändler packte ihn an der Kette kurz unterhalb des Halsrings und schüttelte ihn heftig durch. Bis auf einen verdreckten Lendenschurz und die mit einer Kette verbundenen Ringe an Handgelenken und Hals war Salem, wie alle Sklaven auf der Auktion - ob männlich oder weiblich - nackt. Die von der Sommersonne erhitzten Kettenglieder schlugen heftig gegen Brust und Bauch.

"Verdammt - steh gerade und drück' die Brust raus, wenn ich dich anpreise!", zischte Lassad ihn an. Speichel flog zwischen den Zähnen des Mannes hervor und landete auf seiner Wange. "Wie soll man denn nur sowas wie dich überhaupt loswerden - dürr und abgemagert, dumm und kraftlos und mit einem Gesichtsausdruck, bei dem selbst die Liebesgöttin vertrocknen würde. Ukhlukh zwang mich, dich mit 30 Lidae zu verrechnen - du bist nicht einmal die Hälfte wert."

Der Sklavenhändler hörte auf, Salem zu schütteln und warf ihn von sich. Der Junge prallte gegen die Steinwand hinter sich und kam taumelnd zum Stehen. Lassad deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. "Wenn ich das nächste Mal dich jemandem zeige, will ich, dass du denjenigen so breit anlächelst, dass sich die Sonne im Speichel auf deinem verfluchten Gaumen spiegelt - verstanden?"

Salem nickte. Lassad stampfte fort. Die Mittagssonne der Wüste blieb - brannte unbarmherzig hinab auf den Makan Jarbur, auf die gesenkten Köpfe und nackten Schultern der Männer und Frauen, die - in Gruppen zusammengekettet, an der Wand aufgereiht - an die meistbietenden unter den Besuchern verkauft wurden. "Warum eigentlich Makan Jarbur[1] und nicht Makan Allraqiq[2]?", murmelte der Junge leise zu sich selbst.

"Weil es alles Lügner sind", fauchte der der abgemagerte alte Mann zu seiner Rechten und hob die Arme, dass die Ketten rasselten. "Seit ich auf dieser verfluchten Welt bin, wurde ich nur belogen und betrogen. Mein Vater hat sich aus dem Staub gemacht, bevor ich geboren wurde und meine Mutter - die Hure - hat mich verkauft, sobald ich alt genug war, dass mich jemand nimmt. Merk' dir, Kleiner - jeder Mensch lügt, jeder verrät. Selbst dein Schatten würde dir in den Rücken fallen, wenn die Sonne ihn nicht an deine Füße ketten würde."

Salem schaute den Redner an - die Haut zerfurcht, der Bart grau und verfilzt. Lassad hatte, wissen die Götter, nicht die beste Ware. Und er hatte ihn zu den schwächsten und billigsten gestellt. Er dachte über die Worte des Greises nach. 'Mein Vater lügte uns an, hinterging Ukhlukh und verriet Ibtissam. Meine Mutter verriet ihre Kinder. Ukhlukh nötigt Lassad. Lassad belügt die hohen Herren und die Lügen sicher über ihre Absichten. Nicht einmal einen Platz können die richtig benennen. Vielleicht hat der Greis recht. Aber eine ganze Welt, die aus nichts außer Lügen besteht?' Für eine ganze Weile dachte er darüber nach. Dann verfinsterte sich sein Blick und er schüttelte den Kopf.

"Meine große Schwester hat mich nie belogen", sagte er trotzig.

"Was?" - Salem hatte eine ganze Weile gegrübelt. Der alte Sklave hatte sich mit dem Rücken an der Wand hingesetzt und seine Tirade wohl schon vergessen. Er schaute mit fragendem Blick zu dem Jungen und zischte ein entnervtes "Aaaah!", als es ihm wieder einfiel. Dann machte er eine wegwerfenden Handbewegung und drehte ihm so weit es ging den Rücken zu. Salem zuckte mit den Schultern und schaute wieder auf den überfüllten Platz hinaus.

