"Na, Gebrauchsdiebstahl", antwortet Gertrud bereitwillig. "Wenn der Nachbar sich ohne zu fragen dein Werkzeug, Wagen oder Boot ausleiht oder den Ochsen oder das Pferd und damit Arbeit verrichtet, und dir fehlt es in der Zeit und du kannst die deine nicht verrichten, oder aber er bringt die Sachen in einem schlechterem Zustand zurück, als er sie vorfand. In beiden Fällen schuldet er dir einen Ausgleich für die Abnutzung oder deine Ausfälle."
Gleichzeitig klärt auch der weitere Wortwechsel zwischen Jarl und Kläger, was damit gemeint ist, oder vielmehr: was normalerweise darunter verstanden wird. Thorstein scheint das ganz anders zu sehen.
"Jetzt hört mir auf, Björn und mich zu einem Holmgang drängen zu wollen", protestiert er gerade. "Wollt ihr unbedingt, dass ich meinen Vetter erschlage? So würde der Kampf nämlich ausgehen, schließlich hat er unser beider Lebtag lang noch kein Raufen gegen mich gewonnen und das wird heute nicht besser sein, wo er seit drei Jahren nicht mehr mit auf Fahrt kommt wegen der kaputten Schulter, den Arm kann er kaum heben! Und zweitens, wenn er nicht mehr wäre, täte Rike sich am Ende bloß mit einem anderen einlassen, na ich danke auch schön! Bei Björn bleibt die Sache wenigstens in der Familie und ich weiß, woran ich bin!"
Nur noch vereinzelt können die Zuhörer sich hier ein Lachen abringen, die meisten scheinen das müßige Hin und Her inzwischen doch leid zu sein. Rike, auf der Lîfs beobachtender Blick liegt, steht fast wie unbeteiligt da und verzieht keine Miene. Lîf wird nicht schlau aus ihr. Stünde sie selbst dort vorn—hätte also ihr Tristan sie vors Gericht gezerrt—und müsste sich solche Dinge anhören, sie bliebe gewiss nicht derart ruhig! Aber ihr könnte es ja auch gar nicht erst passieren, wegen so etwas vor Gericht gezerrt zu werden, weil sie ihren Mann niemals mit einem anderen hintergehen würde. So kann sie die eine Seite kaum besser verstehen als die andere.
Jarl Gisle, der sich immer sichtlicher zusammenreißen muss, appelliert schließlich an den Vetter selbst, von Thorsteins Weib abzulassen, doch dieser wirft sich in die Brust: "Es haben doch alle gehört, was Thorstein sagte: lieber ist's ihm, sein Weib geht mit mir in die Haseln als mit sonst einem Dahergelaufenen. Und das geschähe ja wohl, wenn ich damit aufhörte, ob freiwillig oder weil der Vetter mich erschlägt."
Ein entsprechender Appell an Rike lässt diese energisch verkünden, dass sie als lebendige Frau auch lebendige Wärme spüren wolle, denn "Kalt und allein lieg' ich noch früh genug in meinem Grab!" Dann solle sie sich halt vom Thorstein scheiden lassen und den Björn ehelichen, fordert der Jarl, doch da ist sie sich mit ihrem Mann einig: Nein, eine Scheidung käme nicht in Frage. Man habe sich in allen anderen Dingen das Leben gut eingerichtet und auch den Kindern wolle man das nicht antun und überhaupt. Worauf auch Björn, ungefragt, einwirft: Wie, was, auf Dauer? Ne, auf Dauer wolle er kein Weib im Haus haben, die ihm alles durcheinander brächte und nach ihren Vorstellungen umräumen wolle und auch über ihn bestimmen, ihm etwa sein Bier am Abend verbieten, wo käme man denn da hin! Aber für den Beischlaf zahlen, ha, soweit käme es noch! "Warum sollte ich für etwas bezahlen, das bereitwillig hergegeben wird und dazu dem anderen genauso viel nützt wie mir!"
Der Jarl rauft sich die Haare (zumindest in Lîfs Vorstellung, in echt steht er lediglich ganz kurz davor) und in der Menge mehrt sich das Murren, das Tuscheln und Füßescharren. Die Aufmerksamkeit lässt nach.
Da tritt Tristan vor und erbittet das Wort, welches der Jarl um nur allzugerne gewährt.
"Mir scheint doch, Thorstein", wendet Tristan sich an den Kläger, "dass du mit der Situation, wie sie ist, eigentlich ganz zufrieden bist—lass mich ausreden!—genau wie dein Vetter und dein Weib. Da stellt sich mir nur noch die Frage: geht es dir bei deiner Klage um Geld oder ums Prinzip? Wenn es dir ums Geld geht, kann das Gericht dir nicht helfen, denn es gibt kein Gesetz, das hier etwas vorsähe. Geht's dir aber um's Prinzip, dass, wie du sagst, dein Vetter sich nicht einfach nehmen solle, was dein ist, dann wüsst' ich eine Lösung vorzuschlagen. Also?"
