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Autor Thema: Das Disenthing  (Gelesen 44521 mal)

Beschreibung: Kapitel 1

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Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #15 am: 23.08.2017, 11:42:45 »
Als die Stimmen plötzlich in der Dunkelheit um sie aufklingen, erschrickt das Mädchen doch. Die eine so voller Hohn beängstigt sie besonders, doch die zweite, belustigte, verwirrt Lîf, und jene dritte, aus weiter Ferne, lässt irgendeine Saite in ihrem Inneren schwingen, so dass ihr ganz weh ums Herz wird... Stumm lauscht sie dem Widerhall der Worte, die hin und her zu fliegen scheinen, krampft ihre kleinen Händchen ineinander, wagt kaum zu atmen. Doch wie die drei Weiber – wer mögen sie wohl sein – so streiten, lachen, spotten, sinnen, wird ihr nach und nach klar, worüber sie sprechen. Und obwohl es stockdunkel ist, fühlt sie ihre Wangen rot glühen. "Aber ich... aber..." versucht sie einige Male mit ihrer dünnen Kinderstimme einzufallen, ohne sich durchsetzen zu können. Orientierungslos schwebt sie durch die Finsternis, jagt den Stimmen nach, die immer wieder an anderen Stellen aufzuklingen scheinen, während sie bemerkt, wie ihre Gefühle sich langsam zu verwirren beginnen, den Stimmen sich anzugleichen. Ja, sie empfindet Zorn und Empörung, wenn die erste spricht, spürt ein spöttisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen, Unverständnis, wenn die zweite sich meldet, und wenn die Stimme der dritten erklingt, wird ihr so weich ums Herz, so warm und sanft...

Dann hat sie das Gefühl, sich an etwas zu erinnern. An etwas, das sie nie erlebte und doch Teil ihrer Vergangenheit ist. Einer Vergangenheit, die sie auch jetzt noch nicht berührt, ja, noch nicht einmal aus weiter Ferne erahnt hat. "Ulmentochter..." wispert sie leise. Der Klang des Wortes hat etwas vertrautes, das sich anfühlt wie ein Lieblingskleid, das man schon lange getragen und liebgewonnen hat, das sich dem Körper angepasst hat und sich nun warm und glatt an die Haut schmiegt. "Ich bin... bin ich... bin ich ihr?" fragt sie in die Dunkelheit hinein. Und sie fühlt wieder den Zorn und die Scham, die Wärme und die Liebe, alles zugleich. "Ich bin... eine von euch" wiederholt sie, die helle, klare Mädchenstimme erhebend, die nun mit einem Mal die Weiten der dunklen Höhle mit ihrem Klang auszufüllen scheint, obgleich sie nicht schreit. Die Wände aus feuchter, fruchtbarer Erde werfen sie zurück, lassen sie tanzen zwischen dicken Wurzeln, großen Steinen und schweren Erdklumpen. Und das Mädchen streckt die Arme zur Seite aus und beginnt ebenfalls zu tanzen.

Leicht wie Libellenflügel breitet sich ihr Kleid aus, entfaltet sich zu einer Blüte aus Stoff, getragen von einem Wind, der nicht hörbar und nicht spürbar ist. Und die kleine Lîf dreht sich um ihre Achse, legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und lässt sich treiben, eine schwebende kleine Blume mitten im Schoß der Großen Mutter. Die Stimmen der drei Weiber klingen noch in ihren Ohren, sie weiß nicht: reden sie noch zu ihr, oder ist es die Kraft der Erinnerung, die sie am Leben erhält? Ein Lächeln breitet sich auf dem kleinen Gesicht mit den weichen, kindlichen Zügen aus, als sie fühlt, wie sich die widerstreitenden Weiber in ihr vereinen, um ein einziges, facettenreiches und doch harmonisches ganzes zu bilden, das so widersprüchlich erscheinen mag, dass es eine Mannsperson in den Wahnsinn treiben kann, das sich manchmal selbst nicht versteht, das oft mehr nach dem Herzen als nach dem Verstande urteilen wird und doch spürt, dass es von der Großen Mutter selbst so gewollt ist, wie es ist: ein Weib. Ein Weib namens Lîf. Und das Weib öffnet die Augen, die nun die Dunkelheit durchdringen, ein düsteres Dämmerlicht erfassen. Es erinnert sich und beginnt nach einem zu suchen, der ihm sagen kann, was es zu wissen begehrt.

~~~

Röchelnd und würgend bäumt sich Inga unter Tristans Griff auf, kommt aber nicht gegen die Kraft eines Mannes an. Er schlingt seine Arme von hinten um sie, presst sie an die Stuhllehne und gibt so Esja und der Magd genug Spielraum. Die Alte tritt dicht an das panische junge Weib heran, hebt ein Knie und setzt es ihr ohne viel Federlesens am Unterbauch an, nagelt sie mit Tristans Hilfe auf dem Stuhl fest und drückt mit einer ihrer hageren Hände auf die Stirn Ingas, fixiert ihren hin und her zuckenden Kopf. "Jetzt, Mädchen – los doch!" befiehlt sie der sichtlich eingeschüchterten Magd, die es nach mehreren erfolglosen Versuchen schafft, Inga die Holzstäbe in die Mundwinkel zu stecken. Als ihr die Kiefer aufgehebelt werden und sie mit zwangsweise aufgesperrtem Mund bewegungsunfähig auf dem Stuhl sitzt, gehen Ingas krampfartige Zuckungen in ein Zittern und ein ängstliches Gurgeln über. Mit geweiteten Augen, in denen nackte Angst sitzt, sieht sie zu der alten drudkvinde empor. Die brummt leise: "Hab keine Angst, Kindchen, ich helf' dir ja nur..." Das hindert sie aber nicht daran, das kleine, im Licht aufblitzende Metallwerkzeug von dem Kettchen zu nehmen und, mit gerunzelter Stirn und einigen prüfenden Blicken, in Ingas Rachen einzuführen. Tristan spürt, wie sie daraufhin wieder in Panik zu kämpfen beginnt, würgend und mit den Beinen strampelnd.

Esja beugt sich tief über Inga, mahnt einige Male gereizt Tristan und vor allem die blasse Magd, das junge Weib ruhig zu halten, und scheint nach etwas zu suchen. Bange Momente vergehen, in denen auch von den Zuschauern niemand sich rührt oder einen Ton von sich gibt. Nur das gequälte Röcheln Ingas und das Knistern eines kleinen Feuers unterbrechen die Stille. Die weichherzige Gertrud legt Egil eine Hand auf den Unterarm. Der Schmied, dessen großen, knochigen Fäusten so riesige Kraft innewohnt und von dem alle denken, schier nichts könne einen solchen Hünen erschüttern, schaut nun hilflos zu, blass, Schweißperlen auf der Stirn. Er muss sein junges Weib sehr lieben, denn bei jedem Wimmern, jedem Aufbäumen Ingas beißt er sich auf die Lippen, ballt die Fäuste, stöhnt leise.

Da endlich zieht Esja die Hand zurück, hebt das schimmernde Instrument, eine einfache Pinzette, und hält sie triumphierend in die Höhe. Darin kann man im schwachen Licht undeutlich eine Art Dorn ausmachen – eine Gräte, jedoch von ungewöhnlicher Länge. "Das war's – da haben alle bösen Geister ihre Finger im Spiel gehabt" meint die Alte und betrachtet sich das Ding von allen Seiten. "Hatte sich ausgerechnet in den Kehldeckel gespießt..." Die zitternde und röchelnde Inga ist nun erschlafft und bietet Tristans Armen keinen Widerstand mehr. Auf Esjas Nicken hat die Magd auch ihren Mund wieder freigegeben. Totenblass hängt sie auf dem Stuhl. Doch die drudkvinde meint resolut zu dem herbeieilenden Egil: "Nur die Ruhe, Jungchen! Es hätte sie nicht umgebracht. Hat ihr nur das Gefühl gegeben, keine Luft zu bekommen, und da ist das dumme Ding kopflos geworden. Wahrscheinlich hatte sie starke Schmerzen, und vielleicht hätt' sich's auch noch entzündet, auf Dauer." Sie schüttelt brummend den Kopf, als der hünenhafte Mann an Ingas Seite eilt und sichtlich mit Tränen der Erleichterung kämpft.

Doch dann wird ihr faltiges Gesicht bei diesem Anblick weicher, und sie fügt etwas sanfter hinzu: "Na, na, ist ja nun alles überstanden! Bring dein Weib rüber ins Langhaus. Ich mische ihr einen Trunk mit Honig, den soll sie langsam in kleinen Schlucken trinken. Dann sind die Schmerzen bald vorüber." Sie zwinkert Tristan und der Magd zu, während Egil stumm nickt, sein Weib auf die Arme hebt und hinausträgt, an den starrenden Zaungästen vorüber, die von der Alten alsbald hinausgescheucht werden. Nachdem sie auch die Magd wieder in den anderen Raum geschickt hat – die Tristan und ihr noch einen scheuen Blick zuwarf, ehe sie verschwand – wendet sie sich an ihn und meint mit einem bärbeißig wirkenden Schmunzeln: "Ich werde ihr sagen, dass die wunde Stelle schneller verheilt, wenn sie schweigt. Dann steht ihr loses Mundwerk wenigstens mal für ein paar Tage still." Ihr Kichern klingt nicht bösartig, aber es lässt sie für einen Moment fast wie ein junges Mädchen erscheinen, das sich an einem Schabernack erfreut.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #16 am: 23.08.2017, 17:52:32 »
Als Lîf zu tanzen beginnt, verhallen die Stimmen der drei Geister im Hintergrund, doch kaum besinnt sie sich und will sich endlich auf die Suche machen, die Esja ihr aufgetragen hat, rufen die drei Stimmen ihr noch ein paarmal nach, immer leiser und wirrer werdend:

Bin ich ihr, fragt sie? Nein, wir sind wir! Aber du bist wie wir.
Du folgst uns nach, Saat unserer Saat, Ulmentochter!
Ich war die erste und hatte selbst zwei Töchter und einen Sohn, soviele als lebten, und meine Töchter hatten zweie und einen Sohn, und jene auch und weiter ging's auf diese Art, und immer nur lebten drei und reichten die Gabe weiter, und du bist drei mal drei drei mal drei drei mal drei.

Du bist die, von der verlangt wird, dass sie der Ulme Versprechen einlöst.
Du bist die Sonne, von der die Große Mutter will, dass sie dem Mond Kinder gebiert.
Du bist der Tag, dein Bezwinger die Nacht. Doch so wie am Abend er dich verschlingt, verschlingst am Morgen du ihn du ihn du ihn.

Also eigentlich ganz einfach, wie du siehst: mach weiterhin brav die Beine breit und lass dein finsteres Kraut weg—mehr verlangt niemand von dir.
Das kann man so ausdrücken, ich tät's aber nicht. Zwei Geschlechter sollt ihr vereinen, du mit ihm, die sich vor langer Zeit stritten und nun nicht mehr zueinander finden. Erst war es der Zorn, der sie trennte, dann der Stolz, dann der Hass, zum Schluss war's einfach so.
Aber muss es so bleiben so bleiben so bleiben?

Was bedrängt ihr sie so? Ich sage: wenn sie nicht will, dann muss sie auch nicht. Warum sollten die Kinder für die Taten ihrer Vorväter büßen?
Ach, aber um Buße geht es doch längst nicht mehr. Wem sollte sie noch nützen nach all den Jahrtausenden? Nein, was jetzt noch zählt ist allein die Versöhnung!
Und die Zukunft die Zukunft die Zukunft.[1]

Dann sieht Lîf endlich ein Licht vor sich—den Eingang zur Höhle, es gibt keinen zweiten—und sie schwebt, flüchtet fast, darauf zu. Bald darauf erreicht sie eine Lichtung im Wald, auf der steht ein einzelner, mächtiger Baum: eine Ulme natürlich, das erkennt sie sofort an der geschuppten Borke, den geflügelten Früchten, den Blättern, die Entenfüßen gleichen. Doch auch hier ist weit und breit kein Tier zu sehen. Statt dessen sitzt vor dem Baum eine rothaarige, nur leicht bekleidete Frau, lässig an den Stamm gelehnt, von roten Beeren naschend. Sie blickt Lîf erwartungsvoll entgegen.

Wie Lîf einige Schritte auf die fremde Frau zumacht, erkennt sie deren Halskette wieder. Genauso sieht die Kette der Großmutter aus! In einem kleinen Haus nebenan wohnte die knorrige Alte, solange Lîf sich erinnern kann. Alle Erwachsenen hatten Angst vor ihr und gingen ihr aus dem Weg. Sie muss sehr streng gewesen sein mit den eigenen Kindern, so hat die Mutter es Lîf erzählt, aber die Enkelin besuchte ihre Großmutter gern. Geschichten sponn die Alte so flink und unermüdlich, wie ihre Hände das Garn sponnen. Auch das Weben hat Lîf bei ihr gelernt. Diese drei Dinge verbindet die junge Frau mit der Großmutter: Spinnen, Weben und Geschichten erzählen. Und wann immer sie von den Eltern Schelte oder Schläge bekommen hatte, so lief sie in die Hütte der Alten und fand dort Trost. Von der Großmutter als einziger hat Lîf Abschied genommen, ihr hat sie die Nachricht an die Eltern anvertraut, als sie—nur etwas über ein halbes Jahr ist es her!—bei Nacht und Nebel davongelaufen ist, um eine richtige Heilerin zu werden.

Und nun sitzt die Großmutter hier als junge Frau vor ihr! Und der Stich ins Herz, den Lîf dabei verspürt, sagt ihr deutlicher als der klare Verstand, was dies zu bedeuten hat: die Großmutter ist tot.