Während Minuten zu Stunden wurden und sein dürrer Schatten langsam über den Bruchstein wanderte, beobachtete er die vielen Menschen, die er sah. Die ersten Tage hatte er es sich zum Spiel gemacht, jemanden zu erspähen, den er kannte, doch das halbe Dutzend Gassen seiner Kindheit war weit weg von hier und es gab nichts, was eine der verarmten Gestalten aus der Töpfergasse auf den Makan Jarbur locken konnte. Es vergingen zwei Tage, an denen er kein einziges bekanntes Gesicht sah und nur immer wieder darüber staunte, wie groß die Stadt denn sein mochte, damit so viele Menschen darin leben konnten. Er schloss daraus, dass es die größte Stadt der Welt sein musste, auch wenn Ibtissam behauptet hatte, dass es irgendwo weit weg noch viel größere Städte gäbe.

Dann, am dritten Tag, sah er endlich jemanden, den er kannte. Es war Ukhlukh, den er nie wieder hatte sehen wollen. Da beschloss er, das Spiel nicht weiterzuspielen. Er dachte sich ein neues aus. Er suchte sich jemanden aus, der ihm besonders interessant erschien und dachte sich zu ihm eine Geschichte aus.

Die stumme, gedrungene Dejy, die mit den anderen Lustsklaven auf der Westseite des Platzes angeboten wurde - sie mochte vielleicht einst die Fürstentochter eines Wüstenstammes gewesen sein, von denen man ihm immer erzählte. Vielleicht hatte sie ihren Vater überredet, sie im Kampf auszubilden und war gemeinsam mit ihm und seinen Männern einen Angriff auf eine Karawane geritten und dabei gefangengenommen worden? Vielleicht dachte sie gerade in diesem Moment über Flucht nach, oder hielt Ausschau nach den Männern ihres Stammes, die den angesehenen Sklavenhändler, der sie anbot - viel reicher und bedeutender, als Lassad - töten und sie befreien sollten?

Dann war da der reiche Mann, den Lassad Efet genannt hatte, und der Samir nicht wollte. Er sagte, er brauchte Männer, die im Hafen Schiffe be- und entladen sollten. War er vielleicht der Herr des Hafens? Nein - der würde nicht selber Sklaven kaufen. Er musste ein reicher Händler oder Schiffsbesitzer sein. Vielleicht war er früher, in Salems Alter, als Späher auf Handelsschiffen mitgefahren - die Kapitäne suchten immer leichte Jungen für den Ausguck. Oder er war auf Walschiffen mitgesegelt und hatte dann das Fett aus den getöten Tieren geschabt. So muss er zu Reichtum gekommen sein.

Der gelangweilte Büttel am Westtor des Platzes; der riesige Svimohzer, die Leibwache eines mächtigen Sklavenhändlers; ein wilder Mann mit Schultern wie ein Löwe und blasser Haut, Lassad hatte von ihm als von einem "verdammten Fhokki" gesprochen - es gab viele Menschen und viele Geschichten zu erzählen, aber immer wieder kehrten Salems Gedanken zum reichen Mann zurück, der früher mal als kleiner Junge auf dem Schiff Dienst getan haben musste. 'Vielleicht kann ich das auch schaffen', dachte er. 'Auf ein Walschiff kommen, genug Wale fangen und Öl ernten, dass ich mich freikaufe. Dann weitermachen und reich werden, angesehen und mächtig, wie dieser Mann. Ich muss nur dafür sorgen, dass mich ein Kapitän kauft."

"Hey du - steh stramm!", Lassads Peitsche knallte ohrenbetäubend gegen die Steinwand neben dem Jungen und riss ihn aus seinen Tagträumen. Er zuckte zusammen und richtete sich auf, genauso wie die anderen Sklaven in seiner Nähe. "Und antworte gefälligst, wenn du angesprochen wirst!", fuhr ihn der Sklavenhändler weiter an, während er zu ihm kam.

"Beruhige dich, Händler! Dein Geschrei raubt meiner Herrin ja den letzten Nerv." Zwei Frauen waren zu Salem getreten - ihre Schatten fielen auf den Jungen, und es war eine von ihnen, die Lassad gerade mit scharfer und sicherer Stimme zurechtwies. Salem schielte verstohlen zu ihr hoch - sie trug eine braune Tunika und Kopftuch, hatte ein hart geschnittenes Gesicht, wettergegerbte, dunkle Haut und wache Augen. Er schätzte, dass sie ungefähr so alt sein musste, wie seine Mutter.

