Hjálmarrs erneute Spitzen tut der Fürstensohn diesmal mit einem Achselzucken ab.
"Jedenfalls ist er der letzte mit diesem Namen, wenn er so weiter macht", kommentiert er trocken. Nur der ihn misstrauisch beäugenden Freydis fällt der Seitenblick auf, den Uther Hjálmarr im Fortgehen noch schenkt, und sie schließt daraus:
Aha. Das hat er sich für später gemerkt.Insgesamt weiß sie nicht so recht, was sie von Uthers Auftritt halten soll. Ein wenig pompös. Großspurig. Klar, er will zeigen, dass er Herr über die Lage ist—und ist's wahrscheinlich nicht. Wenn er die Wahrheit gesagt hat, dann waren es die Mönche des Klosters, die sich gekümmert haben, und ihnen wird die Dankbarkeit der Leute gelten. (Die fernen Räuber werden sie nicht halb so sehr interessieren, damit wird Uther sich die Herzen seiner Untertanen nicht erobern können, selbst wenn seine Männer die Missetäter stellen.) Hat er aber nicht die Wahrheit gesagt, müsste man sich nach dem Grund fragen. Ein naheliegender wäre, dass er der Panik ein Ende setzen will, welche die Leute von Ansdag hinter geschlossenen Türen festhält, während auf den Feldern die Wintergerste überreif auf ihre Ernte wartet. Viel gehört nicht dazu, sich die Hungersnot im kommenden Winter vorzustellen, wenn das Getreide verkommt. Aber das wäre nur Freydis' erster Gedanke, befände sie sich an Uthers Stelle. Ob er ein Mann ist, der das naheliegende sieht, kann sie nach so kurzer Zeit noch nicht beurteilen.
[1]Aeryns Zustimmung dagegen nimmt Uther mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis, auch wenn ihre folgenden Worte ihn die Stirn runzeln lassen, doch er entscheidet sich dagegen, die Elbin zu korrigieren
[2].
"Mein Vater ist krank", erklärt er lediglich.
Dann macht er sich mit Abdo, Hjálmarr und Talahan zusammen an die Arbeit. Nachdem er rasch ein paar Seile aus einem nahen Stall besorgt hat, ist zunächst der Gaul und dann das Schwein dran. Zu dritt und dank der Seile hat man diese beiden Kadaver bald an die Stirnseite des Platzes geschafft, welche sich zur Dorfwiese öffnet, die sich ihrerseits bis zum Bach hin erstreckt. Der Platz ist gut gewählt. Die beiden am nächsten gelegenen Häuser sind Steinbauten und mit Holzschindeln gedeckt, nicht mit Stroh. Funkenflug sollte kein Problem sein, zumal kaum einmal ein Windhauch ihre überhitzten Gesichter erfrischt. Binnen Kürze sind alle vier nassgeschwitzt und der Kadavergeruch sitzt fest in ihren Nasen. Immer verlockender wird der Gedanke auf ein Bad im nahen Bach nach getaner Arbeit!
Nach dem Pferd und dem Schwein wird's einfacher. Die vier tragen zusammen: zwei Ziegen, drei Schafe und vier Lämmer, siebzehn Hühner und einen Hund. Letzteren hätten sie fast übersehen. In einem Verschlag für Feuerholz hat er sich in die hinterste und dunkelste Ecke verkrochen; Abdo, der ihn entdeckt hat, duckt sich hinein, befestigt das Seil an einem Vorderlauf und zieht das Tier ins Freie. Es ist ein großer, schwarzer Hütehund. Nein, fuchsbraun war das Tier einmal, doch sein Fell ist verklebt mit schwarzem, getrockneten Schleim. Ein zweiter Fund gelingt ebenfalls nur dank Abdos scharfer Augen: ein komplettes Rattennest.
