Das Zirkusvolk hatte wenig daran auszusetzen, dass die Halblingsfrau nun entwaffnet und gefesselt wurde. Manch einer wäre vielleicht dafür gewesen, ihrem Treiben nun mit einem gezielten Stich ins Herz ein Ende zu bereiten, allerdings hatten die meisten wirklich schon genug Gewalt erlebt. Gerade die Kinder verarbeiteten die Ereignisse schlecht. Tränen flossen aber nicht nur bei den Kleinsten, sondern auch bei vielen Erwachsenen – Tränen des Traumas, aber auch die der Erleichterung, dass der Spuk nun vorbei war. Äußerst verschreckt, wie die meisten Zirkusmitglieder waren, sammelten sie sich wieder am Feuer, richteten umgestoßene Sitzbänke und suchten wieder den Trost des Beisammenseins. Man sprach von großem Glück, denn schlussendlich hatte die Angreiferin keinen Erfolg gehabt, sondern „nur“ für Chaos, Rattenbisse und Brandwunden gesorgt, nicht von Dauer sein würden. Myron war und blieb tot und war ein Verlust, der allen das Herz zerriss, aber es hätte schlimmer enden können. Noab hatte überlebt. Durgin hatte überlebt. Kylies und Monds Heilkünste sowie der Segen von Nethys schafften geschundenen Körpern Linderung. Die geschundenen Seelen brauchten jedoch ihre Zeit.
So beschloss man still und einvernehmlich, die Nacht zusammen am Feuer zu verbringen und das Licht des Tages abzuwarten. Einige Leute holten ihre Instrumente und wiegten mit Melodien, die von fernen Orten träumen ließen, die ersten in den Schlaf. Der Professor lenkte mit Geschichten über Abenteurer und Helden ab, bis seine Stimme schlussendlich ganz den Dienst versagte und er Gidarron das Ruder überließ, der aus der Erzählung ein Ein-Mann-Theaterstück machte, indem er in die Rolle jeder einzelnen Figur schlüpfte, und damit tatsächlich für eine halbwegs fröhliche Stimmung unter den Zuhörern sorgte. Je später (beziehungsweise früher es wurde), desto stiller wurde es im Lager. Nur noch einige blieben auf, um über den benötigen Schlaf ihre Wahlfamilie zu wachen.
Die Halblingsfrau, die von Durbak und Zonk genau im Auge behalten wurde, wirkte beinahe friedlich, solange sie bewusstlos war. Doch tatsächlich war dieser Zustand nicht von Dauer. Etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang, gab sie ein leidvolles Stöhnen von sich, das davon zeugte, dass sie gerade wieder zu Sinnen kam und dass das Erwachen keinesfalls ein schönes Erwachen für sie war. Mit stark vor Schmerz verzerrtem Gesicht versuchte sie, sich gegen die Fesselung zu wehren. In ihrem Zustand merkte sie aber schnell, dass ihr das nur noch mehr Schmerzen bereite, anstatt dass es sie der Freiheit näherbrachte – also gab sie schon nach wenigen Sekunden am. Geknebelt und mit verbundenen Augen war sie vollkommen orientierungslos. Allerdings verriet ihr schwerer Atem, dass sie weiterhin litt, also wach war, und dass sie hin und wieder den Kopf bewegte und mit dem Ohr Geräuschen folgte, zeugte davon, dass sie zu erlauschen versuchte, was um sie herum vor sich ging.
Dennoch: als man sich Antworten von ihr erhoffte, sie vom Knebel befreite und tatsächlich eine Befragung begann, zeigte sie sich äußerst unkooperativ.
„Erwartet ihr nun ernsthaft, dass ich euch helfe, mein Vorhaben noch mehr zu sabotieren? “ Sie zischte verächtlich.
„Ihr werdet schon noch sehen, dass es noch nicht vorbei ist! Erstickt an eurer Einfältigkeit!“ Mehr war ihr nicht zu entlocken. Da blieb sie erstaunlich standhaft.
Als die Sonne aufging und die Sterne vom Himmel vertrieb, wirkte es auf den ersten Blick beinahe so als wären die Ereignisse der letzten Nacht nicht geschehen. Die Unordnung war bereits weitestgehend beseitigt und Artisten und erwachten nach und nach aus ihrer Nachtruhe. Man ging der nötigen Morgenroutine nach. Die Tiere mussten versorgt werden, aber auch der eigene Magen wartete auf ein Frühstück. Man kontrollierte Wägen und Zelte auf Schäden und andere böse Überraschungen. Auf den zweiten Blick, allerdings, sah es schon ganz anders aus. Myrons Wagen wurde zur Anlaufstelle für all diejenigen, die sich in Ruhe von ihm verabschieden wollten. Man hatte ihn nun, da von seinem Wagen keine Gefahr mehr ausging, in sein Bett gelegt und dort aufgebahrt. Es war ein Segen, dass seine verkrampfte Haltung sich inzwischen gelöst hatte. Er wirkte so als würde er friedlich schlafen.
