Erste Zweifel an der Lebensphilosophie der Insel-Clans—dass ein freier Mann sich die Dinge, die er haben wollte, einfach nehmen sollte, gerne auch mit Gewalt—überkam Tristan in dem Augenblick, als Lîf in sein Leben stolperte. Da stand die junge Festländerin vor ihm zitternd und schluchzend, beides aber so sehr vor Zorn wie vor Angst—so bewies das kleine Messer in ihrer Hand, mehr Werkzeug als Waffe, das sie dennoch gegen ihn erhob, als glaube sie tatsächlich, ihn damit abwehren zu können—und er, er wollte sie auf der Stelle haben. Dazu müsste er nur zwei Schritte vorwärts tun, sie entwaffnen, zu Boden reißen und sich nehmen, doch gerade noch rechtzeitig erkannte er das Problem dabei: In dem Moment, da er sie sich auf diese Weise nähme, wäre sie nicht mehr, was er haben wollte.
Es war seine sechzehnte Fahrt. Aufs Jahr genau sein halbes Leben fuhr er jetzt schon mit seinen Brüdern die Küsten Dalarans auf der Jagd nach leichter Beute ab. Selten war ihnen dabei eine so leichte Beute über den Weg gelaufen wie heute. Die Schwerter hatten nur kurz geklirrt, eine handvoll Wachen war röchelnd zu Boden gesunken, dann waren zwei Dutzend Frauen—einige ältere darunter, gut die Hälfte aber fast noch Mädchen—ihm und seinen Drachenbrüdern schutzlos ausgeliefert. Und so hörte man ringsum jetzt auch nichts weiter als Kreischen und Schluchzen, dazu Grunzen, Johlen und ermunternde Zurufe.
Eine Bewegung im Augenwinkel ließ Tristan vorschnellen und das rothaarige Mädchen packen.
"Sie gehört mir", erklärte er dem einäugigen Ansgar, der doch tatsächlich versucht hatte, an ihm vorbeizugelangen und sich das Recht des Ersten herauszunehmen, das eindeutig Tristan zustand.
"Ja Mensch, dann beeil dich!" knurrte Ansgar.
"Ich will auch mal."Das Messer des Mädchens fiel zu Boden, als Tristan ihr den Arm auf den Rücken drehte. (Sie ließ ihm keine Wahl, was musste sie auch nach ihm stechen? Natürlich hatte sie nur Luft getroffen, aber bei Gaja, ihre Beherztheit gefiel ihm. Kampfgeist könnte man es nennen, wäre sie ein Mann.)
"Du verstehst nicht, Ansgar", sagte Tristan.
"Sie ist mein." Und da eine solche Ansage unter Fahrtenbrüder erst dann rechtskräftig wurde, wenn sie dreimal ausgesprochen worden war, wiederholte er:
"Sie ist mein. Niemand außer mir rührt sie an."Damit hatte Tristan gerade auf weitere Beute quasi verzichtet. Ein junges, gesundes, noch dazu hübsches Ding wie dieses hier zur Kebsfrau, das käme ungefähr seinem gesamten Anteil an der diesjährigen Beute gleich—wie Ansgar ihm auch sogleich hämisch vorrechnete, gefolgt von teils frechen Forderungen.
"Schön", sagte Tristan.
"Nimm dir die beiden Schafe, das deckt deinen Teil ja wohl mehr als ausreichend ab. Den Rest meiner Ansprüche verteil ich heute abend."Ansgar zog zufrieden grinsend ab und stellte sich bei einem der anderen Mädchen unter die Wartenden.
"Komm, lass uns schon einmal in Richtung unseres Drachen gehen", forderte Tristan das rothaarige Mädchen auf. Zu ihrer Überraschung sprach er jetzt Suli, so gut wie akzentfrei noch dazu, und nicht mehr diese grässlich kehlige Sprache der
Semänsklig (wie die räuberischen Insel-Clans in Fersland genannt wurden), von der sie kaum die Hälfte verstand.