Die Frau neben ihr musste ihre Herrin sein. Salem erblickte ein smaragdgrünes Kleid mit Goldbrockat, wie er es noch nie gesehen hatte, Ringe an fast jedem Finger und einen glitzernden Fächer in der Linken. Die Haare der Frau waren gewellt, lang und feuerrot, und obwohl sie auch in demselben Alter sein musste, sah ihre Haut makellos und weich aus, nicht wie bei ihrer Dienerin und seiner Mutter. Als er ihr ins Gesicht schielte, erkannte er, dass sie ihn angeschaut hatte. Er hatte das Gefühl, erwischt worden zu sein, und senkte errötend den Kopf.

Die Frau lachte kurz auf. "Wahrscheinlich will der gute Lassad, dass ich taub werde, bevor der Junge mir meine Fragen beantworten kann", sagte sie mit heller Stimme.

Der Sklavenhändler räusperte sich und senkte den Kopf. "Vergebung, Herrin - das war nicht meine Absicht. Ich wollte nur, dass alles zu deiner Zufriedenheit ist. Der Junge wird dir gefallen, da bin ich sicher."

Lassad setzte zu weiteren Worten an, doch die hohe Frau brachte ihn mit einer knappen Handgeste zum Schweigen. "Wenn das so ist, dann bringe deine Handlungen mit deiner hehren Absichten in Einklang und entferne dich, so dass ich in Ruhe mit meiner Leibsklavin und dem Jungen sprechen kann - ohne deine Anwesenheit und deine überzogenen Lobpreisungen. Sollte ich Interesse an dem Jungen haben, lasse ich es dich wissen."

Der Sklavenhändler zögerte für einen Augenblick, nickte dann aber. "Wie du befiehlst, Herrin", sagte er knapp und entfernte sich.

Salem schaute zunächst ihm hinterher, dann zu der hohen Frau. Auch dieses mal ruhten Ihre Augen bereits auf ihm, doch anders als zuvor, sah er nicht weg. Ihr Blick war prüfend, als ob sie es gewohnt war, Menschen auf ihren Wert hin zu schätzen. "Wie heißt du?", fragte sie.

"Salem", erwiderte dieser.

"Wie alt bist du?"

"Es ist mein zwölfter Sommer."

"Na - großgewachsen ist er nicht gerade für das Alter", murmelte die Leibsklavin zu ihrer Herrin gebeugt.

Die hohe Frau nickte. Mit der Linken fächerte sie sich weiter Luft zu. Die Bewegung war fließend und elegant, die Fächerblätter blitzten immer wieder in der Sonne auf und blendeten Salem. "Das muss er auch nicht sein", gab sie zurück.

Die Leibsklavin zögerte. "Verzeiht, Herrin", sagte sie schließlich. "Ich nahm an, dass ihr ihn als Stallburschen kaufen wollt - dafür ist er zu jung und zu schmächtig."

Die hohe Frau lachte auf. "Ach, nein, Maide - Stallburschen haben wir genug. Ich will den Jungen als Haussklaven kaufen, für die Villa. Ehab hat es selbst angeordnet", erklärte sie. Als die Leibsklavin stumm blieb, schaute sie sie fragend an. "Was?", hakte sie fordernd nach.

"Vergebung, aber der Herr hat da sicher an eine Sklavin gedacht", murmelte Maide.

Die Herrin schnaubte - "Das hat er ganz sicher."

"Herrin, es hat schon seine Richtigkeit, dass alle Haussklaven Frauen sind. Das verhindert unwillkommene und kostspielige Schwierigkeiten und andere Bande zwischen ihnen. Dieser Junge wäre außerdem nicht gut für die Disziplin im Hause." Die Leibsklavin schaute nach links und deutete schließlich auf eine Gruppe junger Sklavinnen, die unweit von Salem zusammengekettet worden waren. Der Junge folgte ihrem Zeigefinger mit den Augen. Die Mädchen sahen gut genährt und sauber aus - offenbar behandelte sie ihr Besitzer besser, als Lassad seine Ware. "Es wäre besser, wenn wir eines der Mädchen drüben nähmen . Sie sind alt genug und sehen gesünder aus. Die Dunkle da, würde ich vorschlagen."

