Als Tristan seine vielen Fragen stellt, schaut die gezeichnete Heilerin mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf. "
Ganz schön viele Fragen auf einmal. Wie wäre es, wenn ihr mal sagt, wer ihr seid? Wie heißt du? Ich habe euch meinen Namen genannt und in meine Hütte gebeten."
Ihr Blick geht zu Lif und wird weicher. Sie greift mit den Fingern in eine grobe rote Paste und beginnt, damit die Stirn, den Hals und die Brust des Jungen einzureiben. Mit einem Blick gibt sie Lif zu verstehen, dass dankbar wäre, wenn diese hilft. "
Berberitze", murmelt sie. Ein fiebersenkendes Mittel, wie jede Heilerin weiß. "
Heilt ihn zwar nicht, aber wenn wir das Fieber nicht senken, wird er die Abenddämmerung nicht erleben." Lif muss der Aussage leider zustimmen. Auf einem Beistelltisch steht auch abgekochte, bräunliche Brühe. Lif kann nicht einschätzen, was es sein soll. Neben dem Tisch steht ein großes Faß, dessen Geruch eindeutig und überraschend ist - Bier. Des weiteren erkennt sie auch Tinkturen aus Eichenrinde und Heidelbeere gegen Vergiftung, sowie weitere Heilmittel im Haus - im Gegensatz zum Bierfass zu erwarten in einer Heilerhütte.
Schließlich ist die Brust des Jungen eingerieben. Die gezeichnete Heilerin bedankt sich bei Lif mit einem Nicken und greift zum Krug mit der bräunlichen Brühe. Ihr blickt fällt dabei auf Tristan und sie schürzt die Lippen. "
Die ersten Krankheitsfälle sind vor vier Tagen aufgetaucht, aber 'losgegangen' ist es in der Sturmnacht vor einer Woche, wenn ihr mich fragt", beantwortet sie nun dch seine Fragen. "
Es war eine Sturmnacht; hat gedonnert und geblitzt als würde Askyr selbst die Wolken peitschen", erwähnt sie einen der im ganzen Land bekannten Ahnen - Askyr, den Sturmboten. "
Irgendwas ist da im Kloster geschehen. Pater Halfir hat geschriien wie am Spieß. Animalisch - war durch den Donner hindurch zu hören. So, als wäre er Wahnsinnig geworden vor Schmerz"
Solveig gießt etwas von der braunen Brühe in eine Tasse und drückt diese Lif in die Hand. Selbst greift sie nach dem Kopf des Jungen und hebt ihn leicht an, damit die andere Heilerin den Trank einflößen kann. Jetzt kann Lif den Geruch zuordnen - Bier und abgekochte Berberitze. Zweites ist verständlich, aber wozu das Bier?
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Die braven Lämmchen sind natürlich sofort in Panik verfallen, haben was vom Urian gefaselt. Aber nach draußen und zum Kloster, zum Nachfragen - das hat sich keiner getraut", fährt Solveig fort. Dann richtet sie sich auf. "
Ich wäre gegangen, aber die Behadrim wollen mich nicht an ihrem Kloster sehen. Und Jan wäre gegangen. Aber er war in der Nacht nicht hier.
Am nächsten Morgen. Da sind sie hin. Haben gewartet, dass die Priester das Tor aufmachen und zum Morgengebet einladen. Aber niemand kam heraus. Pater Halfir nicht und die anderen auch nicht. Das Tor auf das Klostergelände blieb geschlossen. Drei Tage später hatten sie ihren Mut so weit zusammen, dass sie reingehen wollten. Das Tor aufbrechen. Hatte ich schon an Tag eins vorgeschlagen. 'Sakrileg' haben sie gerufen. Als sie sich dann zusammengerauft haben, gingen die ersten Krankheitsfälle los. Jetzt geht keiner mehr vor die Tür, geschweige denn ins Kloster."
Als Solveig Lifs fragenden Blick hinsichtlich des Trankes bemerkt, lächelt sie. "
Ja - Bier. Ich weiß, nicht das Beste für einen Kranken, aber ich habe keine Wahl. Ich denke, die Seuche kommt aus dem Wasser des Bachs. Sie hat zuerst die Mönche erwischt, wo der Bach aus dem Berg entspringt, und dann später uns die Strömung runter. Ich trinke seit drei Tagen nur noch Bier. Wasche mir die Hände damit. Versorge die Kranken. Der Vorrat des Wirts - er ist tot und braucht ihn nicht mehr. Und die nächste Frischwasserquelle ist anderthalb Tagesritte entfernt", bei der letzten Bemerkung schaut sie zu Abdo hinüber, der vorgeschlagen hatte, für sauberes Wasser zu sorgen.