~~~

"Ja, das wäre ein Segen", antwortet Tristan zerstreut, als er mit Esja plötzlich allein dasteht. "Aber wie geht es meiner Lîf? Warum liegt sie drüben wie leblos? Sie hat doch nichts falsch gemacht, oder? Das Tier war verletzt und sie musste es einfach... weil es in Not war... eine Kreatur in Not, das erträgt sie nicht, da muss sie nun einmal helfen!"

Gerade erst hat er sich über den jungen Schmied amüsiert, der so hilflos dastand mit feuchtem Blick, als seine dumme Inga in Not war, jetzt steht Tristan einerseits nicht ganz zu dumm da, noch stöhnt er vor sich hin wie ein waidwundes Tier, aber auf und ab marschiert er, und zwar händeringend.

"War ich doch zu voreilig? Hätte ich sie doch besser dies eine Mal noch zu Hause gelassen? Sie weiß noch so gar nichts über uns und die hiesigen Gepflogenheiten, sie ist noch so trotzig, so zornig, will sich nicht dreinfinden. Aber sie muss doch lernen! Sie muss sich doch einfügen! Und wie hätte es ausgesehen, für sie wie für die anderen, wenn ich sie daheim gelassen hätte, als schämte ich mich ihrer, als traute ich ihr nicht, als gehörte sie noch nicht wirklich zu mir? Dabei bin ich doch stolz auf sie. Und sie, auch wenn sie bloß 'Hmpf' gemacht hat, als ich ihr davon erzählte, hat sich doch sehr hierauf gefreut. Wie aufgeregt sie schon bald ins Planen geriet! Wie eifrig sie an unserer Festkleidung nähte! Wie sie plötzlich unsere Mägde hierhin und dorthin schickte, als hätte sie da endlich begriffen, dass sie die Herrin im Haus ist!"

Ein wenig erstaunt es ihn, dass er plötzlich so haltlos daherbrabbelt und all die Zweifel ausspricht, das ganze Hin und Her, das er still für sich meinte abgewogen zu haben, bevor er Ole überhaupt erst Antwort gab auf dessen Frage, ob er seine vorlaute Lîf denn dieses Jahr schon auf das Disenthing mitzunehmen wage oder lieber nicht.

"Nicht wahr, es war doch richtig? Dass ich sie mitnahm... und auch dem kleinen Heuler helfen ließ... Was die Leute da aber reden vonwegen, es sei gegen den Willen der Mutter, die Kräfte, die mein Weib schließlich durch sie empfängt, auf das Heilen eines Tieres zu verschwenden—das ist doch Unfug?"
 1. Ursprünglich war dies tatsächlich als einfache schamanische Unterweltsreise gedacht, bei der Lîf sich selbst erkennen sollte, so wie du's auch verstanden hast. (Ich dachte halt, Du schreibst die ganze Reise selber...) Aber dann hast Du mittendrin mir wieder den Ball zugeworfen, und ich kann ja eigentlich nicht beschreiben, was Lîf in ihrer innersten Seele findet, sondern nur die äußeren Umstände beeinflussen. Da kam ich nur auf genau zwei Optionen: dass die Trommeln irgendwie Einfluss nähmen oder eben, dass Lîf eine Vision hätte (sprich Ahnengeister). Na ja, so kam es zu den Dreien.
« Letzte Änderung: 23.08.2017, 22:26:20 von Tristan »

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #17 am: 24.08.2017, 12:08:21 »
Die Stimmen der drei Weiber klingen um sie herum auf, die Worte fliegen durch das Dämmerlicht, Lîf wirbelt um ihre eigene Achse, schwebt umher – und immer mehr verdichtet sich in ihr das Gefühl, dass dies alles gut ist, wie es ist. Die Dinge müssen so sein: die Höhle, die Düsternis, die drei Weiber, sie selbst... Vertrauen auf die führende Hand der großen Mutter breitet sich in ihr aus, macht sie ruhig, gelassen und sogar ein wenig fröhlich. Singen möchte sie wie das kleine Mädchen, das sie ein paar Atemzüge zuvor noch war, ihre Zöpfe fliegen lassen in einem ausgelassenen Reigen. Ja, sie beginnt zu verstehen..! Nicht, wie andere verstehen, die Gaya nicht so lieben und dienen wie sie, wie die Mannsleute zu verstehen glauben, mit ihren kümmerlichen Gedanken, die niemals die ganze Herrlichkeit Ihrer Schöpfung werden erfassen können! Nein, sie versteht mit dem Herzen, verschmilzt mit den drei Weibern, mit der Erde, dem Schoß der Mutter, der sie umgibt, wird in einem Herzschlag zum Weib, zur Schwangeren, zur Mutter und endlich zur Greisin, ehe sie zu Ihr zurückkehrt und aus Ihr neu geboren wiederkehrt, die Welt mit einem lauten Schreien begrüßt, an einer großen, nährenden Brust Kraft schöpft, zum Mädchen wird, zur Jungfrau und wiederum zum Weib...

Und die Worte der drei hallen in ihrem Kopf wieder. Zwei lange verfeindete, entfremdete Geschlechter vereinen... was mögen sie meinen? Versöhnung? Die Zukunft... ihre Zukunft – mit ihm..? Neugierig bewegt sie sich auf das Licht zu, die riesige, wundervolle, mächtige Ulme, breitet die Arme aus und jauchzt vor Freude! Dann hält sie inne, als ihr Blick auf den Rotschopf vor ihr fällt. Ein Spiegelbild ihrer selbst..? Und plötzlich erkennt sie die Halskette, weiß, wer das Weib vor ihr ist und was ihr Hiersein bedeutet! Es tut weh und ist schön zugleich: Der Schmerz darüber, dass die Großmutter ihre Welt verlassen musste, mischt sich mit der Erkenntnis, dass sie nun zurückgekehrt ist zu ihrer aller Mutter und darauf wartet, erneut geboren zu werden. "Großmutter..!" ruft Lîf, breitet die Arme wieder aus und eilt auf sie zu, kniet vor ihr nieder und umarmt sie, herzt sie. "Großmutter!" schluchzt sie, salzige Tränen vor Freude wie vor Trauer vergießend. Dann sieht sie an dem jugendlichen, kräftigen Weib mit den alten Augen auf und flüstert: "Bist du meine Seelenschwester..?" Und ihr Blick gleitet von dem lächelnden Gesicht im Kranz seiner roten Locken hinauf an dem borkigen Stamm, zu den knorrigen Ästen mit ihrem dichten Laub. [/b]"Weißt du es denn nicht, kleine Ulmentochter?"[/b] fragt die Großmutter sie mit nachsichtigem Lächeln und streicht ihr über die Wange.

Ulmentochter... hallt es durch ihren Geist, und die majestätischen Zweige neigen sich in einer leichten Brise, scheinen ihr zuzunicken...

Dann streicht die Hand der Großmutter sanft über ihre Augen, ihre Lider sinken unwiderstehlich hinab, und sie fällt in einen tiefen Schlaf...

~~~

Die Alte kichert. "Das wäre es... Inga ist nicht böse, aber ein sehr dummes Ding. Sie versteht wenig, plappert viel, und oft genug auch das Falsche. Nun..." seufzt sie gespielt, "...ihr Mann ist schweigsamer, aber mit seinem Verstand kann er ihr wohl das Wasser reichen. Die Große Mutter schenkt jedem Menschenkind das passende Gegenstück." Und es ist schwer zu erkennen, wie viel von ihren Worten die greise drudkvinde ernst meint und wie viel im Scherz. Mit einem leisen Ächzen lässt sie sich in den Lehnstuhl sinken und befestigt die kleine Pinzette wieder an ihrer Schürze. "Dummerjan" brummt sie dann auf Tristans Fragen. "Glaubst du denn, ich würde mir herausnehmen, sie so einfach zu verurteilen wie diese ewig angsterfüllten, schnatternden Hühner?!" Mürrisch winkt sie ab. "Brauchst mir nichts zu erzählen, ich kenne sie, all die Ingas... machen sich selbst und ihre Männer ganz verrückt mit dem dummen Gerede!" Dann legt sie Tristan eine verwelkte Hand auf den Unterarm und sagt ernst: "Glaube mir, mein Junge: Sie wird nicht bestraft. Im Gegenteil: Sie ist auf der Suche nach etwas. Etwas sehr wichtigem." Dann lächelt sie, und ihr Gesicht ist von tausend kleinen Fältchen durchzogen: "Ich weiß. Sie hat ein weiches Herz, auch wenn es zu oft und zu rasch im Zorn entflammt. Sie wird lernen müssen, und du, ihr Mann, musst ihr dabei helfen."

Eindringlich sieht sie Tristan an. "Mach dir keine Illusionen: Es ist nicht leicht, eine Dienerin Gayas dein Weib zu nennen! So manches Mal wirst du sie nicht verstehen, und sie selbst wird sich auch nicht verstehen – aber ihr beide müsst lernen, damit umzugehen. Sie ist das kühle Wasser und das sengende Feuer, die sanfte Liebe und der verzehrende Zorn. Und du, du musst ihr Halt geben. Wird nicht einfach für dich werden, Jungchen" kichert sie und tätschelt seine Hand. "Aber du wirst mit der Zeit lernen, zu unterscheiden: Manchmal braucht sie dein Verständnis und deine Schulter zum Anlehnen, ein anderes Mal deine harte Hand, die sie zurückhält, wenn die Leidenschaft sie mit sich reißt." Schließlich stemmt sie sich wieder hoch und meint: "Red keinen Unsinn, Jungchen! Du hast recht getan, sie mitzunehmen – ihr seid Mann und Weib, sie gehört zu dir und du zu ihr! Du sagst doch selbst, dass sie sich gefreut hat. Schenk ihr Freude, und sie wird dir Freude schenken, wie du sie dir stets erhofft hast. Aber erkenne auch, wenn sie über die Stränge schlägt, und zeig ihr Grenzen auf wie jeder Mann seinem Weib. Habe keine Angst: Sie wird vor Zorn sprühen, doch wenn du es nicht übertreibst, ihre Freiheit nicht ungerecht einschränkst, wird sie es stets einsehen und dir hernach Dank dafür wissen."

Gerade will sie fortfahren und knurrt: "Lass die Leute reden! Was der Wille Gayas ist und was nicht, entscheiden nicht sie, sondern die Große Mutter allein! Deine Lîf muss in vielem noch lernen, sich unterzuordnen, Regeln zu gehorchen, doch der Göttin gehorcht sie bereits, weil ihr Herz stärker ist als ihr Trotzkopf. Mach dir keine Sorgen, sie wird–" In diesem Moment hat sie die Tür zu dem Raum wieder geöffnet, in dem Tristans Weib liegt. Dort, im schweren Rauch der Kräuter, herrscht nun völlige Stille. Doch man hört gedämpftes Wehgeschrei von außen. Auf Esjas fragenden Blick murmelt eine der Mägde leise: "Frau Inga... sie hat glaube ich etwas Ungehöriges über die Sache mit der kleinen Robbe gesagt." Die beiden anderen Mägde sehen zu Boden, doch man kann unschwer erkennen, dass sie ein Grinsen zu verbergen suchen. Sogar die Alte schmunzelt kurz. "Da siehst du, mein Junge: Sie konnte ihr lockere Zunge wie so oft nicht beherrschen, kaum dass sie wieder imstande war, zu reden. Und nun übernimmt der Gürtel ihres Mannes, was ich mit meinem Schweigegebot an sie erreichen wollte. An der Zeit war's ja schon lange, dass der gutmütige Dummkopf sich dazu entschließt! Vielleicht lernt sie dadurch, sparsamer mit ihren Reden umzugehen... jedenfalls bis sie wieder sitzen kann." Mit einem theatralischen Kopfschütteln wendet sie sich Lîf und den übrigen Weibern zu. Tristans Weib rührt sich nicht, doch ihre Lider flattern.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #18 am: 24.08.2017, 22:25:30 »
Auch die Großmutter schließt Lîf froh in ihre Arme, macht beruhigende Laute und streicht, als die Enkelin den Kopf an sie lehnt, sacht über deren Haar; die Beeren liegen vergessen auf der Erde. "Nun, nun, Kindchen, nicht immer so stürmisch. Bei den Ahnen, was für ein Wirbelwind!" Auf Lîfs Frage hin überlegt sie kurz.

"Seelenschwester, ja, so könnte man's nennen. Ich war dir sehr ähnlich als junge Frau. Verzeih', wenn ich dich vorhin in der Höhle erschreckt habe! Ich nenne die Dinge halt stets beim Namen. Nicht so wie Mutter, die sich alles immer so zurechtbiegt und zusammenreimt, bis das herauskommt, mit dem sie am leichtesten leben kann. Aber du! Du bist so wie ich: stolz, aufbrausend, trotzig, du begehrst gegen das Unrecht auf! Und deswegen verstehe ich auch nicht, wie du dich diesem Kerl hingeben kannst, Nacht für Nacht in stiller Komplizenschaft, diesem Räuber und Raubmörder, der nicht einmal zugeben will, dass er dich geraubt und zu seinem Willen gezwungen hat, sondern es so hindreht und wendet, als sei er dein Retter und hätte auch noch deine Dankbarkeit verdient! Oh, wie hätt' ich ihm diesen törichten Gedanken ausgetrieben!

Aber was rede ich. So täte ich's, so hab ich es stets gehalten, und weiß Gaja genug dafür gelitten. Vielleicht... vielleicht machst du es doch schlauer, Schwester, indem du deinen Stolz überwindest, wie ich es nie konnte. Deine Mutter, schau, da hat die meine recht, war, so sehr ich unser beider Vater für alles hasste, doch meine liebste Tochter und die einzige, aus der je etwas Anständiges wurde. Vielleicht... vielleicht wusste Gaja am Ende doch am besten, was geschehen muss, vielleicht gab es keinen anderen Weg... Oh weh, da fragt man sich: was ist das für ein seltsamer Rat von der Großmutter? Mach es so oder mach es besser so—ha! Also lass es mich noch einmal versuchen: Mach es so, wie du denkst, sag ich. Hör nur auf dich. Dein Herz. Dein Gewissen. Auf das, was du für richtig hältst. Und wenn du dann einmal herausgefunden hast, was du tun willst—lass dir von keinem mehr da hereinreden! Nur du kannst sagen, was in deinem Leben nötig ist und was erträglich.

Ach, aber weißt du, als du dich damals verabschiedet hast... da ahnte ich schon, dass ich dich in diesem Leben nicht wiedersehen würde. Auch fürchtete ich bereits, dass du bald kein Mädchen mehr wärest, sondern Gewalt an Leib und Seele erfahren würdest... wie gern hätte ich dich beschützt! Wie gern dir geraten: bleib doch hier, wo es sicher ist! Aber sicher ist es nirgendwo, Liebes, und Gajas Ruf muss eine Ulmentochter folgen, daher ließ ich dich gehen. Bisweilen wünscht' ich mir jetzt, ich hätte es nicht. Wenn ich dich nur beschützen könnte vor all dem Leid, all den Gefahren, die auf deinem Weg liegen! Aber die Toten sind den Lebenden schlechte Reisegefährten!

Darum ein letzter Rat an dich: sei schlauer als ich, die alles immer allein schaffen wollte—such dir Verbündete! Mit den richtigen Verbündeten, wer weiß, da mag dir sogar die Flucht von diesen unerträglichen Inseln gelingen und diesem frechen Räuber, der mein armes liebes Kind so schändlich... Halt, da dränge ich dich ja schon wieder zu Plänen, die ich selbst in deiner Lage schmieden würde. Vergiss also den zweiten Satz und beachte nur den ersten: mit Verbündeten ist das Leben leichter. Und jetzt schlaf, Schwester. Schlaf... und lausche den Trommeln, wie sie lauter werden... folge immer den Trommeln, sie führen dich an dein Ziel..."


Und Lîf schließt die Augen. Während der langen Rede der Großmutter ist ihr Kopf längst auf deren Schoß gesunken, während sie selbst sich lang auf dem Rücken ausgestreckt hat und das Gesicht der Ulmenkrone zugewandt. Ihr Schlaf ist leicht, der Trommeln verlässlicher Pulsschlag treibt sie voran, ein paarmal flattern die Lider... Da schwebt dann ein Gesicht über ihr und eine Stimme spricht... (eine männliche Stimme, was sie eigentlich erschrecken oder verwundern müsste; statt dessen klopft bloß ihr Herz auf einmal schneller, kommt aus dem Takt mit den Trommeln, rast...): "Ich hoffe, du hast gefunden, was du suchtest, Liebes. Ich warte drüben auf dich. Komm' bald."