"Ja, was, das habe ich doch schon gesagt: ums Prinzip! Er kann mir nicht einfach Hörner aufsetzen und meinen, das gibt kein Nachspiel! Soll ich mir in einer solchen Lage Untätigkeit nachreden lassen? Kommt nicht in Frage!"
"Wunderbar. Also, keiner will den Holmgang, keiner eine Scheidung, und Björn tät Rike auch gar nicht auf Dauer in seinem Haus haben wollen. Andererseits haben Rike und Björn nicht vor, voneinander abzulassen, und dir, Thorstein, ist es sogar lieber, du weißt deine Rike in den Armen des Vetters, als dass du fürchten müsstest, sie ließe sich mit wer-weiß-wem ein. Das heißt: keiner, nicht einmal du, will tatsächlich etwas ändern. Die 'Hörner' sind das einzige, was dich stört, und die Nachrede, wenn du sie untätig auf dir sitzen ließest. Jetzt sage ich aber: die Hörner, die kann man aus dem Weg räumen. Dazu müsstest du nur einer Fridelehe zwischen deinem Vetter und deinem Weib zustimmen. Damit hätte jeder von euch das, was er haben will, und rechtlich wäre auf einen Schlag alles geklärt."
Jetzt steht zur Abwechslung einmal Thorsteins Mund in sichtlicher Verdatterung offen. Dass Tristans Vorschlag offenbar aber von einiger Ungeheuerlichkeit ist, zeigt die Totenstille, die plötzlich herrscht—für einen kurzen Moment. Dann hagelt es Proteste. Fridelehe, das hieße doch nicht, dass ein Weib sich einen Liebhaber nehmen dürfe! Die sei doch nur für Männer gedacht, die ihre Lust am eigenen Weib nicht gestillt bekämen und sich dazu eine fridla nähmen, meist eine junge Witwe oder ein unverheiratetes Weib von weit über zwanzig, das bislang keinen Gatten abbekommen hätte, weil es auf den Inseln nun einmal mehr Frauen gäbe! Und so geht es eine ganze Weile. Tristan lässt sie Leute ausreden, dann kontert er ihre Einwände Punkt für Punkt: Es ginge doch genau darum, dass Rike ihre Lust nicht an einem Mann gestillt bekäme, und nähme sie sich den Björn als fridleif, so seien die Verhältnisse wenigstens ordentlich geregelt. Das Einverständnis des ersten Mannes habe sie ja offenbar—so wie der Mann, der sich eine fridla nehme, ja auch die Einwilligung seiner Erstfrau benötige—und alle rechtlichen Dinge wie Erbschaft, Unterstützung, und dergleichen mehr, seien damit auf einen Schlag geklärt.
"Mit einer Ausnahme", fügt Tristan an. "Sollte die Rike noch einmal Mutter werden—das Jüngste ist elf Jahre, nicht wahr? Also vielleicht nicht sehr wahrscheinlich, aber auszuschließen ist es nicht—dann müsst ihr beide, Thorstein und Vetter Björn, zuvor vertraglich geklärt haben, wer sich für das Blag verantwortlich fühlt, wer von euch es anzuerkennen oder abzulehnen hat. Denn das darf nicht passieren, dass sich am Ende keiner dafür verantworten will. Also, was sagt ihr? Thorstein, du zuerst? Von deiner Zustimmung hinge es ab."
Doch Thorsteins Antwort wird übertönt von abermaligem Protest aus der Menge. So etwas könne man doch nicht einführen! Was für Vorbild setze das denn? Am Ende käme da jedes Eheweib an und will sich einen Liebhaber nehmen! Wo würde das hinführen! Derart unordentliche Verhältnisse... da täte ja bald keiner mehr durchschauen! Ha, da wisse man in kürzester Zeit ja gar nicht mehr, wessen Vaters die Kinder des eigenen Weibes seien!
"Nun, das weiß man auch heute schon nicht ganz so recht, nicht wahr?" hält Tristan ihnen entgegen. "Dazu muss man seinem Weib schon vertrauen. Und es bräuchte ja die Zustimmung des ersten Ehemannes, könnte gegen seinen Willen also niemals geschehen. Außerdem: habt ihr schon jemals von einem solchen Fall gehört? Also nicht nur vor Gericht, sondern ganz allgemein?" Dabei blickt er eine Gruppe von älteren Männern an, welche nach kurzem Zögern den Kopf schütteln. Einer versichert gar, nicht einmal sein Großvater hätte von einer solchen Sache erzählt. "Gut, also sind wir uns doch eigentlich einig, dass es ein sehr seltener Fall ist? Wie sehen das unsere Frauen?" Tristan blickt in Richtung der Weiberfeuer. "Hätte eine von euch es eilig, sich nach Rikes Beispiel einen fridleif anzulachen, weil ihr mit einem Mann nicht schon Arbeit genug habt?"