"Du willst das hier nicht mitansehen, und andere meiner Brüder werden sich vielleicht nicht so leicht abwehren lassen wie Ansgar. Nicht, wenn ihr Blut noch so in Wallung ist wie jetzt. Später werde ich meinen Anspruch wohl durchsetzen können." Er überlegte kurz, dann fügte er noch hinzu:
"Bitte, hab' keine Angst. Von mir droht dir nichts."Denn das, was er von ihr haben wollte, ließ sich nicht mit Gewalt nehmen. Denn er wollte sie so, wie sie jetzt war—nicht gedemütigt, geschändet, geschlagen, gebrochen. Er wollte dieses wundervolle Geschöpf, dieses reizende junge Ding—wie alt sie sein mochte? So alt wie die erste Tochter, die eine seiner Kebsen ihm geboren hatte?—er wollte dieses Mädchen genauso, wie sie vor ihm stand.
Die Blicke, mit denen sie ihn auf dem Weg immer wieder bedachte, ließen ihn daran zweifeln, ob sich auf ihr Gesicht jemals der Ausdruck von Zärtlichkeit legen würde, ihre Lippen jemals ein "Ja" formen könnten. Als er später jedoch die gebrochenen Mienen der anderen Mädchen musterte, war er sich dennoch gewiss, das richtige getan zu haben. Wie er zu diesem Urteil gelangte, wusste er nicht, nur dass er im Herzen froh war, seine Lîf nicht so dasitzen zu sehen. Kurz überlegte er sogar, ob er sie nicht irgendwo heimlich freilassen könne, in der Nähe irgendeines Dorfes. Es müsste natürlich auf eine Art geschehen, die nicht auf ihn zurückfiel, man müsste es so darstellen, als sei sie geflohen, das würde ihm schon genug Spott einhandeln, aber wenigstens keinen richtigen Ärger.
Doch sein Drachenführer beschloss—da menschliche Beute sich nun einmal so schwer bändigen ließe—dass man sich mit den anderen drei Booten träfe, zwei Drittel der Männer darauf verteile, während der Rest mit den Mädchen und der bisherigen Beute schon einmal nach Jarlsö zurückkehrte.
Und so war Tristan drei Wochen später mit seiner rothaarigen Beute daheim, ohne dass sich unterwegs eine Gelegenheit geboten hätte, Lîf freizulassen. Und darüber war er, ehrlich gesagt, sehr froh. Sie brachte Licht und Leben in sein Heim, von denen er zuvor gar nicht gewusst hatte, wie sehr er beides vermisste.
Als einzige Magd außer der alten Hulda bekam Lîf eine Schlafkammer im Haus, ganz für sich allein und fast so groß wie die seine. Das Misstrauen leuchtete in ihren Augen, als er ihr die Kammer zuwies, und wich erst nach einigen Wochen dem Erstaunen, so wollte er es zumindest erkennen, als sich ihre Befürchtungen noch immer nicht bewahrheitet hatten.
Das Mädchen war fleißig und fügte sich erstaunlich willig in ihr neues Leben ein. Bald schon konnte Tristan sich das seine ohne sie nicht mehr vorstellen. Wenn sie zu ihm ins Zimmer trat, hob sich seine Stimmung sofort, egal wie düster seine Gedanken zuvor gewesen sein mochten. Wenn Lîf nach dem Essen noch mit dem Geschirr hantierte, folgte sein Blick jeder ihrer Bewegungen. Er selbst war satt, doch seine Augen waren hungrig.
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Sein Versprechen, sie nicht anzurühren, hielt Tristan, bis im Herbst die restlichen Drachen zurückkehrten. Zwei Tage später kam er abends nach Hause, aß schweigend, was sie gekocht hatte, ohne auch nur zu bekunden, ob es ihm schmeckte oder nicht. Nach dem Essen—Lîf wollte die Schüsseln wegräumen und reinigen—hielt er sie am Handgelenk zurück.
"Es ist nicht genug", sagte er.
"Ich hatte gehofft, es wäre genug, um dich zu schützen. Aber du bist einfach zu hübsch, weißt du? Sonst wären sie nicht so hartnäckig. Sonst kämen sie mir nicht mit Gesetzen, wo Kameradschaft doch mehr zählen müsste. Bitte setz dich, Lîf, und hör' mir erst einmal bis zum Ende ganz ruhig zu."Die Mahnung kam gerade noch rechtzeitig, denn Lîf, die Augen schreckensweit, das Gesicht blass, die Lippen aber schmal vor Wut, wollte gerade protestieren. Doch jetzt hörte sie erst einmal zu, wie Tristan ihr die Lage erklärte. Die Gebräuche und Gesetze der Inselvölker waren anders, als sie es vom Festland gewohnt war. Härter. Unbarmherziger. Auf menschenverachtende Weise pragmatisch. Es galt das Recht des Stärkeren. Moral oder den Schutz der Schwächeren suchte man darin vergebens.