Durgin und Noab waren noch nicht vollkommen fit, aber schienen beide beweisen zu wollen, dass man sie nicht betüddeln brauchte. Sie ließen es sich, jeder für sich, nicht nehmen, bei den letzten Aufräumarbeiten zu helfen.
Die Nebendarsteller meldeten sich freiwillig, gemeinsam nach Abberton zu gehen, um die Wachleute herzuholen. Dieser Ansatz schien auf Anhieb bei den meisten mehr Anklang zu finden als die Frau in die Stadt zu bringen. Außerdem würde sich vielleicht die Gelegenheit ergeben, sich ein wenig genauer umzusehen.
Es dauerte eine Weile, aber dann kehrten sie in Begleitung dreier Männer zurück. Zwei von ihnen, beides Jünglinge, die erst an der Schwelle zum Mannesalter standen, trugen einfache Haubenhelme, Brigantinen und jeweils ein Schwert am Gürtel. Es war nicht wirklich eine Uniform erkennbar, eher wirkte es so als hätten sie die Ausrüstung über ihre alltägliche Kleidung gestülpt. Der dritte Mann, den sie flankierten, war schon älter (vermutlich in seinen Fünfzigern) und wirkte allein dadurch wie die Autoritätsperson unter ihnen. Seinerseits weder gerüstet noch bewaffnet, sondern in einem feinen, blauen Gehrock und mit einem breitkrempigen Lederhut ausstaffiert, schien er allerdings kein Wachmann zu sein. Er begrüßte die Zirkusleute, zu denen sein Trupp nun stieß mit einem eher zurückhaltenden Lächeln, das davon zeugte, dass er sich unbehaglich fühlte. Dennoch ließ er sich von Tollpatsch, der vorantapste, zum Gemeinschaftsfeuer führen, um das herum sich nun alle versammelten, die wissen wollten, was vor sich ging. Umringt von den Mitgliedern des Zirkus, nahm er seinen Hut in die Hand, so respektvoll als würde er das Haus eines Gastgebers betreten, und offenbarte ein licht werdendes Haupt, das sich auf dem halben Weg zur Halbglatze befand.
Der Professor trat auf ihn zu und sie wechselten kurz in gesenkter Lautstärke einige Sätze. Wer nah bei ihnen stand, könnte verstehen, dass der Besucher um Erlaubnis bat, einige Worte an alle richten zu dürfen. Der Professor stimmte dem zu (nicht ohne den Hinweis, das ihn niemand um Erlaubnis bitten musste) und bat alle, aufmerksam zu lauschen und den Mann ausreden zu lassen.
Der Neuankömmling wirkte noch verunsicherter, als nun alle Blicke auf ihm ruhten, und strich sich durch den gestutzten Vollbart, bevor er sich um einen offiziellen Tonfall bemühte, als er das Wort ergriff.
„Danke, dass ihr uns in eurer Mitte willkommen heißt!“, begann er.
„Mein Name ist Jae Abber und ich bin der hiesige Bürgermeister. Ich habe eure Vorstellung gesehen, sie war wirklich spektakulär!“, ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. Anscheinend wusste er nicht so recht, wie er sich am besten verhalten sollte. Er entschied sich, nach einem Räuspern, einfach geradeheraus zu sprechen.
„Leider führt uns heute ein nicht erfreulicher Anlass zusammen. Es betrübt mich sehr, dass ich erfahren musste, dass ihr von jemandem aus Abberton oder vielleicht von jemandem aus der Gozreh-Enklave in der Nähe angegriffen wurdet. Ich möchte euch allen mein Beileid ausdrücken. Ich habe Herrn Stendhal nur kurz gesprochen, als er mich um die Erlaubnis ersuchte, auf dieser Wiese das Lager aufzuschlagen, aber er schien mir ein guter Mensch zu sein. Nie hätte ich damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte! Nur habe ich trotzdem die Sorge, dass ich eine Teilschuld auf mich geladen habe. Ihr solltet wissen, dass unsere kleine Stadt schon seit Wochen mit seltsamen Vorkommnissen geplagt wird. Keine gewaltsamen, Abadar verhüt’s!, zu Schaden war bisher niemand gekommen. Ich hätte euch gewarnt, hätte ich auch nur die geringste Befürchtung gehabt, dass ihr hier nicht sicher seid. Offenbar habe ich mich geirrt. Es tut mir sehr leid, dass ihr in diese Angelegenheit hineingezogen wurdet.“ Er nickte bekräftigend.
„Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um die Hintergründe aufzuklären und alle Schuldigen zu finden. Allerdings kann mir nicht vorstellen, dass auch nur irgendwer aus unserer Stadt zu solchen Grausamkeiten fähig wäre... aber dass jemand aus der Eremitage der Gesegneten Blitze so etwas tun würde, kann ich auch nicht glauben.“ Bürgermeister Abber schien in dieser Sache überzeugt zu sein.