~~~

Bei Esjas Rede hätte es Tristan wohl ein wenig mulmelig werden müssen, denn die Aufgabe, die sie beschreibt, ist sicher keine leichte. Doch der Weiseste ist Lîfs Gemahl nun einmal nicht, dafür unerschrocken, und so gehen ihm zwar einige Gedanken durch den Kopf, aber wohl kaum die, die Esja hat anregen wollen. Erleichtert ist er natürlich, dass Lîf nicht bestraft wird. Als die drudkvinde das weiche Herz erwähnt—in einem Atemzug mit dem viel zu rasch entflammenden Zorn—denkt Tristan bloß: Wieviel lieber ist mir doch ein Weib mit weichem Herz als mit hartem! Dass er sein Weib und ihren Zorn schon irgendwann zähmen würde, daran hegt er nämlich nicht den geringsten Zweifel; sich selbst dagegen sieht er als den größten Nutznießer ihres weichen Herzens. Als es kurz darauf heißt, eine Dienerin Gajas sei nur schwer für einen Mann zu verstehen, da kontert er in Gedanken: Wie jedes Weib! Bei der Auflistung all dessen, was er für Lîf tun und sein soll, wehrt er lässig ab: Ja, ja, genau das tu ich doch schon! Nur als die alte Heilerin ihm erklärt, wie und in welchen Situationen er sein Weib zu bändigen habe, lacht er innerlich: Also, wenn die Leidenschaft meine Lîf mitreißt, dann bekommt sie gewiss nicht meine harte HAND zu spüren!

Bei einem einzigen Punkt spricht er seine Gedanken aus: "Freude, ja, das habe ich ihr schon in der ersten Nacht versprochen, wenn sie sich mir nur anvertraut und keine Furcht vor mir hat... Und meine ganze Freude ist sie sowieso", gibt er gerne zu. Als Esja fortfährt, sieht er dagegen nur still bei sich ein: Ja, damit tue ich mich schwer: die Leute reden lassen. Es kümmert mich einfach viel zu sehr!

Daraufhin geleitet die alte Heilerin ihn zurück in die Hauptkammer, wo die Trommeln inzwischen nur noch ganz sacht pochen und sein Weib sich schläfrig räkelt und die Augen reibt, aber doch so ganz noch nicht zu sich findet. Die Erklärung für das Wehgeschrei von draußen nimmt Tristan nur so am Rande wahr, da kniet er bereits bei seiner Lîf und streicht ihr eine nasse Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht und will sie schon sanft wachrütteln, da fängt er einen mahnenden Blick Esjas auf, der ihm sagt, dass die drudkvinde mit Lîf für heute noch nicht ganz fertig ist, und so wispert er nur: "Ich hoffe, du hast gefunden, was du suchtest, Liebes. Ich warte drüben auf dich. Komm' bald."

Dann wendet er sich zum Gehen.

"Muss mich eh noch beim Jarl entschuldigen... Dank für alles!" verabschiedet er sich bei Esja. Und dabei denkt er nicht einmal nebenbei an Inga und ihre Gräte.

~~~

"Also Kindchen, dann erzähl", fordert Esja ihre junge Schülerin auf. "Hast Du Dein Seelengeschwisterchen gefunden?"


Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #19 am: 25.08.2017, 15:53:04 »
Während sie langsam aus den weichen, warmen Armen ihrer Großmutter und aus ihrer Vision wieder zurück in die Wirklichkeit gleitet, liegt ein seliges Lächeln auf Lîfs Lippen. Ihre Augenlider flattern einige Male, als würde sie heftig träumen, und ein leises Seufzen ist zu vernehmen, als sie sich ganz träge zu rühren beginnt. Tristans Stimme dringt an ihr Ohr, vermengt sich mit den Eindrücken, die ihr die Vision beschert hat, bringt sie aus dem seligen, gemächlichen Dahinschweben, lässt ihr Herz heftiger pochen – doch nicht auf eine unangenehme Weise. Eine Erregung erfasst sie, und sie macht eine geistige Anstrengung, wieder in das Hier und Jetzt zurück zu finden. Endlich: Stille. Das Rascheln von Kleidern, der schwere, betäubende Geruch von Kräutern, die Bank in ihrem Rücken. Sie ist wieder sie selbst! Langsam tastet sie ihren Leib ab. Ja, sie ist wieder das junge Weib, das sie vor ihrem Traum war. Obwohl sie noch immer die Erinnerung daran hat, ein schreiender Säugling gewesen zu sein, ein kleines Mädchen, eine Schwangere – sie fühlt noch die Rückenschmerzen! – eine Mutter mit ihrem Kind im Arm und auch eine Greisin, weise und grau geworden nach einem langen Leben...

Ganz allmählich schlägt sie die Augen auf, blinzelt, blickt sich um. Und erkennt ihre Lehrmeisterin. "Mor" sagt sie leise, aber mit klarer Stimme. "Ich weiß jetzt, wer ich bin!" Dann erzählt sie der Alten ihre Traumreise in allen Einzelheiten, die sich untilgbar in ihr Gedächtnis gebrannt haben: Die dunkle Höhle, sie, die kleine Lîf, die drei Weiber, ihre Großmutter – und die Ulme. "Ulmentochter... das bin ich. Ulmentöchter sind wir alle, die Weiber meiner Ahnenlinie" schließt der Rotschopf ermattet, aber sichtlich glücklich. "Mor, als ich an der Ulme aufblickte, da wusste ich es auf einmal – ich habe es gespürt!" Mit beiden Händen umschließt sie sanft, aber nachdrücklich die welke Hand der Greisin, drückt sie gegen ihre Brust, als könne Esja so besser spüren, was in ihrem Herzen vorgeht. "Die Große Mutter will, dass ich ihr als Tochter der Ulme diene, ich bin ganz sicher" beteuert sie. "So ist es doch, nicht wahr, Mor?" Ihre Augen leuchten hoffnungsvoll auf. Sichtlich sehnt sie sich nach Bestätigung. Dann, nach mehrmaligen verwirrtem Zwinkern, fragt sie: "Tristan – wo ist er? Ich hörte auch seine Stimme." Was dieser vermeintliche Teil ihrer Vision zu bedeuten hat, ist ihr noch unklar. Aber auch wenn sie sich noch oft dagegen sträubt, mit ganzen Herzen und nicht nur vor dem Recht sein Weib zu sein: Muss die Göttin nicht Pläne mit dem Skalden und Lîf haben, wenn sie ihm erlaubt, in der Vision ihrer jungen Dienerin zugegen zu sein? Ein Gedanke, der Lif erschreckt und ihr Herz zugleich freudig pochen lässt.

~~~

Tristan wendet sich derweil nach seinem Gespräch mit der alten drudkvinde und Lehrmeisterin seines Weibes nach draußen, die ihm noch mit auf den Weg gab: "Sorg dich nicht allzu sehr, Jungchen: Du und sie, euch hat Gaya zusammengeführt, und Sie wird auch dafür sorgen, dass ihr zusammen glücklich werdet. Ich hab' dafür ein Gespür – es mag nicht sofort sein, und es mag auch einige Tränen und Schweiß kosten, aber vertrau der Großen Mutter!" Damit hat sie ihm ein segnendes Symbol mit der Daumenkuppe auf die Stirn gemalt und ihm zugenickt, ehe sie ihn entließ. Draußen angelangt sieht er zwei andere Gestalten, die ebenfalls dem großen Langhaus zustreben, ein Mann und ein Weib. Da sie sich recht langsam bewegen, hat er sie bald eingeholt und erkannt Inga mit ihrem Gemahl. Der Schmied blickt grimmig drein und wirkt so recht furchteinflößend, mit seinen Muskelbergen und seiner langen Gestalt, mit der er jedermann überragt. Tristan allerdings, der sein simples Gemüt kennt, vermeint in den Augen Egils einen Glanz zu erkennen, der eine andere Sprache spricht: Ein Leuchten, fast wie ein zufriedener Säugling, der sich gerade an der Brust satt getrunken hat und mit sich und der Welt glücklich im Arm der Mutter schlummert. Ja: Der Hüne wirkt regelrecht... selig?