Folgendes erklärte Tristan ihr mit derart ernster Stimme und ebensolchem Blick, dass sie nicht einen Augenblick daran zweifeln konnte, dass er die Wahrheit sprach: Wer eine Leibeigene—und dazu zählte Lîf als Kriegsbeute—schändete, schlug oder gar tötete, zahlte ihrem Herrn dafür eine Geldstrafe oder besorgte ihm gleichwertigen Ersatz. Wer sich aber, wie Tristan, von einer Fahrt ein Weib als Beute heimführte und sie daheim dann verschmähte, also nicht als Kebsfrau in sein Bett nahm, dem könne jeder seiner Fahrtenbrüder die Beute mit vollem Recht wieder abverlangen, um die zuvor Verschmähte herauf ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Denn: unter Brüdern nahm sich jeder nur das, was er brauchte! Auf den Inseln überlebte nur, wer nichts verschwendete! Wenn er, Tristan, ihr also nicht noch in dieser Nacht beiwohne, so würden morgen schon seine Fahrtenbrüder—das hatten diese ihm heute nur allzu deutlich gemacht—über Lîf herfallen.
Als seine Kebsfrau aber sei sie vor allzu leichtsinnigen Übergriffen geschützt—und trotzdem nicht vor allen. Sie gelte dann immer noch als unfrei, als sein Besitz. Und Besitz ließ sich durch Besitz ersetzen. Die Geldstrafe bei genannten Vergehen mochte etwas empfindlicher ausfallen, es würde nicht mehr jeder, der mit ihm auf Fahrt war, sich dies leisten können, aber mindestens ein Dutzend davon waren reich genug, dass die Strafe sie nicht weiter stören würde. Und wie bereits gesagt: Lîf war halt zu jung und zu schön.
"Da hilft nur eins, Lîf", sagte Tristan. Er nahm etwas von seinem Gürtel und hielt es ihr hin. Es klirrte leise. Lîf traute ihren Augen kaum: es war sein Schlüsselbund. Er bot ihr an: die Herrschaft über sein Haus und seinen Hof, sein Land, Vieh und Gesinde, all sein Hab und Gut. Über all das sollte sie herrschen, ihm untergestellt natürlich, außer wann immer er mit seinen Fahrtenbrüdern unterwegs wäre, denn dann herrschte daheim die Frau alleine. Er bot ihr den Platz an seiner Seite. Nicht als seine Leibeigene. Nicht als Kebsfrau. Als seine Hauptfrau, Herrin seines Hauses, mit allen Rechten und Pflichten. Frei vor dem Gesetz.
"Werde meine Frau, Lîf. Werde mein, dann kann dir keiner was, ohne meine Blutrache zu fürchten und zudem Schande über seine Sippe zu bringen. Gebe dich mir hin, so soll mein Leib dir gehören wie mir der deine, und es soll in diesem Leben kein anderer Mann dich anrühren können außer über meinen kalten Leib!"Noch immer hielt er ihr seinen Schlüsselbund hin. Von ihrem Gürtel hängend wäre er eines der höchsten—hier auf den Inseln
das höchste—Statussymbol, das eine Frau besitzen konnte.
Und der Mann, der ihr dies alles anbot, Freiheit, Stand, den Schutz seines Körpers, der sie auf der anderen Seite aus ihrer Heimat geraubt hatte, dessen 'Fahrtenbrüder' ihre Heilerinnenschwestern geschändet, verschleppt, einige sogar getötet hatten, der dies, so musste man annehmen—zu recht? zu unrecht?—auf früheren Fahrten wohl selbst anderen Frauen auch schon angetan hatte, dieser Mann, der außerdem fast doppelt so alt war wie sie, stand vor ihr, die Schlüssel noch immer erhoben, und wartete auf ihre Antwort. In der plötzlichen Stille hörte man erst, wie schwer sein Atem ging. Und welch Glut in seinen Augen! Diese Glut könnte eine Frau noch in der kältesten Winternacht wärmen.
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Sie hat Angst vor mir, dachte Tristan erschrocken, als sein Blick das erste Mal über Lîfs nackten Körper glitt.