„Mir wurde von euren Leuten berichtet, dass die Hinweise dennoch dafürsprechen, dass die Frau, die euch angegriffen hat, eine Druidin ist. Ich nehme sehr ernst, was hier vorgefallen ist, und werde erforschen, was es mit ihr auf sich hat. Ich bin mir sicher, dass sie nicht im Sinne ihres Zirkels gehandelt hat, sollte sie doch zu ihm gehören. Die Einsiedler dort sind höflich, bescheiden und fromm. Sie leben sehr zurückgezogen und schicken nur ab und zu Boten in den Ort, die Vorräte kaufen. Ich kann nicht behaupten, alle von ihnen zu kennen, doch für ihren Anführer würde ich mich sogar gern verbürgen. Es handelt sich um einen Mann namens Harlock Hamdeel. Er ist ein feiner Kerl. Er liebt Tiere, die Natur und dergleichen, und ich würde ihn durchaus einen guten Freund nennen. Ehrlich, ich kann mir unmöglich ausmalen, dass er auch nur irgendetwas von dem, was euch angetan wurde, gebilligt hätte. Ich will damit nicht sagen, dass die Einsiedler und Abberton immer gut miteinander auskommen. Wir hatten zuletzt einige Schwierigkeiten – doch nichts davon würde Mord und andere Verbrechen rechtfertigen. Es gab wenig Regen, unsere Felder sind ausgedorrt. Die Hitze hat unsere Aussaat vertrocknen lassen und alle Keimlinge, die überlebt haben, wurden von einem Kälteeinbruch vernichtet. Dann kam der Wind und hat unseren einst fruchtbaren Ackerboden abgetragen. Und nicht nur das: viele unser Brunnen sind leer und die Bäche... ich habe ihre Pegel noch nie so niedrig gesehen. Nun, die Natur verläuft in bestimmten Zyklen, ich weiß. Viele von uns denken, dass wir nur warten müssen, dass der Regen zurückkommt. Aber manche der Einsiedler haben uns die Schuld gegeben... Es ist so als ob sie denken würden, wir hätten etwas falsch gemacht. Aber was genau das sein soll, kann ich nicht sagen. Wir sind eine Gemeinde von simplen Bauern, wir bestellen diese Felder schon seit Jahrzehnten und noch nie war die Situation derart kritisch.“ Dies schien eine große Last für ihn zu sein – vermutlich für alle Bürger, in deren Namen er als Bürgermeister sprach.
„Im Verlauf der letzten Woche wurde es richtig schlimm. Die alte Hemmema hatte mitten auf der Straße eine beängstigende Begegnung mit einem Wildschwein. Abbertons Müllerin, Seirah Hawfton, und ihre Familie werden vermisst. Niemand würde es ihnen verübeln, hätten sie Abberton verlassen und ihr Glück woanders gesucht, aber vielleicht wurden sie ja vertrieben. Es sähe ihnen nicht ähnlich, wenn sie bei Nacht und Nebel abgereist wären, ohne jemandem Bescheid zu sagen.“ Er zögerte kurz.
„Normalerweise würde sich Sheriff Ralhain um solche Angelegenheiten kümmern, unter ihrer Aufsicht waren wir immer sicher, aber sie scheint nun auch wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ich...“ Wieder ein Zögern. Dass er sich unwohl im Rampenlicht fühlte, machte sich verstärkt bemerkbar. Dennoch fuhr er fort:
„Ich habe mich gefragt, da ich nun erfahren habe, dass ihr letzte Nacht so viele Unschuldige beschützt habt, ob ihr vielleicht… vielleicht das Gleiche für uns tun könntet? Mir ist bewusst, dass das viel verlangt ist – vermutlich zu viel, nach all dem, was ihr erleben musstet. Doch ich kann nur demütig um eure Nachsicht und eure Hilfe bitten. Ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte. Wir sind einfache Leute, mit alltäglichen Schwierigkeiten kommen wir zurecht, aber wir sind bei Weitem keine erfahrenen Kämpfer. Ohne Sheriff Ralhain können wir uns nur leidlich gegen größere Gefahren verteidigen. Zugegeben, gerade jetzt ohne sie dazustehen, ist sehr ungünstig… nicht nur auf die erwähnten Vorfälle bezogen. Zuletzt hat sie versucht, eine Bande von Dieben und Vagabunden aufzulösen, die sich in unserer Taverne eingenistet haben. Gewiss haben sie von Ralhains Verschwinden bereits Wind gekriegt – sie werden merkbar frecher. Ich hoffe von ganzem Herzen, ihr ist nichts zugestoßen, und sie kehrt wieder zu uns zurück. Wenn ihr nach ihr suchen könntet, wäre das wunderbar.“ „Wolf, hier“, er legte einem seiner Wachmänner die Hand auf die Schulter,
„ist einer unserer kräftigsten Burschen. Ich stelle ihn euch gern zur Seite, sobald wir die Frau, die euch letzte Nacht attackiert hat, eingesperrt haben. Sie soll niemandem mehr Schaden zufügen können. Wenn ihr euch bereiterklärt, uns zu helfen, würde Abberton tief in eurer Schuld stehen. Ich werde gern mit Harlock über die Vorkommnisse hier sprechen. Vielleicht kann ich sogar bewirken, dass ihr Zutritt zur Eremitage bekommt, damit ihr selbst mit ihm reden und mit eigenen Augen sehen könnt, dass die Einsiedler harmlos sind.“