Sein Weib hingegen macht einen ganz anderen Eindruck. Inga hinkt mit kleinen Schrittchen auffällig langsam neben Egil her, einen halben Schritt hinter ihm, und senkt den Kopf, als Tristan die beiden überholt. Dennoch erkennt er, dass ihre Augen nun verweint aussehen, die rosigen Lippen, die so verlockend lächeln können, sind zu einem trotzigen, mürrischen Flunsch verzogen. Es ist ihr offenkundig peinlich, Tristan in die Augen zu sehen. Egil dagegen nickt ihm ernst und gemessen zu, offenkundig um seine Würde bedacht, und brummt kurz: "Hab Dank, dass du mein Weib gerettet hast – auch in ihrem Namen." Von Inga ist nur ein Schniefen zu hören, das Egil aber anscheinend als Zustimmung zu werten geneigt ist. Vom Langhaus her sind gedämpfte Stimmen und Gelächter zu hören. Dort scheint es nach wie vor hoch herzugehen. Vor den Eingängen sind einige der jüngeren Weiber damit beschäftigt, Weißdornzweige über den Türstöcken anzubringen. Der Weißdorn, wie jedem bekannt ist, hat die Kraft, vor bösen Geistern und Hexerei zu schützen. Und wie ein Wissenssammler von Tristans Format ebenfalls weiß, ist ihre zauberische Schutzwirkung besonders groß, wenn sie aus den Händen einer Mutter sind, die ihr Kind noch stillt, denn von ihr geht Lebenskraft in die Zweige über, die sie länger frisch und damit wirkkräftig erhält.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #20 am: 25.08.2017, 23:39:22 »
"Jetzt weißt du, wer du bist?" fragt Esja kichernd. "Ach Kindchen, das ist erst der Anfang!" Doch als Lîf gleich darauf eifrig zu erzählen beginnt, unterbricht die Lehrmeisterin sie gleich zu Beginn und schickt erst einmal die drei Mägde hinaus. Nach den Tieren im Stall möchten sie schauen und erst wieder hereinkommen, wenn man sie rufe. Dann lauscht sie Lîf aufmerksam weiter.

"Ulmentochter!" ruft Esja. Es klingt überrascht.

"Ulmentochter!" stimmen Unn und Aud ein. Dann deutet Aud auf sich: "Holundertochter" und Unn tut's ihr nach: "Lindentochter" und die beiden jungen Frauen rufen "Haseltöchter" und kichern. Dabei bleibt unklar, ob sie wegen des doppeldeutigen "Haseltöchter" kichern, oder weil sie gerade mit der kleinen Robbe spielen, die gar nicht mehr ängstlich zwischen den beiden liegt und mal diese anstubst, mal jene. Doch so putzig das ist: in diesem Moment hat Lîf kaum einen Gedanken dafür.

"Buchentochter", stellt Esja sich als letzte vor, dann betrachtet sie Lîf eine ganze Weile lang still. "Ulmentochter", murmelt sie mehrmals vor sich hin und schließlich lauter: "Ulmentochter. Nein sowas. Für einen Apfel hätte ich dich gehalten, vielleicht auch eine Lärche, weil du zwei Naturen in dir vereinst, aber Ulme! Da wär' ich nicht drauf gekommen. Von Ulmentöchtern heißt es nämlich, dass sie sanftmütig seien, verstehst du? Ganz Erde, warm, beständig, für jeden ein Halt." Sie murmelt undeutig weiter und Lîf muss sich lange gedulden, bis endlich: "Ja, ja, das meiste davon sehe ich schon bei dir auch, man muss nur genau hinschauen. Jetzt guck' nicht so besorgt! Je länger ich es bedenke, umso deutlicher erkenne ich, dass es so sein muss! Aber dein Temperament, woher stammt dies?"

Und sie kramt in einem Beutel, der an ihrem Gürtel hängt, zählt fünf Stäbchen daraus ab und wirft sie vor sich auf die Bank. Das Ergebnis beäugt sie lange. Dann lächelt sie.

"Ich weiß, von wem deine Ahnenfrau sprach, ich weiß, wer der Gehörnte war, der stürmische Liebhaber: ein Satyr war's! So, das erklärt nun alles: dein rotes Haar, dein Temperament wie Feuer und Wasser so wild, so wandelbar, so aufbrausend wie hitzig, und auch, warum dein Körper schon weiß, was er will, dein Herz und Verstand aber noch nicht. Und der Ahnenfrau Mutter, die Ulme, ahnst du, mein Kind, wer das war? Ahnst du, woher wir alle stammen, ob Buche, Linde, Holunder, ob Hasel oder Ulme? Habe ich dir schon von Gajas ersten Kindern erzählt? Der Satyr ist nur eines davon, der frivole Bursche. Die Baumfrauen sind weitere. Dryaden heißen sie sich und die Elben waren die ersten, mit denen die Baumfrauen ihr Blut vermischten, wodurch die Spitzohren die ersten Sterblichen wurden, die Gajas Kräfte zu nutzen lernten. Und die Baumkinder unter ihrem Volk, die nannten sie Druiden nach ihren Müttern, und deshalb heißen auch wir uns drudkvinder—Dryadentöchter! Und ich sehe deinen fragenden Blick: ja, es gibt auch drudmanden—Dryadensöhne. Fünf mal fünf Bäume sind Gaja geweiht, darin die Baumfrauen leben, ein Dutzend derer einem Menschen Töchter gebären, das zweite Dutzend aber stets einen Sohn. Nur die Mistel, das geheimnisvollste unter den heiligen Gehölzen, da weiß man nicht: wird's eine Tochter oder ein Sohn oder beides zugleich."

Abermals blickt Esja auf die geworfenen Runenstäbe und sinniert vor sich hin, wobei sie mal eifrig nickt, mal sich nachdenklich an die Nase fast, mal abwägend mit dem Kopf wackelt, mal einen sorgenvollen Seufzer tut. Doch falls Lîf auf eine Erklärung wartet, so wird sie enttäuscht, denn die Alte wechselt das Thema.

"Nun war das aber gar nicht die Aufgabe, die ich dir gestellt habe, Kindchen. Hast du wirklich überhaupt kein Tier dort getroffen?" Und als Lîf dies verneint, seufzt die alte Heilerin von ganzem Herzen. "Also kein treuer Gefährte, der dir zur Seite steht, wohin du auch gehst, was auch immer du tust. Alleine meinst du deinen Weg gehen zu müssen! Nur aus sich selbst heraus will die kleine Ulmentochter all ihre Kräfte schöpfen! Nun gut, wenn du dir das so in den Kopf gesetzt hast, wird es dir niemand ausreden können. Ulmentochter willst du sein und sonst nichts. Keine Robbenschwester oder Möwenschwester oder Wolfschwester, nein? Ein Einzelkind! Das wird nicht leicht, lass es dir sagen. Schau dir meine beiden Schätze an oder deinen kleinen Freund von vorhin. Das Herz erwärmen sie einem, nicht wahr? Und treu sind sie, widersprechen nie."

"Darf ich ihn behalten?" ruft Isgerd dazwischen, darauf Ragnhild: "Nein, ich!"

"Ts, unterbrecht mich nicht. Wenn ich mit Lîf fertig bin, dürft ihr auf die Reise gehen, dann wisst ihr's gleich. Es wäre doch gelacht, wenn das nicht etwas zu bedeuten hatte, dass Lîf diesen Kleinen fand."

"Und wenn wir beide Robbenschwestern sind?" fragen Isgerd und Ragnhild zugleich.

"Dann wird der Kleine schon wählen, bei wem er bleiben will, und die andere wird den ihren früh genug treffen. Und jetzt seid still. Wo war ich?"

Lîf sagt es ihr.

"Genau. Und deshalb bitte ich dich, wenn du in deinem Leben auch nur auf einen Rat hören willst, so höre auf diesen: allein durchs Leben gehen ist nicht gut. Deine Großmutter sagt es ja auch. Wenn du dir schon keinen Wegbegleiter unter Gajas Kreaturen erwählen willst, dann übersieh wenigstens nicht den Gefährten, den die Große Mutter dir bereits an die Seite gestellt hat. Einen treueren findest du nicht, das sag' ich dir. Wie kann es dich wundern, seine Stimme gehört zu haben? Ist er nicht dein Mann? Gehört er nicht zu dir? Hütet er nicht ein ähnliches Geheimnis wie du? Wie könnte das kein Schicksal sein? Aber jetzt habe ich darüber schon zu viel geschwatzt. Was ist, Lîf, eilst du jetzt zu deinem Mann hinüber oder hast du noch Fragen an mich? Eine will ich dir heute noch beantworten, also überleg' sie dir gut."

~~~

Gerade, wie Tristan durchs Palisadentor tritt, holt er Egil und Inga ein. Im ersten Moment wundert er sich, warum Inga hinkt, dann fällt ihm ein, was er vorhin nur mit halbem Ohr mitbekommen hat. Der zufriedene Glanz in Egils Augen gibt ihm dann aber zu denken. Selig? Weil er sein Weib geprügelt hat? Tristan stellt sich vor, er hätte gerade seine Lîf übers Knie gelegt und ist sich sicher: elend wär ihm da!

Oder kann man Gefallen daran finden? Olav[1] schlug sein Weib und seine Mägde und bekam kaum genug davon, aber dann war es so, dass der alte Skalde kein Laster ausließ, solange das Gesetz es noch erlaubte. Aber Egil? So ein sanftmütiger Kerl! Wenn Egil daran Gefallen finden kann, dann scheint mir doch, jeder Mann könnte es! Drum bestärkt mich dies nur nur in einem: weder Rute noch Gürtel sollen mir je in die Hand hüpfen und auch die Fäuste will ich lieber zähneknirschend in der Tasche ballen, ehe ich sie meiner Lîf ins Gesicht fliegen ließe!

"Ach was", wehrt er ab. "Gar nichts habe ich getan, die alte Esja alles!"

Er will schon vorbei, dann hält er noch einmal inne. Sein letzter Versuch, Inga zur Vernunft zu bringen, hat eher das Gegenteil bewirkt, soll er überhaupt noch einmal wagen, ihr ein Friedensangebot zu machen? Zudem es ihm gegen den Strich geht, dieses dumme Stück... Halt, so darf er nicht denken. Er muss jetzt auch an seine Frau denken, nicht nur an sich selbst. "Mit Esjas Trunk wird dein Hals bestimmt bald besser", offeriert er daher ein wenig zögerlich. Als Inga ihn darauf anblickt, sucht er dann aber schon verlegen nach Worten. "Ähm, hast du gesehen? Die Weiber da drüben brauchen bestimmt deine Hilfe mit dem Weißdorn. Von einer jungen Mutter aufgehängt, wirkt er besonders machtvoll."

Auf diese Weise gibt Tristan ihr eine geschickte Fluchtmöglichkeit, die es ihr ersparen würde, so gedemütigt wie sie gerade ausschaut mit ihrem Mann zusammen das vollbesetzte Langhaus zu betreten und von wissendem Grinsen ringsum begrüßt zu werden. Ob sie's annimmt oder nicht, bleibt ihr überlassen.

"Wir wollen bestimmt kein böses Blut, meine Lîf und ich", wendet Tristan sich darauf an Egil. "Dein Vater ist mein Drachenführer. Ich verlasse mich auf ihn und er sich auf mich und so muss es sein. Das bedenken die Frauen nicht richtig. Oder vielmehr können sie ja gar nicht wissen, was das bedeutet. Und die meine ist auch noch sehr jung und vom Festland, wo alles ganz anders ist. Also... nichts für ungut, ja?"

Tristan klopft dem Hünen auf die Schulter, bevor man gemeinsam (mit oder ohne Inga) den Hof überquert und das Hóper Langhaus betritt. Dort verabschiedet Tristan sich mit einem Nicken und begibt sich zum Jarl, um sich dafür zu entschuldigen, dass er vorhin so einfach durch dessen Gemach gepoltert war.

Danach schaut er sich nach Ole um, doch der befindet sich unerreichbar in der Mitte einer großen und—obwohl Bier und Met vor dem Opfer am vierten Tag streng verboten sind—schon sehr fröhlichen Runde. Tristan ist nicht danach, sich dort dazuzudrängeln, und so setzt er sich wieder an seinen Platz, wo noch der kalte Eintopf steht, und verschlingt diesen. Dann lehnt er sich zurück und wartet auf sein Weib.
 1. Olav war der alte Skalde, der Tristan aufnahm, als dieser mit 14 nach Hóp kam. Ein alter Trunkenbold, der eben gerne prügelte. Zwei Jahre später starb er auf Fahrt und hinterließ seinem Adoptivsohn Tristan den Hof und alles darauf. (Das erwähnte Weib war schon lange tot und mit Kindern wurde es auch nie was.)—Nicht zu verwechseln mit Ole. Die beiden Namen sind mir leider zu ähnlich geraten.

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #21 am: 26.08.2017, 14:04:21 »
Lîf hängt mit den Augen an Esjas Lippen. Die Erklärungen der Alten lassen den Rotschopf ein ums andere Mal den Mund aufsperren. So ist das also..! Nun beginnt ihr vieles klar zu werden. Und auch wenn sie sich ein wenig vor den beiden anderen Weibern geniert, da ihre Lehrmeisterin ihr Seelenleben so vollständig und vor allem treffend vor ihnen ausbreitet, hört sie ihr doch gebannt zu. Bei der Erwähnung des Satyrs schießt die Röte in ihre Wangen, und sie senkt verlegen den Blick. Stumm fragt sich Lîf, ob die alte Esja auch ahnt, welche Gedanken sie gelegentlich bewegen – Gedanken, die sie aus gutem Grund niemals jemandem gebeichtet hat. Dein Körper weiß schon, was er will, dein Herz und Verstand aber noch nicht – das ist auf eine Art treffend, die ihr das Herz bis zum Hals schlagen und die Hände zittern lässt. Den Blick auf ihre Knie gesenkt, presst die junge Frau die Lippen zusammen. Wenn die Alte es ihr nun ansieht..? Tristan... sie erinnert sich an seine Stimme und kann ein gewisses Kribbeln nicht leugnen, das in ihrem Bauch beginnt und ihren ganzen Körper zu erfassen scheint. Lîf versucht langsam und tief zu atmen, um sich zu beruhigen. Allzu leicht, allzu bequem wäre es, ihre frivolen Träume dem bösen, zügellosen Satyr zuzuschreiben, der seine wollüstigen Tänze in ihrem Blut vollführt. Sie darf dem nicht nachgeben! Darf nicht... darf... soll... muss..?


Eilig hascht sie nach dem Strohhalm, den Esjas Themenwechsel ihr schließlich bietet. "Nein, Mor: Ein Tier sah ich nicht. Ich hörte viele, fern im Wald, doch gezeigt hat sich mir keines." Mit einem kleinen Seufzer nickt sie, als die Sprache auf die treuen, liebenswerten Tiergefährten der anderen Weiber im Raum kommt. Zu gern hätte sie den kleinen Heuler den ihren genannt... Schweren Herzens wendet sie den Blick von den großen, runden Augen des Tieres wieder ihrer Meisterin zu. Und deren Ratschlag trifft sie erneut an der Stelle, an der sie so unsicher und verlegen wird. Instinktiv will Lîf widersprechen, öffnet schon den Mund, schließt ihn dann aber wieder und reibt ihre Hände aneinander. Er gehört zu ihr, sie zu ihm... die Anzeichen sind zu eindeutig. Schicksal, der Wille der Großen Mutter... wie könnte sie leugnen, dass er ihr Herz zum Pochen bringt wie kein anderer? Gewiss, es ist ihr in der Vergangenheit noch stets gelungen, das auf den Zorn zu schieben. Den gerechten Zorn darüber, dass er sie geraubt, sie gegen ihren Willen entführt und zu seinem Weib gemacht hat. Aber ist es wirklich allein ihre Empörung, ihr aufflammendes Temperament? Oder..? Das Kribbeln verstärkt sich, als wimmelten unter ihrem Kleid tausend Ameisen umher, so dass sie ganz unruhig auf ihrem Hinterteil hin und her zu rutschen beginnt und schließlich widerstrebend zugeben muss: "Du bist weiser als ich, Mor. Vielleicht... vielleicht hast du das richtige getroffen."

Als die Alte sie endlich entlässt, springt sie rasch auf, doppelt verschämt, zum einen, weil sie ihre Hast nicht als Unaufmerksamkeit oder Aufbegehren gegen die Lehrmeisterin verstanden wissen will, zum anderen, weil sie nach wie vor das Gefühl hat, nackt vor Esja zu stehen – die greise drudkvinde, kann sie bis auf den Grund von Lîfs Seele blicken, ihre geheimsten Gedanken und Empfindungen erraten? Erst als sie schon eine ehrerbietige Abschiedsgeste gemacht und sich bei der Alten bedankt hat, bleibt sie doch noch einmal in der Tür stehen, dreht sich um und fragt vorsichtig: "Mor..? Woran erkennt man, ob die Große Mutter zwei Menschen füreinander bestimmt hat? Spricht sie durch das Herz zu einem, oder... kann es nicht auch sein, dass man nur glaubt, etwas sei Ihr Wille, weil man es sich selbst so wünscht..?" Wieder steigt das Blut in ihre Wangen. Die Frage klingt in ihren eigenen Ohren verräterisch, fast wie ein Geständnis – aber sie muss es einfach wissen!

