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Autor Thema: Kapitel I: Wen die Muse küsst  (Gelesen 17154 mal)

Beschreibung: Ein Semesterstart mit neuen Perspektiven

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Ricky

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Kapitel I: Wen die Muse küsst
« Antwort #180 am: 28.05.2017, 20:05:26 »
Auch Ricky hat seinen Arm ausgestreckt und berührt das Gewebe der Leinwand. Schon spürt er den Sog der anderen Welt und will einen Schritt nach vorne machen, als die monotone Stimme hinter ihnen erklingt. Unwillkürlich krümmt sich der Junge zusammen, wie um sich zu verstecken.
Doch irgendwie weiß Ricky, daß es hier wohl kein Entkommen außer in die andere Welt geben wird.
Und die Anschuldigungen der angeblichen Behördenangehörigen klingen zudem reichlich lächerlich.
Soll er nicht doch bleiben und die Sache aufklären? Auch Phelps wäre damit sicherlich geholfen, wenn einer der Jugendlichen ihm zur Seite steht und bezeugen kann, daß der alte Mann nichts mit der Sache zu tun hat. Sozusagen als lebender Beweiß.
Grad will er sich zwischen Phelps und die Beamten stellen und seinen Standpunkt klar machen, als ihn unvermittelt Ayleen packt und durch den mystischen Schleier mit in die andere Welt reißt.
Durch die unvermittelte Bewegung irritiert, verliert Ricky das Gleichgewicht und plumpst rückwärts in das weiche Gras der weiten Ebene.

Changeling

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Kapitel I: Wen die Muse küsst
« Antwort #181 am: 29.05.2017, 16:09:09 »
Eddy, der beim Anblick der grau gekleideten Männer das Buch mit beiden Armen an den Leib drückt, als wollte man es ihm entreißen, schaut erst Phelps an, dann die Leinwand. Mehrmals geht sein Blick wild zwischen dem alten Mann und den Grauen hin und her, dann stürzt er sich mit einem lauten Aufschrei auf die Leinwand, taucht darin ein und ist verschwunden. Der Kinobesitzer hat die Augen geschlossen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt und scheint zu träumen, während seine hageren Finger mit traumwandlerischer Sicherheit über die Tasten des Klaviers tanzen. Alles spielt sich wie im Licht eines Stroboskops vor den Augen der Schüler ab, die Eindrücke wechseln in einem verwirrenden Tempo: Eddy, dessen sehniger Körper im Sprung auf die Leinwand zufliegt, bis sein Schrei mit einem Mal abreißt – die grauen Männer, die über die Sitzreihen und zwischen ihnen hindurch auf sie zu eilen, die Augen wie gläserne Murmeln, ausdruckslos, die Gesichter auf sonderbare Weise sich gleichend, wie bei eineiigen Zwillingen – Phelps, der völlig entrückt wirkt und die Musik über den Rufen der Grauen durch den Raum schweben lässt.

Dann tauchen auch sie in das Tor ein, und die Stimmen der Grauen werden binnen weniger Herzschläge so leise, dass sie sie nur noch wie aus weiter Ferne hören, um schließlich zu verstummen. Doch die Musik begleitet sie eigenartigerweise noch immer – oder klingt sie nur in den Ohren der Schüler nach? Windböen zerren an ihnen, sie haben das Gefühl, aus großer Tiefe zu fallen, es fällt ihnen schwer zu atmen, und ihre Sinne scheinen zu schwinden...

...und als sie wieder zu sich kommen, liegt jeder von ihnen auf dem Rücken. Unter sich fühlen sie Gras, hohes Gras, und über ihnen scheint eine Sonne, die die Haut wärmt, ohne zu blenden. Ein ungewohnter, warmer Orangeton geht von ihr aus und umfängt alles. Und im Schein dieser seltsamen Sonne sehen sie Farben. Viele, bunte Farben – eine Pracht, die ihnen den Atem raubt. Farben, die sie nie zuvor gesehen oder auch nur für möglich gehalten hätten! Als seien sie ihr Leben lang blind gewesen und öffneten zum ersten Mal ihre Augen, um zu sehen...

~ Ende des ersten Kapitels ~

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