Trotz der mehrmaligen gegenteiligen Beteuerungen der Gräfin gewannen sowohl Louis als auch Friedrich, der Louis nur sporadisch mit eingeworfenen Fakten unterstützte, den Eindruck, als würden die Schmeicheleien des Montaigners ihre Wirkung mehr und mehr erzielen. Die zu Beginn so distanziert und kühl wirkende Gitta von und zu Castell taute mehr und mehr auf, ihre Wangen röteten sich wohl kaum vom wenigen Alkohol, den sie trank, und schließlich begann sie sogar vereinzelt zu kichern, wenn Louis eine seiner gewollt oder ungewollt komischen Verballhornungen eisenländischer Redensarten einsetzte.
Auch die Zunge ihrer Gastgeberin begann sich zu lockern, und sie machte die eine oder andere Andeutung darüber, nützliches Wissen über verschiedene wichtige Persönlichkeiten zu besitzen.
[1] Nichts, was sie sagte, half Louis oder Friedrich wirklich weiter, doch Louis vermutete, dass er mit dem gezielten Einsatz seines Charmes das Eis noch etwas weiter brechen konnte, solange er es nicht übertrieb.
[2]Valdas' Gesprächspartner indes schien mehr und mehr abgelenkt durch das Verhalten seiner Mutter und begann Dinge wie
"... in ihrem Alter. Aber ich bin morallos." vor sich hin zu murmeln.
[3] Valdas hatte schnell herausgefunden, in was das angespannte Verhältnis von Mutter und Sohn begründet lag: Achim konnte oder wollte nicht besonders gut verbergen, dass er Männern eher zugeneigt war als Frauen - sogar ausschließlich. Und nicht nur dass, sondern er befand sich in einer festen Beziehung zu einem anderen Ratsmitglied. Valdas war zwar fremd in diesem Land, aber ihm war klar, dass eine solche Veranlagung sicher auch in den Eisenlanden als mindestens anrüchig angesehen wurde - kein Wunder also, dass die Mutter dies nicht goutieren mochte. Noch dazu, auch das wurde schnell deutlich, war Achim das einzige (zumindest lebende) Kind der alten Dame, die wohl nur schwerlich verschmerzen konnte, dass die Familie mit ihrem Sohn vermeintlich enden würde.
Wie auch immer Valdas selbst zum Lebenswandel des Adligen stand, er konnte zumindest nachvollziehen, dass diese Sache ihm zusetzte. Egal, wie reich und nach außen hin sorglos jemand war, Valdas hatte in seinem Leben genug erlebt, um zu wissen, dass Reichtum allein noch kein Glück verschaffte.
"Ich denke, es würde unserer Beziehung helfen, wenn die Linie nicht mit mir enden müsste." Valdas schrak leicht auf, denn in den letzten Minuten hatte sein Gesprächspartner sich vorwiegend auf die Beobachtung dessen Mutter gewidmet und Valdas kaum noch beachtet. Nun jedoch sprach er offenbar wieder mit dem Samarter.
"Ich hatte bereits überlegt, eine Scheinehe einzugehen, so wie es andere auch tun. Doch ich glaube nicht, dass ich eine solche Lüge leben könnte.
Ich habe Berichte aus der Montaigne gehört, dass es dort offen in einer Beziehung wie der meinen lebende Adlige geben soll. Offenbar hilft es Leuten wie mir, wenn man die Kirche aus dem Land wirft. Das wäre mein Traum: Ein Leben mit Walter führen und einen oder zwei junge Burschen als Erben zu uns nehmen. Wir könnten sogar unsere Familien vereinigen - vielleicht würde das sogar meine Mutter besänftigen. Doch wie soll das gehen? Niklas Träge ist zwar nicht gerade als Mann des Glaubens bekannt, aber er müsste seinen Segen dazu geben; und es wäre wahrscheinlich für immer ein Spießrutenlauf."Während im Salon diese Gespräche geführt wurden, hatten die beiden jungen Frauen unerkannt den Raum verlassen. Katharina, die das Gefühl hatte, verfolgt zu werden, glitt sofort durch die erstbeste Tür und war sich sicher, ihre Verfolgerin abgehängt zu haben.
[4] Der Raum, in dem sie sich nun befand, war wohl eine Art Durchgangszimmer, nur sehr schwach erhellt von einer kleinen Funzel, die an der Wand hing. Es reichte jedoch, um eine zweite Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes auszumachen (und festzustellen, dass sich hier tatsächlich nur ein wenig Nippes befand und nichts, was eine genauere Betrachtung rechtfertigte).
Die Tür jedoch, so stellte Katharina fest, als sie versuchte, diese zu öffnen, war verschlossen.
Allegra schlüpfte hinter der anderen jungen Frau aus dem Zimmer, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich eine der Türen den letzten Spalt schloss.
[5] Nun jedoch stand sie vor einer Entscheidung: Wollte sie der Frau weiter folgen, oder vielleicht die Gelegenheit nutzen, um sich selbst etwas genauer bei ihrer Gastgeberin umzusehen? Und was würde sie tun? Würde sie Katharina zur Rede stellen, sie womöglich sogar zum Kampf stellen? Noch war sie unsicher, was die tieferen Beweggründe dieser merkwürdigen Gäste waren.
Als sie gerade darüber nachdachte, was sie nun tun sollte, hörte sie ein Geräusch von der anderen Seite des Korridors, wo eine Treppe hinauf in Richtung der Schlafquartiere der Gräfin führte. War dort etwa noch einer der Diener zugange? Sie dachte eigentlich, dass außer denen, die im Salon für das Wohlergehen der Gäste sorgte, nur noch einer unten bei der Eingangshalle wachte.