[3]Uthers Versuche, weitere Helfer zu rekrutieren, schlagen leider fehl. Die Hitze, die dreckige Arbeit, das scheint ihm doch aufs Gemüt zu schlagen. Je öfters er Ausreden zu hören bekommt oder gar nur ein Kopfschütteln zur Antwort, desto mehr verliert er die Geduld mit den Leuten, desto deutlicher zeigt er seine Verachtung für die Feigheit und schicksalsergebene Untätigkeit der Dorfbewohner.
"Verdammt noch mal, seid ihr Männer oder was? Was glaubt ihr denn, wer euch und eure Familien schützen soll, wenn ihr selbst dafür nicht einmal einen Finger krumm macht!" platzt er schließlich heraus.
"Nicht einmal so viel wollt ihr tun, ihr feigen Hunde!"[4] Zu seinen drei Helfern murmelt er errötend.
"Ist doch wahr! Ganze drei Burschen im ganzen Ort waren bereit, bei der Räuberjagd zu helfen, dabei sind die Räuber eine Gefahr für alle. Immer dreister werden die Überfälle, immer näher wagen sie sich an Ansdag heran. Wo soll das enden? Und der gute Pater predigt derweil von der Kanzel herab, man solle auf den Schutz des Einen Gottes vertrauen, er helfe den Notleidenden und erhöre die Gebete der Schwachen. Von der irdischen Obrigkeit aber braucht man keinen Schutz erbeten, nein, man darf ihn fordern, dazu seien sie ja schließlich da! Ja wie, ganz ohne Männer, die mitanpacken? Allein soll ich die Räuberbande stellen? Wie lächerlich diese Forderung ist—und wie weit sie mit ihren Gebeten kommen— werden die Leute erst merken, wenn die Räuber demnächst vor Ansdag stehen!""Oh, keine Sorge", meldet sich Talahan unvermittelt zu Wort.
"So weit wird Pater Halfir es nicht kommen lassen." Einen Schreckmoment lang starrt der Prinz ihn nur ungläubig an; offenbar überlegt er noch, ob er da recht gehört hat. Talahan wartet so lange, bis der Prinz zu einem Entschluss gekommen und sein Gesicht entsprechend dunkelrot angelaufen ist, bevor er nachsetzt:
"Ist die Situation erst einmal so weit eskaliert, tauchen im letzten Moment die Krieger des Lichts auf und retten alle. Und die Bevölkerung jubelt ihren Rettern zu. Und die Retter bleiben. Zum Schutz."[5]Die Erklärung lässt Uther erschauern. Drei Burschen, die im nahen Stalleingang lungern (und in deren Richtung Talahan vornehmlich gesprochen hat), scheinen nicht zu begreifen, wovon überhaupt die Rede ist. Sie rühren sich nicht.
Und so ist die einzige Hilfe, die man von den Dorfbewohnern einzufordern schafft, einige Karren Feuerholz, Stroh und ein kleines Töpfchen Fackelpech.
~~~
Bei all diesem Ärger verwundert es nicht, dass Uther den Zuruf Freydis', wem denn das Pferd gehöre, nicht mitbekommt. Antwort erhält sie trotzdem.
"Gehört 'nem Pilger", ertönt eine männliche Stimme hinter ihr. Als sie sich umdreht, sieht sie ein bärtiges Gesicht durch einen Spalt der Fensterläden lugen.
"Vor neun Tagen bei uns abgestiegen. Gleich am nächsten Morgen auf zum Kloster, noch nicht zurück. Das Vieh ist uns letzte Nacht aus dem Stall getürmt. Vielleicht bringt Ihr's ums Haus? Hättet eine Übernachtung gut bei uns." Freydis' Blick geht nach oben, wo ein bunt bemaltes Schild, mit wohlwollender Phantasie, einen Hahn zeigt.