~~~

Ja, wenn er sich Egil so betrachtet, scheint es Tristan sicher, dass der Schmied Gefallen daran gefunden hat, seinem Weib das Hinterteil zu versohlen. Anders kann er sich[1] den zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht des Hünen nicht erklären. Inga indes empfindet deutlich weniger Freude, wie unschwer vorstellbar und auch leicht an ihren Zügen abzulesen ist. Egil klopft Tristan auf die Schulter, dass dem Skalden die Knochen im Leib zu tanzen scheinen, und brummt gutmütig: "Keine falsche Bescheidenheit – zu ihr gebracht hast du mein holdes Weibchen. Wärst du nicht so rasch gewesen, wer weiß – Gaya verhüt' es, aber womöglich wär' sie nicht mehr am Leben." Sein Weib sieht den beiden Männern zu, wischt sich mit dem Ärmel über die tränennassen Augen und schnieft noch einmal vernehmlich. Sie scheint zunächst zu zögern, die goldene Brücke zu betreten, die ihr Tristan baut, doch dann nickt sie, murmelt eine Zustimmung und hinkt zu den Weibern hinüber, die sehr wahrscheinlich deutlich mehr Verständnis und weniger Spott für ihre Not haben werden als die Kerle im Inneren des Langhauses, haben doch die meisten von ihnen schon selbst oft genug den Gürtel ihres Mannes oder eine frisch geschnittene Rute zu kosten bekommen.

Egil blickt ihr nach und wendet sich mit einem tiefen Seufzen an Tristan: "Sie ist mir ein treues Weib, sorgt gut für unsern kleinen Bengel, hält mir das Haus in Ordnung, kocht fein... wenn nur ihr loses Mundwerk nicht wär'..! Ich hab's nur schwer übers Herz gebracht, aber sie war reif für eine Abreibung. Am Ende bringt sie sich und mich noch in arge Schwierigkeiten, wenn sie allzu frech redet. " Mit einem verlegenen Grinsen kratzt er sich im Nacken und fügt leiser hinzu: "Und dann ist's auch ganz schön, wenn sie mal eine Weile den Schnabel hält." Der Blick, mit dem der riesige Mann Inga dabei nachsieht, ist durchaus liebevoll. Doch ihm ist auch eine gewisse Erleichterung anzuhören. Und nun besinnt sich Tristan auch, wie manche der Männer den langsamen, gutherzigen Schmied schon verspottet haben, weil der seinem Weib keinen Einhalt gebieten könne. Und böses Blut gab es verschiedentlich auch schon, wenn Inga mit ihrer raschen, spitzen Zunge allzu beleidigende Worte gebrauchte... Egil jedenfalls wirkt für diesmal besänftigt und nickt. "Sicher. Sie können so was eben einfach nicht verstehen. Haben dafür ja auch genug Weibersachen, die für unsereins ewig ein Rätsel bleiben, stimmt's?" Damit ist für den simpel gestrickten Schmied die Angelegenheit offenbar erledigt. Jedenfalls wirkt er wieder völlig unbeschwert, als sie in das Langhaus treten.

Dort treffen den einsam seinen Eintopf löffelnden Tristan gelegentlich die Blicke einiger Weiber. Doch sie wirken nun nicht mehr so sehr ängstlich und misstrauisch als vielmehr... bewundernd? Die wundersame Rettung Ingas scheint sich unter ihnen bereits herumgesprochen zu haben, und während man von der alten Esja Wunder bereits so gewohnt ist, dass man sie regelrecht erwartet, hat ihm sein Eingreifen - wahrscheinlich mit den typischen Übertreibungen des Weiberklatschs gewürzt - anscheinend Respekt unter ihren Geschlechtsgenossinnen verschafft. Immerhin hat die heißblütige, unbeherrschte Inga nicht gerade freundlich von ihm und seiner Lîf gesprochen. Und dennoch hat er nicht gezögert, ihr beizuspringen. Mögen kriegerische Großtaten ihn in den Augen ihrer Männer lobenswert scheinen lassen: Die Weiber hingegen lassen sich offenbar von dieser Handlungsweise deutlich mehr beeindrucken. Nach einer Weile kommt gar die großgewachsene Sigrid mit ihrem herben, beinahe etwas männlich wirkenden Gesicht zu ihm hinüber und reicht ihm mit einem Lächeln eine kleine Holzplatte, auf der sich hauchfein geschnittene Scheiben halbgefrorenen Fisches finden – eine Delikatesse. "Hier – die Große Mutter segne's dir" nickt sie ihm auffordernd zu und fügt an: "Lass es dir nur schmecken, denn wir wissen's schon alle: Du bist ein Mannsbild mit einem guten Herzen." Und ihm kommt der Gedanke, dass die Gunst der Weiber, der Herrinnen über Vorräte, Herdfeuer und Kochtöpfe, eine äußerst angenehme und vorteilhafte Sache sein kann.
 1. Mit einem umwerfenden Sense Motive-Ergebnis von 4... ^^

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #22 am: 26.08.2017, 20:50:23 »
Lîfs erster Instinkt ist die Flucht, doch während sie sich in aller Hast Stiefel, Jacke und Schal anlegt, drängt sich ihr doch eine Frage auf, die sie heute Nacht um den Schlaf bringen würde, wenn sie darauf keine Antwort erhält.

Esja denkt eine Weile darüber nach, dann hebt sie an: "Das Herz, mein Kind? Nein, ich fürchte, daran lässt sich Gajas Wille schwerlich messen, liegt es doch oftmals beim eigenen schon falsch. Welche Art Mann sähe die Große Mutter gerne an deiner Seite? Nun, da müssen wir schon ein wenig praktisch denken. Uns Baumtöchtern, und auch den Söhnen, hat Gaja eine wichtige Aufgabe anvertraut: ihre Fluren sollen wir schützen und alle Kreaturen darauf, und als ob das noch nicht schwer genug wäre, obliegt es uns als zweites dafür zu sorgen, dass eine neue Generation Baumkinder geboren wird, denn jemand muss unsere Aufgabe weiterführen, nach unserem Tod. Welchen Begleiter wünscht Gaja sich also für dich? Nun, ganz einfach den, der dir bei dieser Aufgabe hilft oder, das wäre das mindeste, dich nicht daran hindert. Ob dein Herz für ihn schlägt? Das kann Gaja doch nicht entscheiden! Wem du dein Herz öffnest, wem auf immer verschließt, das bleibt dir selbst überlassen.

Kann es nun geschehen, dass dein Herz dir falsch rät? Dass es dir vorgaukelt, jemand sei dir bestimmt und ist es nicht? Nichts täte es lieber! Ganze Generationen junger dummer Dinger sind darauf schon hereingefallen. Wie, sagt es denn niemals die Wahrheit? Doch, das mag schon auch geschehen. Wie aber den Unterschied erkennen? Dazu stell dir vor, du liebtest jemanden von ganzem Herzen, er aber befiehlt dir, zuhause zu bleiben, zu kochen, zu waschen, zu nähen und für die Blagen zu sorgen und dich nicht um Nachbars sieche Alte zu kümmern. Wäre eine solche Ehe von Gaja gesegnet? Nein, denn dein Mann hindert dich daran, der Aufgabe nachzugehen, welche die Mutter dir anvertraut hat. Die meisten Männer sind so, sie wollen nicht teilen. Auch manche Weiber klammern zu fest. Deshalb bleiben die meisten von uns allein oder heiraten nur einander. Oder wir nehmen uns Liebhaber, der Kinder wegen. Da würden wir sogar mit einem das Lager teilen, den wir hassen, wenn nämlich das Dryadenblut in ihm oder ihr noch kräftig zu spüren ist, unsere eigene Linie aber schon schwächer wird. Auch da muss man praktisch denken.

Zurück zu dir. Deine Linie ist stark und Tristans auch und was gab vor drei Monden er mir zur Antwort, als ich fragte, ob ich dich in die Lehre nehmen dürfte? Ohne Zögern ja! Und wie hat er reagiert, als du die kleine Kreatur dort drüben beschützen wolltest? Hat er's dir zu verbieten versucht oder hat er's dir erlaubt? Hat er gar geholfen? Sag, wie war's? Nein, sag's nicht laut, es reicht, dass du selbst es weißt. Und da hast du deine Antwort."