Die hohe Frau schaute ebenfalls hinüber zu den Mädchen und schüttelte den Kopf. "Die da soll ich nehmen, also? Und dann zusehen, wie Ehab wieder für einen halben Mond den Weg zu unserem Ehebett vergisst, wie bei jeder neuen jungen Sklavin im Haus? Du weißt genauso gut wie ich, dass wir nicht wegen der Disziplin nur Haussklavinnen haben, sondern weil der Herr seinen Speer in jeden Teich taucht, den er erreichen kann. Und ich soll ihm dabei auch noch helfen? Ganz sicher nicht."

Bei ihren letzten Worten richtete sie den Blick wieder auf Salem. Der Junge verstand nicht recht, worüber die beiden Frauen sprachen, blieb aber stramm stehen und erwiderte den Blick. Ihm gefiel nicht, dass die Leibsklavin ihn als schmächtig bezeichnete - unbewusst stellte er die Brust raus, um sie zu widerlegen.

"Wenn das so ist, dann sollten wir jemanden nehmen, der geschulter ist", gab Maide nicht auf und schaute zu Salem hinüber. "Junge, kannst du lesen und schreiben? Kannst du zählen?"

"Nein", antwortete Salem ehrlich. Er war sich sicher, dass die Frau ihn prüfen würde, falls er etwas anderes behauptete, also hatte es keinen Sinn, zu lügen. Außerdem sah er keinen Grund dazu - er wollte gar nicht, dass diese Frau ihn kaufte; wie sollte er als Leibsklave je zu Ruhm und Reichtum kommen? Nein - dafür musste er auf ein Schiff.

Die Leibsklavin aber nickte zufrieden und wandte sich wieder an die hohe Frau. "Siehst du, Herrin", sagte sie, "wenn du einen männlichen Sklaven kaufen willst, dann sollten wir zumindest jemanden nehmen, der gut ausgebildet ist. Ich empfehle dir den Mann, den wir vorhin begutachtet haben - er war des Lesens und Schreibens kundig. Er wäre bei der Buchhaltung nützlich und auf dem Markt."

"Sicher nicht", schnaubte die Herrin, "so verdrießlich, wie der dreingeschaut hat, wird er den Tag zur Nacht werden lassen, wann immer er den Raum betritt. Außerdem hole ich mir keinen zotteligen alten Mann ins Haus, dessen Anblick das Auge bekümmert. Nein." Das letzte Wort sagte sie mit einer Bestimmtheit, die deutlich machte, dass die Diskussion vorüber war. "Wir nehmen diesen Jungen. Er gefällt mir und er war ehrlich zu uns. Den Rest werden wir ob des jungen Alters formen können. Was er nicht kann, werden du und die Mädchen ihm beibringen. Setzt ihn meintwegen zunächst nur in der Küche und für einfache Arbeiten ein, bis er angelernt ist."

Maide zögerte kurz, fügte sich dann aber. "Wie du befiehlst, Herrin", sagte sie mit gesenktem Kopf. "Dann suche ich jetzt den Sklavenhändler und schließe den Handel ab."

Die hohe Frau nickte. "Biete nicht mehr als 15 Lidae. Und wenn er murrt, sag ihm, er wolle sicherlich nicht die Herrin des Hauses Qes gegen sich aufbringen. Er soll den Jungen bei Sonnenuntergang in der Villa abliefern", wies sie an. Dann drehte sie sich um und Schritt weiter die Sklavenreihe ab, ohne Salem eines weiteren Blickes zu würdigen. Zwei Wachen in voller Montur, die vorher ungesehen geblieben waren, folgten ihr mit einigen Schritt Abstand.

Der Junge schaute ihr nach, bis sie hinter den Leibern weiterer Marktbesucher verschwand. Von der Gegenseite sah er Lassad auf ihn zukommen. Der grobe Sklavenhändler grinste schelmisch. "Gut gemacht, Knirps", rief er Salem zu, als er ihn erreichte. "Endlich bin ich dich los!" Salem seufzte - der Handel war also besiegelt. Den Dienst auf einem Schiff konnte er damit wohl vergessen.
 1. Platz der Gerber
 2. Platz der Sklaven
« Letzte Änderung: 24.08.2016, 20:45:38 von Khenubaal »