Derweil wird Aeryn am Arm in eine Ecke abseits aller Fenster- und Türöffnungen gezogen. Statt aber die Fragen zu beantworten, kommentiert Frida zunächst den Wutausbruch des Prinzen:
"Geschämt habe ich mich für unser ganzes Dorf. Man kann von Uther halten, was man will, aber in der Sache mit den Räubern hat und hatte er recht. Zwei Dutzend Männer hätten wir ihm mitschicken sollen. Mindestens. Das ganze dumme Gerede über Zuständigkeiten. Zwei Burschen aus unserem Dorf waren beim letzten Handelstreck dabei, ihre Leichen derart in Stücke gehauen, dass die eigenen Mütter sie kaum wiedererkannten!"Sie fängt sich wieder.
"Am Tag nach dem Sturm waren wir beim Kloster oben, aber es hat uns keiner geöffnet. Seitdem wird nur geredet, wir sollten noch mal hin und einbrechen, falls sich abermals keiner zeigt, aber dann fingen die Probleme hier im Ort an und keiner traute sich mehr raus. Es könnte stimmen, was Uther sagt." Sie schaut unsicher.
"Aber warum hat sich seither keiner der Mönche in Ansdag gezeigt? Warum ist Hensgars Pilger noch nicht wieder aufgetaucht? Und wieso..." sie schluckt,
"wieso hat Ilf seine ganze Familie getötet? Wieso, wenn dies keine Dämonenseuche ist, hat er sich in einen Dämon verwandelt und seinen beiden Schwestern die Kehle durchbissen? Der Mutter mit bloßen Händen die Eingeweide aus dem Leib gerissen? Eine ersoffene Schafsherde soll das erklären können?"~~~
So sehr Solveig bemüht ist, ihre Erleichterung zu verbergen, so wenig gelingt es ihr. Sie mag eine kompetente Heilerin sein, aber mit dieser Situation, so ganz ohne Unterstützung, wäre wohl jeder überfordert.
"Danke", sagt sie leise. Dann warnt sie noch einmal:
"Aber fasst das Zeug nicht an, ja? Hast du feste Handschuhe? Sonst nimmt meine. Hier." Aus einem kleinen Schubladenschrank holt sie ein Paar dünner Handschuhe aus glattem, geschmeidigen Leder heraus und drückt sie Lîf in die Hand. Nur kurz wird ihr Blick skeptisch: als Lîf ihren Mann lobt. Ein Blick zur Tür, dann wieder zu Lîf.
"Die meisten Männer haben nicht die Frau, die sie verdienen", lautet, doppeldeutig, ihre Schlussfolgerung.
Die Kratzer an Solveigs Arm scheinen gut zu verheilen. Aber erstaunlich tief sind sie! Das lässt sich mit 'langen Fingernägeln' auf jeden Fall nicht erklären, das sieht mehr nach einem Raubtier aus. Jedenfalls nicht infiziert, soweit Lîf beurteilen kann. Das darf man Solveig ja wohl auch zutrauen, dass sie Wunden zu reinigen weiß. Vielleicht wäre der Biss gefährlicher gewesen? Bei tollwütigen Tieren ist es ja so, dass der Biss—der Geifer in der Wunde—die Krankheit auf den Menschen überträgt. Und so wie Solveig die nächtliche Attacke beschrieb, war Dana ja wie toll gewesen und hat ihre Heilerin—ihre Freundin?—beißen wollen.
[6]Aber dann ist es Zeit zu gehen, will man heute noch den Bach hinauf und wieder zurück nach Ansdag. Schon im Gehen begriffen, erinnert Lîf sich an ihr Versprechen und händigt Solveig ihren gefüllten Wasserschlauch aus. Ihr Mann trägt zwei und morgen früh kann sie Gaja um die Gabe des Wassers bitten.
[7]"Viel Glück", verabschiedet sie sich von Solveig und dem Grauen Barnas.
"Dir auch", wünschen die beiden ihr.
Als Lîf vor die Hütte tritt, sieht sie ihren Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einer Eiche auf und ab marschieren.