Das wäre ein schöner Schlusssatz und Lîf will das Fell vor der Tür schon beiseite ziehen, um hinauszuschlüpfen, da tönt von rechts ein Quäken und große runde Augen blicken sie an—vorwurfsvoll, wie sie sich einbildet—und so eilt sie doch noch einmal quer durch den Raum zu der kleinen Robbe hin und verabschiedet sich. Zurück an der Tür wirft sie einen letzten wehmütigen Blick auf das Tier zurück.

"Bist du dir sicher", brummelt da ihre Lehrmeisterin, "dass dir ein Tier zum Gefährten nicht doch besser gefiele statt eines Mannes? S'ist leichter im Umgang, ganz ohne Frage, und dein Herz wüsste stets, was es bei seinem Anblick fühlen soll."

Während die drei alten Weiber zu kichern beginnen, duckt Lîf sich errötend ins Freie.

~~~

"Dank dir Sigrid, hm, den feinen Fisch will ich mir schon schmecken lassen." Tristan beugt sich vor und senkt verschwörerisch die Stimme. "Aber das mit dem Herzen, du, das sag' keinem weiter, oder willst du mich in Verruf bringen unter den meinen? Aber wenn du oder die anderen Weiber mir die gute Tat vergelten wollt, dann seid lieb zu meiner Lîf. Sie hat hier doch noch keinen außer dem alten Ole und mir."

Genau in diesem Augenblick sieht er seine Lîf am anderen Ende des Langhauses eintreten, wo sie sich sogleich nach ihm umblickt, und er winkt ihr zu. Sie aber bemerkt ihn nicht gleich, denn ihr Blick streift zuerst die vorderen Bänke, gleich bei der Tür, und arbeitet sich nur langsam vorwärts. Dazu setzt sie zögernd einen Fuß vor den anderen, dann bleibt sie auch schon wieder stehen und schaut nach links und nach rechts. Dann erst geht's zwei Schrittchen weiter. Ja, was glaubt sie denn, wer ihr Mann sei? Der Skalde des Jarls, das weiß sie doch! Der, der morgen die Gesetze vortragen wird! Und der schläft im Langhaus, mitsamt seines Weibes, auf dem dritten Platz vor Gisle Gunmarssons Kammer, vor ihm nur noch Sven Blutaxt und Eyvind Graumantel, die beiden Drachenführer.[1]

Endlich bemerkt Lîf sein Winken. Sigrid, die natürlich auch schauen musste, wonach er schaut, dreht sich rechtzeitig zu ihm um, um seine Augen, seine ganze Miene aufleuchten zu sehen, als Lîfs und sein Blick sich treffen. Es darf vermutet werden, er selbst könnte es später nicht bezeugen, dass die gute Frau sich daraufhin stillschweigend, vielleicht schmunzelnd, zurückzieht.
 1. Nur auf den Rûngard-Inseln ist der Skalde gleichzeitig Gesetzessprecher. Mit der Information "Skalde des Jarls" konnte Lîf also nichts anfangen. Mit fersländischen Adelshöfen kennt sie sich zwar auch nicht aus, aber wie mag sie sich die Stellung der dortigen Skalden schon denken? Wie hochrangig kann schon der sein, der mit Liedern und Geschichten für die Unterhaltung sorgt?
« Letzte Änderung: 27.08.2017, 10:39:59 von Tristan »

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #23 am: 27.08.2017, 11:19:24 »
Sehr nachdenklich geworden wandert Lîf den kurzen Weg von der Priesterhütte zurück zum Langhaus. Was Esja ihr gesagt hat, kann doch nur auf eine Art verstanden werden – oder..? Sie beißt sich auf die Lippen, verlangsamt ihre Schritte, je näher die Tür kommt, über der nun Weißdornzweige befestigt sind. Dem nachzugeben, würde heißen, ihrem Herzen zu folgen, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Warum nur fühlt sie manchmal so weich und warm, wenn sie an ihn denkt, würde sich am liebsten an seine Brust kuscheln und seine kräftigen Arme um sich spüren, so gern, dass es beinahe schmerzt, nicht bei ihm zu sein? Wünscht sich, das Weib zu sein, das ihn glücklich macht, ja, ihm Kinder schenkt... nur um dann, in anderen Momenten, zu merken, wie der Stolz in ihr wieder aufbegehrt, der Wille, ihren Kopf durchzusetzen, und sei es noch so unvernünftig, was sie will – ist es denn nicht ihre eigene Dummheit, die sie begehen darf, wenn sie es wünscht?! Wie soll sie ihm nur erklären, dass sie so hin- und hergerissen ist zwischen zwei Extremen, mal das sanfte, liebende Weib, mal die fauchende Wildkatze? Sie schlingt die Arme um ihren Oberkörper, seufzt leise und starrt auf den Schnee zu ihren Füßen, unschlüssig vor der Tür verharrend, durch die gedämpft die Menschen im Langhaus zu hören sind.

Zu gern würde sie ihm alles erklären, doch wie die richtigen Worte finden? Und wie kann sie erwarten, dass er Verständnis hat und sich mit einer Partnerin abplagen will, die ihn mit ihrem Temperament immer wieder ärgern und reizen, vielleicht sogar vor seinen Kameraden bloßstellen wird, ob sie will oder nicht? Denn wenn der Rotschopf eines weiß, dann das: Sie mag Tristan zuliebe ihr bestes tun, sich den Sitten seiner Leute anzupassen, doch gänzlich wird das Feuer in ihrem Herzen nie verlöschen. Immer wieder wird es passieren, dass sie die Grenzen überschreitet, die ihr als seinem Weib gesetzt wären. Und jetzt, wo ihr regelrecht elend zumute ist vor Sehnsucht und Ratlosigkeit, kann sie sehr wohl verstehen, was es für ihn bedeuten muss, wenn die anderen Mannsleute ihn im Scherz fragen, wann er ihr wohl erlauben wird, sich Hosen zu nähen. Sie erschüttert damit seine Position, sein Ansehen, sein Mannestum, was sie gewiss nicht will. Sie liebt ihn doch! Liebt ihn..? Ein schmerzliches Lächeln umspielt ihre Lippen. Nun hat sie es sich also doch eingestanden, der alten Esja sei Dank, die ihr da eben gründlich den Kopf gewaschen hat. Vielleicht hat die Greisin ja recht, und sie muss tun, was ihr Herz befiehlt, ganz gleich, wie groß die Gefahren und die Schwierigkeiten sind. Auf die Große Mutter vertrauen, dass Sie ihrer Dienerin helfen wird, ihr heißes Blut zu zügeln.

Denn nur bei Tristan zu liegen, um die Linie seines und ihres Blutes fortzuführen..? Nein! Und selbst wenn es ihre heilige Pflicht ist, alles in ihr wehrt sich dagegen, ihm etwas anderes zu sein als eines von zwei Dingen: entweder seine Sklavin, sein bloßer Besitz, ohne jegliche Bindung an ihren Herrn – oder sein Weib, das alles im Leben mit ihm teilt, nicht nur das Lager. Wieder seufzt sie. Wenn sie nur in sein Herz sehen könnte, um zu erfahren, ob er bereit dazu ist, sie nicht nur nach dem Recht der Inseln, sondern auch wirklich in seinem Inneren als die Seine anzunehmen, der Ihre zu sein und ihre Fehler zu ertragen! Die sie nun mal nicht ändern kann, davon ist die junge Frau überzeugt. Mit einem neuerlichen Seufzen tritt sie in das Langhaus ein und blickt sich um. Erst nach einigem Suchen entdeckt sie ihn und schlängelt sich nach kurzem Zögern zwischen den Gruppen hindurch, die hier beisammen sitzen. Zu ihrer großen Erleichterung scheint niemand mehr sonderlich auf sie zu achten, nimmt auch niemand Anstoß an ihrer Anwesenheit. Als sie endlich vor Tristan steht, sich Handschuhe und Schal abstreift und zu Boden blickt, fehlen ihr die Worte.

Sie sieht eines der Weiber – Sigrid – das sich gerade von ihm zurückzieht, und fühlt einen Stich der Eifersucht. Was hatte eine andere bei Tristan zu suchen?! Doch sie beruhigt sich wieder, als sie sieht, dass er der hochgewachsenen Sigrid mit ihren kantigen Gesichtszügen kaum nachblickt. Zögerlich räuspert sie sich und bringt leise hervor: "Danke... wegen der Sache mit der kleinen Robbe, meine ich." Die Art, wie sie an ihrer Unterlippe nagt, sich die rote Haarflut immer wieder aus der Stirn schiebt und ihren Blick über den Boden schweifen lässt, kennt er bereits von ihr: Lîf weiß nicht, wie sie beginnen soll, schämt sich, kämpft mit sich, mit ihren Fehlern und Schwächen und ist doch zu stolz, um sie laut einzugestehen. Als sie den Blick wieder hebt und ihm vorsichtig zulächelt, wirkt die Geste zwar, als müsse sie sich darum bemühen, doch es liegt auch eine gewisse Zärtlichkeit in ihrem Blick, wie sie so vor ihm steht und sich windet – da ist etwas, das gegen ihren Stolz kämpft und sie hier hält, obwohl sie sich offenkundig unwohl fühlt, wie die ungehorsame Tochter vor dem Vater zu stehen, dem sie beichten muss, dass sie den Milchkrug zerbrochen hat. Wie so oft stellt Tristan fest, dass in der Brust seines jungen Weibes zwei Herzen zu schlagen scheinen.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #24 am: 27.08.2017, 21:28:10 »
Wie Lîf sich ihren Weg durch das Langhaus bahnt, schlägt Tristans Herz mit jedem Schritt höher. Doch als sie dann vor ihm steht, versetzt sie ihm gleich wieder einen gezielten Stich da hinein: wie unwohl ihr unter seinem Blick ist, wie sie sich windet! Wie sehr sie mit sich ringen muss, ihm Dank auszusprechen, wie sehr es ihr gegen den Strich geht! Sie sagt's wohl bloß, weil die Leute es von ihr erwarten, da könnt' er drauf wetten. Ach, aber am ärgsten trifft es ihn, wie sehr sie sich um ein Lächeln bemühen muss. Wenn sie ihm wirklich dankbar wäre für seine Hilfe, dann müsste das doch etwas leichter gehen.[1] Er wartet darauf, dass sie wenigstens erzählt, was Esja denn nun zu der Robbe gesagt habe, doch sie steht bloß weiter mit gesenktem Kopf da, als harre sie seiner Schelte. Eigentlich will er nicht mit ihr schelten. Was er sagen wollte, hat er längst gesagt, bei sowas fackelt er gar nicht lange.

Aber vielleicht hat sie recht, dass sie so vor ihm steht. An den nächsten Tischen kann man wohl sehen, wie die Ohren sich spitzen. Offenbar erwartet nicht nur sein Weib, dass er ihr tüchtig ins Gewissen redet. Wenn er's nicht tut, könnt's ein Gerede geben, die Leute würden sagen: der Egil hat sich beherzt um die Sache gekümmert, der Tristan nicht! Hat nicht sogar Esja ihm dringend geraten, seinem Weib Grenzen zu zeigen, sobald sie über die Stränge schlägt, wie ein jeder Mann seinem Weib? Also schön, was sein muss, muss sein.

"Da bist du ja endlich!" begrüßt Tristan sie also. "Jetzt komm, was stehst du da und starrst den Fußboden an, du bist doch keine Magd. Setz dich zu mir. So ist besser. Und wegen der Robbe, da habe ich schon gehört, dass Esja dir recht gegeben hat, und überhaupt hat sie mir gesagt, dass du Gajas Willen mit besonderem Eifer und Tüchtigkeit folgst. In diesem Punkt hast du dir also nichts zuschulden kommen lassen, im Gegenteil, da muss ich stolz auf dich sein! Aber schau, in einer solchen Situation wie vorhin, da darfst du die Leute nicht erst lange rätseln und daherschwatzen lassen, da musst du dich gleich an sie wenden und klar sagen, was Sache ist. Du bist doch kein kleines Mädchen mehr, sondern ein verheiratetes Weib. Die Frau des Skalden und Esjas Schülerin! Wenn die Leute murren, da hebe den Kopf und schreite gleich ein. Sag: 'Gaja will, dass ich der Robbe helfe', oder wenn du dir nicht auf den ersten Blick sicher bist, was ein Zeichen zu bedeuten hat, sag: 'Seid einen Augenblick still, die Große Mutter spricht zu mir!' Zweifel lassen sich leichter zerstreuen, wenn sie noch nicht überall die Runde gemacht haben. Und jetzt lass uns nicht mehr darüber reden. Hast du Hunger? Da drüben kannst du dir Fischsuppe holen, oder probier hier den gebeizten Fisch, den die gute Sigrid mir gebracht hat."

Doch die Entscheidung darüber nimmt er ihr ab, indem er sie kurzerhand auf seinen Schoß zieht und mit dem guten Fisch füttert wie Bard die kleine Robbe. (Ob es ein ähnliches Gerangel dabei gibt, hängt sehr von Lîf ab. Vielleicht gibt sie ja auch ihrem Herzen nach und schmiegt sich an ihn, dann zieht er sie noch näher an sich heran und vergräbt das Gesicht kurz zwischen ihren Brüsten.) Aber egal welche Seite sein Weib ihm zeigt, zum Schluss flüstert er ihr jedenfalls ins Ohr:

"Ich bin dir doch gar nicht böse, das musst du nicht denken. Ich weiß doch, wie schwer es ist, sich in der Fremde einzufinden, hast du das vergessen? Die anderen verstehen das nicht, können es nicht verstehen, weil sie's nie erlebt haben. Also hör' auf mich, ich will dir doch helfen! Nur um eine Sache muss ich dich bitten: mit der Inga lege dich in den nächsten Tagen nicht wieder an. Mir ist egal, wie du es tust, ob du ihr aus dem Weg gehst oder ihr schmeichelst oder welch Kniffe ihr Weiber da untereinander verwendet, nur lass es nicht wieder zum Streit kommen! Und ich will dich gleich noch warnen: Egil, ihr Mann, hat sie windelweich geprügelt, die Inga, weil sie so böse über des Skalden Weib gesprochen hat. Er ist nämlich der Sohn meines Drachenführers, da darf es einfach kein böses Blut geben, das sieht er so wie ich. Aber bei der Inga, da kann ich nicht sagen: trägt sie's ihm nach oder dir. Also ich bitte dich: Gib acht!"

So appelliert Tristan an seines Weibes bessere Seite, bevor er Lîf wieder freigibt.
 1. Sense Motive = 9 (mit Eheweib-Bonus)

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #25 am: 28.08.2017, 11:23:50 »
Diesmal gehorcht Lîf ihrem Tristan sofort und setzt sich neben ihn, lässt sich von ihm in den Arm nehmen, lehnt sich gegen ihn und lässt ihren Kopf auf seine Schulter sinken. "Ich weiß, dass es nicht recht war" sagt sie kleinlaut und so leise, dass nur ihr Mann die Worte verstehen kann. "Die Göttin weiß es: Ich versuche ja, nicht wütend zu werden – ich merke doch selbst, dass ich dann nicht mehr weiß, was ich sage..." Es fällt ihr schwer, sehr schwer, das zuzugeben, und ihr Stolz will schon wieder auflodern. Doch sie bezwingt ihn, und die Belohnung folgt auf dem Fuße: Liebevoll, ja, zärtlich setzt Tristan sie auf seinen Schoß, und noch ehe sie ihren fragenden Blick mit einer Äußerung ergänzen kann, schwebt ein Stück Fisch vor ihren Lippen, und sie schaut erst verwundert, dann kichert sie, sperrt den Mund auf und lässt sich füttern. Offenbar hat er in diesem Moment ganz genau den richtigen Ton gefunden. Jedenfalls legt die junge Frau sanft ihre Hand auf seinen Hinterkopf und streichelt über sein Haar, als er sein Gesicht an ihre Brüste schmiegt, lächelt und merkt gar nicht, wie einige der Weiber im Hintergrund, die die beiden genau beobachten, wissend nicken und schmunzeln.

An Tristans Brust geschmiegt, einen Arm um seinen Nacken geschlungen, mit der anderen Hand immer wieder über seine Wange mit den rauen Barthaaren streichelnd, lässt sie sich willig ein Stückchen von der Delikatesse nach dem anderen in den Mund schieben, kaut, genießt und lächelt selig, als sie endlich gesättigt die Augen schließt und ihrerseits ihr Gesicht an seinem Hals vergräbt, ihn küsst und leise seufzt. Wie Balsam legen sich seine tröstenden Worte über ihre aufgewühlten Gefühle, beruhigen und besänftigen sie, und der Rotschopf flüstert ihm ins Ohr: "Ich will alles tun, was ich kann, damit es keinen Streit mehr gibt, ich versprech's dir!" Was sie, bei allem Temperament und den damit einhergehenden geringen Erfolgsaussichten, ehrlich meint. Inga tut ihr sogar bereits leid – zumal Tristan nach geltendem Brauch ebenfalls das Recht gehabt hätte, mit ihr zu verfahren wie Egil mit seinem Weib. Sie weiß es immer mehr zu schätzen, dass das Schicksal sie mit einem Mann verbunden hat, der ihr nicht nur das Herz schneller schlagen lässt, sondern der sie wirklich zu lieben scheint – so, wie sie ist. Und das, gesteht sie sich mit einem lautlosen Seufzer, ist bei einem Wildfang wie ihr alles andere als leicht. Glücklich kuschelt sie sich an ihn und lässt eine Hand unter sein Hemd gleiten, um über seine breite Brust zu streicheln. Dass er sie wieder freigeben will, registriert sie nicht, oder sie ignoriert es: Die junge Frau fühlt sich auf seinem Schoß mit einem Mal sehr wohl.

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #26 am: 28.08.2017, 18:58:40 »
"Oh!" macht Tristan, als Lîf mit der Hand unter sein Hemd fährt, nachdem sie ihn zuvor schon gestreichelt, geküsst und ihm alles versprochen hat, was er von ihr hören wollte. "Oh Lîf, bei dir weiß man wirklich nie, wie du als nächstes—" reagieren wirst, wäre der Satz weitergegangen, den Tristan so abrupt enden lässt. Auch jeden Gedanken, sein Weib freizugeben, verwirft Tristan angesichts der veränderten Lage sofort. Vielmehr sinkt die Hand, die Lîf zuvor gefüttert hat, nun unter den Tisch und dort zielgenau an ihr wohlgeformtes Hinterteil, um sie noch ein Stück näher zu ziehen und hernach genussvoll daran herumzukneten. Er hat nicht die geringste Ahnung, was er gerade richtig gemacht hat, dass sein Weib sich ihm auf diese Weise zuwendet. Von sich aus hat sie das in den drei Monden ihrer Ehe noch nicht getan und es hat auch bloß Ole zu Gast sein müssen, damit sie sich vor jeglicher intimen Geste ihres Gatten errötend wegduckte. Und jetzt kuschelt sie sich derart aufreizend auf seinem Schoß im vollbesetzten Langhaus und geniert sich nicht? Das verstehe, wer will.

"Hm, hatte ich erwähnt, dass es vor dem Opferfest am vierten Tag verboten ist, dass Mann und Weib miteinander liegen, ja?" fragt er sie, leise stöhnend. "Wer sich solche Regeln nur ausdenkt..."

Und so kommt es, dass die beiden einige Zeit später, als die Kienspane ausgebrannt und die Herdfeuer niedergebrannt sind, die Weiber das Geschirr gesäubert und die Männer die Tische beiseite geräumt haben und ein jeder seinen Platz auf den Schlafbänken gefunden hat, dass unsere jungen Eheleute also, obwohl innigst gestimmt, nur engumschlungen in ihre Felldecken gekuschelt beisammen liegen und still dem Wispern der anderen, dem tiefen Atmen, dem Schnarchen lauschen, bis der Schlaf auch sie mit beiden Armen umfängt.

Ha, am Ende wird die Sache ja doch viel einfacher, als die alte Esja meint, denkt Tristan noch, bevor seine Sinne entgleiten. Sieht doch so aus, als hätte Lîfs Herz schon über den Trotzkopf gewonnen! Dann können wir uns den Schweiß, die Tränen und sonstigen Mühen ja sparen und gleich zum gemeinsam glücklich werden übergehen...