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Meine Lehrerin sagte das immer", murmelt sie zu Lif. "
Wenn es nicht die Luft ist, sind es die Männer. Wenn es nicht die Männer sind, ist es das Wasser."
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Kluge Frau, die alte Sunga - ich kannte sie gut" - ein rauchiges Krächzen aus dem Nachbarzimmer, vom Krankenbett an der Wand. Lif und Tristan war es so erschienen, als würde der alte Mann dort schlafen, aber anscheinend lag er nur mit geschlossenen Augen. Nun setzt er sich mühsam auf und entblößt schadhafte Zähne in einem müden Lächeln. Das graue Haar reicht über die Schultern, ist verfilzt und mit dem Alter rar geworden. Die Haut spannt sich trocken und furchig, wie altes Leder über die Knochen. Blaue Linien durchziehen unregelmäßig Gesicht und Hals, Schultern und Brust, Arme und Beine. Als hätte ein tolles Kind mit Kreide Schlangenlinien über den gesamten Körper des Mannes gezogen, nur dass die Linien unter der Haut liegen und hervorstechen, als wären sie aus Metall oder einer fremden Flüssigkeit und nicht aus Kreide. Im Gegensatz zum Jungen auf dem Behandlungstisch ist dieser Mann nicht aufgedunsen, sondern völlig ausgelaugt. Als würde ihn etwas von innen zerfressen.
* * *
Abdo, Freydis und Hjalmarr bekommen gerade noch Solveigs Vermutung bezüglich Wasser als Ursache der Seuche mit, bevor sie ins Freie treten. Für einen Augenblick erleben die drei die frische Sommerluft und die Sonnenstrahlen sehr bewusst - ein Kontrast zur Enge und der Gerüchemelange der Hütte.
Dann fällt ihr Blick wieder auf die pilzbefallenen Gärten der Hütten am Rand von Ansdag. In der Ferne ist Talahan auf seinem Rappen zu sehen. Das Pferd wedelt mit dem Schweif, verscheucht die Fliegen, die sich immer wieder heranwagen. Dann hört Abdo das vertraute Geräusch sich nähernder Hufschläge und erspäht einen einzigen Reiter, der von einer leichten Anhöhe im Osten auf den Dorfplatz zuhält. Er scheint von einem größeren Haus zu kommen, so hoch, als hätte es zwei Etagen und über dem Rest des Dorfes thronend.
* * *
Widerwillig nickt Talahan, als Aeryn darauf besteht, doch auf dem Dorfplatz zu bleiben. "
Dann hoffen wir wider besseres Wissen, dass die verängstigten Bauern nichts Dummes anstellen", murmelt er.
Als Aeryn sich der Hütte nähert, aus der sie die Frauenstimme vernommen hatte, knarrt die Tür. "
Bist du verrückt? Lass sie nicht rein!", ruft eine Männerstimme. "
Beruhige dich - ich gehe raus", gibt die Frau zurück. "
Das wird dein Tod sein, Frida!", schreit der Mann wieder. "
Ich habe dir gesagt, rede nicht vom Tod!", gibt die Frau zurück. Dann erscheint sie vor der Türschwelle, tritt heraus und schlägt die Tür zu.
Es ist eine Bäuerin nahe ihrem vierzigsten Sommer. Arme und Beine sind muskulös und breit, gezeichnet von entbehrlichen Jahren und harter Arbeit auf dem Feld und mit dem Nutzvieh. Das Gesicht ist breit und freundlichen, die Haare mögen einst strahlend blond gewesen sein, sind aber früh größtenteils dem Grau verfallen. Aeryn ertappt sich beim Gedanken, dass diese Frau vor nicht einmal fünfzehn Wintern eine Schönheit gewesen sein muss, schlank, mit hübschem Busen, strammen Schenkeln, einem wunderschönen Gesicht und langen Haaren. Doch fünfzehn Jahre auf dem Feld und mehrere Geburten können den Körper einer Menschenfrau sehr wohl verändern.
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Es hat vor einer Woche begonnen", murmelt sie. "
Ein Sturm, wie der Zorn Gottes. Und Pater Halfir schrie, wie... wie...", sie bricht ab, sucht nach Worten. "
Ich weiß, das darf man nicht sagen, aber er schrie wie ein Dämon. Unmenschlich. Seitdem zeigen sich die Behadrim nicht. die Klostertore bleiben geschlossen. Wir müssen Gott erzürnt haben, dass unsere Priester verschwunden sind. Und nun rafft uns diese Seuche dahin."