Wie sie zittert! Die Kälte kann es nicht sein, ich habe doch extra einfeuern lassen!Er trat einen Schritt auf sie zu. Sie wandte lediglich den Kopf zur Seite, lugte über die Schulter in seine Richtung, aber verharrte mit dem Rücken zu ihm. Ihre Linke suchte Halt an der Lehne des Stuhles, auf dem ihre Kleidung sorgsam zusammengefaltet lag. Obenauf ihr Gürtel mit seinem Schlüsselbund. An dem Ernst seiner Absicht konnte sie nicht zweifeln: sein Eheweib sollte sie sein. Und trotzdem zitterte sie. Ein weiterer Schritt brachte Tristan heran. Er beugte sich über ihre Schulter, küsste ihren Nacken und sprach ihr dann leise ins Ohr:
"Die Priester des Einen Gottes predigen, dass es Sünde sei. Wenn ein Mann eine schöne Frau begehrt: Sünde! Wenn eine Frau einem Mann einen scheuen Blick zuwirft: Sünde! Wenn sie sich für ihn hübsch macht, sich nach seinen Blicken sehnt, seiner Nähe, seiner Berührung: Sünde, dreimal Sünde! Glaubst Du, Gaja weint manchmal? Oder tobt sie vor Zorn? Vielleicht ruft sie auch aus: Ihr dummen, dummen Menschen! Wie blind muss man sein! Um zu denken, es könnte Sünde sein, mein Geschenk an euch! Es ist doch mein schönstes Geschenk an euch. Auf dass ihr wisset, wie sehr ich mich über jedes neue Leben freue, sollt ihr jedesmal, wenn ihr neues Leben schafft, einen Teil meiner Freude empfinden. Denn ich bin das Leben und mein ist die Freude."
Er umfasste sie mit beiden Händen, zog sie zu sich heran. "Mein ist die Freude", wiederholte er. "Hab' keine Angst."
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In der Halle des Jarls am nächsten Tag lief die Vorstellung Lîfs als neue Herrin seines Hauses glatter als erwartet. Zwar war es in dieser Generation noch nicht vorgekommen, dass ein Mann seine Kriegsbeute zum legalen Eheweib nahm, aber einige Ältere erinnerten sich an Beispiele von früher. Es gab sogar ein altes Gesetz, wonach eine Ehe, falls sie noch nicht vollzogen werden konnte, nicht galt, wenn es der Sippe der Frau gelang, diese binnen eines Tages und einer Nacht zurückzustehlen—woraus man schließen konnte, dass der Frauenraub in Vorzeiten offenbar hauptsächlich dem Zweck der Eheschließung diente. Vor allem aber war Tristan ja selbst eine Ausnahme gewesen: Kriegsbeute auch er, doch wegen seiner Fähigkeiten als Sänger war er ein freier Mann geblieben, der dem alten Skalden zur Hand ging und später auch nachfolgte. Dass Tristan es nun ähnlich hielt, sprach Jarl Gisle aus, was die Leute ringsum dachten, war nur zu erwarten gewesen und außerdem ganz im Sinne Gajas und der Ahnen. Zumal Lîf, fügte er hinzu, für die Dorfgemeinschaft ähnlich kostbare Fähigkeiten besaß wie Tristan damals—wie ihm bereits aus verlässlicher Quelle zu Ohren gekommen sei.
Darauf trat die alte Druidin vor, um dem Jarl beizupflichten und sogleich anzufragen, ob Tristan denn erlauben wolle, dass sein junges Eheweib, statt sich den ganzen Tag um die Verwaltung seines Hofes zu kümmern, einige Zeit bei ihr verbrächte, damit sie das gelehrige Kind in die höheren Geheimnisse der Heilkunde einweihen und ihr Gajas Weg zeigen könne.
Ein Blick in die Augen seiner Frau—leuchtend, bittend—und Tristan willigte ein. In diesem Moment hätte er wohl zu allem Ja gesagt: in seinem ganzen Leben war er noch nie so glücklich gewesen. Er sprach sogar aus, was er dachte, vor allen Leuten in der Halle des Jarls, und hob dabei seinen Kelch mit Met in ihre Richtung, wie nur gleich und gleich einander lobpreisen kann:
"Mein schönes, kluges Weib! Ich bin so stolz auf dich."