~~~

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #27 am: 01.09.2017, 14:31:44 »
Früh am Morgen ist es stickig und duster in dem Langhaus. Unter der Decke aus roh behauenen Balken und Weidenflechtwerk haben sich die Gerüche des Feuers, der Mahlzeit vom Abend und der Menschen gesammelt. Die Asche der Feuerstellen glimmt nur noch schwach. Gelegentlich bewegt sich eine dicke Felldecke, wenn einer der Schläfer sich im Traum rührt, klingt ein Schnarchen auf – oder auch ein kurzer, weniger angenehmer Laut, begleitet von einer Wolke üblen Geruchs und dem unterdrückten Murren der Schläfer rundum. In der Stille beginnt sich irgendwann an mehreren Stellen etwas zu regen. Unter dem leisen Rascheln wollener Kleider kriechen Gestalten unter den Fellen hervor, recken sich müde, bemühen sich um leise Bewegungen, um den Rest nicht zu wecken, und tauschen im Flüsterton Morgengrüße aus: die Weiber. Sie, deren Aufgabe es ist, für Haus und Herd zu sorgen, sind es gewohnt, frühzeitig aufzustehen, während ihre Mannsbilder noch schnarchen, und so tun sie es auch jetzt. Mit routinierten Bewegungen tappen sie durch das Halbdunkel, teilen sich in die verschiedenen Weiberarbeiten, die des Morgens zu erledigen sind: Feuer entfachen, Wasser für den Frühstücksbrei zum Kochen bringen, die hölzernen Schüsseln und Becher auf die Tische stellen, die eiskalten Stiefel der Männer an den Feuern anwärmen, ohne das Leder anzusengen – denn dann droht der Schuldigen eine Tracht Prügel – Schnee von draußen hereinholen und wärmen, damit Wasser für die übliche Katzenwäsche bereitsteht, wenn ihre Männer erwachen... es ist mehr als genug für die vergleichsweise wenigen Weiber zu tun, die zum Thing mitreisen durften, und da man auch keine Mägde hier hat, muss jede tüchtig mit anpacken.

Auch Lîf hat sich vorsichtig von Tristan gelöst, in dessen Arm sie irgendwann spät in der Nacht friedlich eingeschlafen ist. In einer gelösten Stimmung wie selten seit ihrer Entführung hat sie dem schlafenden Skalde ein verträumtes Lächeln geschenkt, ihm eine Strähne behutsam aus der Stirn gestrichen und ist eine Weile neben ihm sitzen geblieben, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, um seine Züge zu betrachten. Leise seufzend hat sie sich eingestanden, dass sie noch immer nicht weiß, was sie will – was er ihr wirklich bedeutet. Da sind so viele böse Worte, ist so viel Streit zwischen ihnen, da ist ihre brennende Scham, ihr auflodernder Zorn, wenn sie daran denkt, wie er sie erst raubte, dann zum Weib nahm und schließlich auch bestieg, ohne sie zu fragen. Da ist ihre Sehnsucht, nach den Eltern, dem Hof, ihren Freundinnen, nach Ferslands weiter Landschaft... Aber da ist andererseits die eigenartige Anziehungskraft des gutaussehenden Mannes mit seiner faszinierenden Stimme, da ist seit neuestem auch das Eingeständnis, dass es ihr im Vergleich zu anderen Weibern auf den Inseln, erst recht zu den Mägden, wahrhaft gut geht bei Tristan. Dass er sie, nüchtern betrachtet, besser behandelt, als er muss. Noch nie hat er sie geschlagen, nie eine frische Rute geschnitten, um sie zu züchtigen, was sie verwundert, wenn sie ehrlich ist. Denn dank ihrer heißblütigen, zornigen Ader hat selbst ihr Vater das immer wieder einmal getan. Er kommt ihr so unbegreiflich, so widersprüchlich vor, wie sie sich selbst fühlt. Doch wo der Widerspruch, die Launenhaftigkeit, das Sprunghafte als Markenzeichen des Weibes gelten, ist er doch ein echter Mann, hat nichts Weibisches an sich, das muss Lîf zugeben, so sehr sie sich auch bemüht, alle Fehler bei Tristan zu finden, an denen sie herummäkeln kann.

