"Bin ich ein Chirurg?" pflaumte Milo den Priester an, als dieser seine Fluch-Theorie ausbreitete und dabei nach der Narbe am Bärenhals fragte. Etwas an Jhods Erklärungen erboste ihn, aber er kam nicht sofort darauf, was es war.
"Die Narben habe ich wohl gesehen, aber daraus nur geschlossen, dass er offenbar schon viele Kämpfe überstanden hat. Also kein nobler Wächter, sondern ein Verfluchter, sagt Ihr? Verstehe ich das richtig: Da kommt ein Mann hierher, vermutlich weil er Erastils Gunst oder Hilfe erbitten will, indem er dem Gott ein Opfer darbringt, doch dieses Opfer missfällt dem Gott so sehr, dass er den armen Kerl auf Jahrhunderte verflucht? Für ein Missverständnis? Wäre es nicht sinnvoller, Erastil erstellte einfach konkrete Regeln oder Gesetze, was ihm gefällt und nicht gefällt? Also vielleicht etwas in der Art: Die Zehn Obersten Regeln. Erstens: Keine Tieropfer in meinen Tempeln? So deutlich muss man das schon sagen, ansonsten könnte ein Sterblicher in seinem einfachen Gemüt schon meinen, ein Tieropfer sei genau das, womit man einem Gott der Jagd gefallen könnte. Statt dessen lässt der seine Anhänger lieber selber herumrätseln, was wohl richtig sein könnte, und straft derart grausam, wer sich irrt?"
Warum konnten die Götter sich nicht deutlicher ausdrücken? Klare Gesetze aufstellen? Eine Art Vertrag zwischen ihnen und den Gläubigen? Damit könnte man sich doch viel Kummer ersparen. Jeder Beteiligte wüsste, was seine Aufgaben, Rechte und Pflichten wären, und auch das Strafmaß bei einer Verfehlung wäre im Vorhinein bekannt. Stattdessen gab es nichts als Vagheiten, Widersprüche, Parabeln, die sich so oder so oder nocheinmal völlig anders verstehen ließen. Ein Gott, dem es wirklich darum ging, die Welt der Sterblichen im Guten zu beeiflussen, würde sich doch um ein wenig mehr Klarheit und Verbindlichkeit bemühen – außer, er gefiel sich in seiner Willkür...
"Oder gibt es solche Gesetze in Eurem Glauben?" fragte er ein wenig kleinlauter. "Hat dieser Mann sie wissentlich missachtet?"
So oder so war Milo enttäuscht, dass der Bär doch nicht ein nobler Wächter war. Musste die Wahrheit immer so schäbig sein?
"Ich hatte mir halt etwas heroischeres ausgemalt. Noch etwas, bei dem ich umdenken sollte, solange ich hier in Brevoy unterwegs bin. Daheim wird jeder historische Fund genutzt, um die heroische Vergangenheit vor der Fremdherrschaft wiederaufleben zu lassen. Hier sind ein paar alte Steine nur ein paar alte Steine... Meine Untersuchung hat jedenfalls nichts interessantes an ihnen zu Tage gefördert."
Sein Blick geht zur Höhle hinüber. "Sollen wir da noch hineinschauen, oder lieber nicht? Nicht, dass wir uns hier in unserem Unwissen irgendwas zu Schulden kommen lassen und dann in ein paar Jahrhunderten erlöst werden müssen."