Er ist ein Mann, oh ja... ein schöner Mann, und ein seltsamer Mann! "Komm, hilf mir, Lîf" wispert es neben ihr, und sie sieht auf. Sigrid ist's, die sich keuchend mit einigen Paar Stiefeln abschleppt, die die Mannsbilder – typisch! – beim Schlafengehen achtlos neben ihre Lager geworfen haben. Der Rotschopf schenkt Tristan noch einen langen, grüblerischen Blick, dann stemmt sie sich hoch und nimmt Sigrid ein paar von den ledernen Stiefeln ab. Während andere Weiber das Essen vorbereiten, kümmern sich die beiden um das kleinere Feuer, um das sie ihre Last kreisförmig anordnen. Dann setzen sie sich nebeneinander, kuscheln sich wie zwei Katzen aneinander – es ist, ohne die Schlaffelle und ehe die Feuer wieder Wärme geschaffen haben, empfindlich kühl in dem verräucherten Langhaus – und passen auf, dass keiner der Stiefel Schaden nimmt. Eines der Weiber, die das Essen besorgen, bringt ihnen einen Korb mit alten Rüben, und sie nehmen die kleinen, vielseitig verwendbaren Messer, die von ihren Schürzen baumeln, und beginnen die Rüben zu schälen und kleinzuschneiden, während sie sich leise miteinander unterhalten. Immer wieder fällt Lîfs Blick dabei auf ihren schlafenden Mann, und ihr wird bewusst, wie schön er aussieht, wenn seine Züge so entspannt sind wie jetzt. Sigrid, die sich an den Vortag erinnert und deren Aufmerksamkeit auch dies nicht entgeht, schmunzelt in sich hinein. Ihre Lebenserfahrung sagt ihr, dass so manches junge Weib irgendwann die Schmach verwand, geraubt worden zu sein – was kommt es letztlich darauf an, ob der Vater einem den Bräutigam aussucht oder ob der Zukünftige einen selbst auswählt? Wichtig ist doch nur, dass er ein tüchtiges Mannsbild, ein guter Liebhaber und ein zuverlässiger Freund ist – dann kann man der Großen Mutter danken. Sie sagt auch nichts, sondern lächelt nur verständnisvoll, als Lîfs Hände mit Rübe und Messer in ihren Schoß sinken, wie sie so leise seufzend ihren Tristan anschaut, und die Arbeit fast ganz an der Älteren hängen bleibt. Sigrid war auch einmal ein junges Weib und wusste nicht, wie mit den starken, unbekannten Gefühlen umgehen, die sie überfielen, als ihr schwellender Busen erstmals die jungen Kerle auf sie aufmerksam werden ließ. Und in diesen Dingen unterscheiden sich künftige Weise Frauen nicht von ihren Altersgenossinnen.
« Letzte Änderung: 02.09.2017, 16:24:28 von Lîf »

Tristan

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Das Disenthing
« Antwort #28 am: 02.09.2017, 12:06:13 »
"Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie ihn brachten", sinnt Sigrid, während ihre Hände wie von allein die Rüben bearbeiten. "Du wirst damals deiner Mutter Brust erst knapp entwöhnt gewesen sein. Ich aber war ein junges Weib und trug an meinem vierten Kind. Natürlich waren wir alle zusammengelaufen, als die Drachen in Sicht kamen, um zu schauen, wie es unseren Männern auf der Fahrt ergangen war und ob der unsere es überhaupt heil nach Hause geschafft hat. Vieh und reichlich Gut hatten sie dabei und nur einen einzigen Festländer: klapperdürr, blaß, kränklich sah das Bürschlein aus und stumm schien er auch. Keinen Mucks tat er, nicht ein Wort kam von seinen Lippen, egal was man ihn fragte oder wie man ihn triezte. Schaute einen nur an aus großen, dunklen Augen, aber irgendwie nicht wie ein Kind und auch nicht ängstlich oder verletzt, sondern... so recht weiß ich es nicht zu beschreiben... als sähe er dich gar nicht, als stünde jemand oder etwas ganz anderes vor ihm an deiner statt.

Jedenfalls fragten wir uns alle, warum unsere Männer ausgerechnet so ein Bürschlein anschleppten; normalerweise sind's ja doch eher hübsche Mädchen, die sie sich als Bettgefährtin mitbringen, oder auch einmal den ein oder anderen kräftigen Burschen für die gröbere Arbeit. Aber dann stellen sie den Jungen vor den Jarl hin und sagen ihm: 'Sing'. Und er sang ein Lied so schaurig und so schön, in heller Knabenstimme, für die er eigentlich schon zu alt aussah... in einer Sprache, die keiner von uns je gehört hat, auch nicht die Mägde, die vom Festland waren... und das Lied ging einem so durch und durch und rührte einen so ans Herz, dass man gar nicht hätte sagen können, was man da eigentlich fühlte. Noch nie hat einer von uns so etwas im Leben gehört, oder seither wieder. Wir alle wussten sofort: dieser Junge ist nicht ganz von unserer Welt. Jedem war auch sofort klar, dass er kein Knecht sein würde, sondern Olavs Schüler. Da musste gar kein Wort drüber verloren werden. Der Jarl hat es zwar noch offiziell gemacht und Esja hat ihre Runenstäbe geworfen und bestätigt, was wir schon wussten: ein Feenbalg sei der Junge in der Tat, dazu von mächtiger Linie. Natürlich bestürmten wir sie sofort, sie solle uns doch mehr verraten: Ist er Selkie- oder Satyrsohn, Wassermann oder ein kleiner Neck? Hat Gaja ihn uns geschickt? Wird er uns Fluch oder Heil bringen?[1]

Aber Esja hat bloß gekichert und geantwortet, des einen Fluch sei des anderen Heil. Auf unsere Mädchen müssten wir schon ein wenig acht geben, dass der schöne Junge nicht allzu viele davon am Wegesrand pflücke, aber unsere Drachen würden heil zu uns heimkehren, solange er mit an Bord sei. Und, hat sie noch gesagt"
, jetzt kichert Sigrid selbst in sich hinein, "wenn wir ihm endlich eine brächten, die er mit ganzem Herzen zum Weibe sich ersehne, dann müssten wir uns auch um die jungen Mädchen keine Sorgen mehr machen, dann seine Sorte sei treu, wenn es denn einer gelänge, sein Herz zu erobern. Was haben wir sie ihm in den Weg geworfen, unsere jungen Frauen, damit er nur endlich eine nähme!" Sigrids ganzer Körper bebt vor unterdrücktem Lachen.

Da dreht Tristan sich auf einmal auf seiner Bettbank herum und die beiden Frauen, die sich unbelauscht gefühlt hatten, schrecken auf, doch Tristan hat sich nur zur Wand gedreht und atmet noch immer tief und gleichmäßig.

"Leid hat er mir getan, der Junge, dass er zu Olav kam", fährt Sigrid etwas leiser fort. "Der war einer der schlimmsten Prügler, die du dir vorstellen kannst. Ständig betrunken war er auch. Gespielt hat er, gehurt, geflucht... Obwohl, wenn ich zurückdenke, hat er in den letzten beiden Jahren weniger getrunken und kaum noch gespielt und dem Jungen erstaunlich viel beigebracht. Und geschlagen höchstens ein Dutzend Mal. Und dann zwei Jahre später, auf ihrer ersten gemeinsamen Fahrt, starb Olav und Tristan war mit einem Mal unser Skalde. Da spätestens haben es dann alle gewusst: wenn Gaja ihn uns nicht geschickt hat, dann war es das Schicksal. Was hätten wir nur ohne Skalden gemacht? Vier Lehrbuben hat Olav in seinem Leben versucht auszubilden; zwei hat er bald wieder rausgeschmissen, weil sie ihm nichts taugten; der dritte aber ist auf seiner ersten Fahrt am Festland davongelaufen, weil er es nicht länger bei ihm ertrug; nur Tristan hat sowohl etwas getaugt als auch genug ertragen."

Sie beugt sich näher an Lîfs Ohr und wispert verschwörerisch: "Zweimal gewiss habe der Junge ihm schon das Leben gerettet, erzählt mein Eyvind mir, und wer weiß wie oft noch, nur weil er mit dabei war! Zweimal wäre ich also schon Witwe geworden ohne deinen Tristan. Nicht, dass mein Eyvind so etwas vor versammelter Mannschaft zugeben würde..."

Abermals wirft Tristan sich herum, diesmal auf den Rücken. Zwar wird er auch dieses Mal noch nicht wach, aber lange kann es nicht mehr dauern.
 1. Lîf erinnert sich vielleicht daran, dass Tristan ihr das Lied in der Hochzeitsnacht (nach ihrer Sichtweise) vorgesungen hat, nachdem er ihr zuvor die Geschichte erzählt hat, woher das Lied angeblich stamme und warum er so gut singen könne (s. HG IV).

Lîf

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Das Disenthing
« Antwort #29 am: 02.09.2017, 16:24:52 »
Still lauscht die junge Frau Sigrid, ohne den Blick von Tristan abzuwenden. Jedes Mal, wenn er zu erwachen droht, hält sie den Atem an, doch noch haben ihn die Waldnymphen, die den Schlaf bringen, nicht aus ihren Armen entlassen. "Ja, diesen Blick kenne ich... manchmal hat er ihn noch immer" murmelt der Rotschopf leise und erinnert sich an die Nacht, in der er ihr von dem Feenblut in seinen Adern erzählte. Sie hat es ihm zunächst nicht geglaubt – doch je länger sie mit der alten Esja zusammen ist und von der Greisin lernt, je mehr sie realisiert, dass sie selbst ein Erbe in sich trägt, das nicht ganz von dieser Welt ist, desto wahrscheinlicher kommt es ihr vor, dass es bei ihm auch so sein mag. Da er kein Weib ist, konnte ihn Esja natürlich nicht zum Lehrmädchen nehmen – zu unterschiedlich sind sich Mann und Weib darin, wie sie die Kraft aus Gayas Schoß wahrnehmen und handhaben. Doch offenbar hat sich bei ihrem Mann jene Kraft einen anderen Weg gesucht, in die Welt zu gelangen. Seine Stimme, ja... seine Stimme vermag Lîf gelegentlich selbst dann zu besänftigen, wenn sie zornig ist. Und das vermag sonst niemand außer der Zeit, solange die Wut in ihrem Bauch brennt wie ein großes Feuer. Wie war das noch, als er sie zum ersten Mal bestieg..?

Ein Schmerz durchzuckte sie ganz plötzlich, die sich vorgenommen hatte, alles über sich ergehen zu lassen, nicht zu klagen, aber auch keinesfalls Freude zu empfinden. Ein Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, als er sie... regelrecht gepfählt hatte! Die junge Frau erinnert sich nicht mehr genau, weiß nur noch, dass sie weinte und schrie, ihm mit den Fäusten gegen die Brust trommelte und alle möglichen Krankheiten an den Hals wünschte, weil er ihr so wehgetan hatte, just in dem Moment, in dem seine Beharrlichkeit sie dazu gebracht hatte, sich auf den Rücken zu legen und zuzulassen, wogegen sie sich zuvor immer gewehrt hatte. Es stach wie von    giftigen Dornen in ihrem Schoß, und sie gab ihm die Schuld. Ja, so war es... Doch dann nahm er die kämpfende, kratzende, heulende Lîf in den Arm und redete ruhig auf sie ein. Seine Stimme war es, die die Wut in ihr ganz allmählich von einem lodernden Brand zu einer kleinen, flackernden Flamme schrumpfen ließ. Hinterher schämte sie sich, schalt sich selbst schwach und dumm, dass sie sich schließlich in seinen Armen ausgeweint hatte wie ein kleines Kind. Doch seine Stimme hatte eine beruhigende Wirkung, fast wie die milde Hand einer tröstenden Mutter. In diesem Moment wurde ihr klar, dass in ihm auch ein winziger Teil der Großen Mutter wirken muss.

Wie in Zeitlupe bewegen sich ihre schmalen Hände, lassen eine lange Spirale der Rübenschale sich unendlich langsam abwickeln – in der Zeit, in der Sigrid neben ihr drei Früchte komplett geschält und kleingeschnitten hat. "Ein Feenbalg..." Dann lässt sie Messer und Rübe sinken, starrt auf ihren Schoß und hebt den Blick wieder zu Sigrid. "Was? Hat er denn nie eine... mit einer..?" fragt sie ungläubig. Sie meint doch die Mannsleute zu kennen: Jedem Rock steigen sie nach, keiner von ihnen kann einem jungen Mädchen widerstehen, wenn es nicht gar zu hässlich ist. "Treu... ha! Kein Mann ist treu" behauptet sie, und es lodert wieder in ihr auf. Doch dann horcht sie auf. "Das hat sie im Ernst gesagt..?!" Halb zweifelnd, halb mit einer vagen Hoffnung blickt sie auf den Schlafenden. "Er hat sich noch nie eine andere in sein Lager geholt?" Sie beginnt wieder zu wanken. Wem soll sie nur glauben? Ihrem Herzen? Ihrem Stolz? Der alten Esja? Sigrid? Was sie da über Tristans Leben hört, das klingt nicht nach dem harten, rücksichtslosen Schürzenjäger und Banditen, den sie sich in ihrer Vorstellung zurechtgestrickt hat, weil so einen abzulehnen leicht fällt. Ohne zu wissen, warum sie es tut, murmelt sie unvermittelt: "Er wird bald aufwachen – ich hole ihm einen Becher Tee." Damit legt sie die halb geschälte Rübe beiseite, sieht Sigrid verlegen einen Moment ins Gesicht und wendet sich dann ab, um leise zu den Weibern zu eilen, die Wasser erhitzen und Kräuter hineinwerfen. Wenig später ist sie wieder zurück, in den Händen einen dampfenden Holzbecher, den sie vorsichtig balanciert, während sie sich neben sein Lager kniet, auf ihre Fersen hockt und darauf wartet, dass er erwacht. Eigenartigerweise fühlt es sich gut an, ihn so in aller Ruhe anzusehen. Es ist ein Anblick, der es ihr warm ums Herz werden lässt. Die anderen Weiber und sogar Sigrid sind für den Moment vergessen.

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