Hintergrund (Anzeigen)1. Schiffbruch
"Ich habe einen! Samuel, ich habe einen gefangen!"
Vorsichtig, damit er das fragile Floß nicht zum kentern brachte, drehte sich Abdo zu seinem Kameraden um und hielt ihm den Fisch entgegen. Erleichtert sah er, wie dieser sein Lächeln mit geschlossenen Augen erwiderte. Sie würden es schaffen, gemeinsam.
Ursprünglich waren sie zu zehnt gewesen. Mehr konnte der Orden nicht entbehren, nicht für eine solch geringe Chance, eine verzweifelte Hoffnung, Hilfe im Kampf gegen die Shetani zu finden. Halil war der erste, den sie verloren. Zu diesem Zeit war das Boot noch nicht gekentert - der Junge war schlicht zu unvorsichtig gewesen, hielt sich für unsterblich, wie so viele in seinem Alter das taten. Und als er vom Mast fiel und sich den Hinterkopf aufschlug, war sofort klar, dass er sich geirrt hatte.
Aber das war nur der Beginn ihres Unglücks gewesen, zu einem Zeitpunkt, als Abdo noch nicht klar war, dass Aris ihre Reise verflucht hatte. Dann kam der Sturm. Er dauerte neun Tage und Nächte.
Als der Sturm schließlich abflaute, war alles anders. Das Boot hatten sie verloren, und mit ihm fünf weitere Frauen und Männer. Nur vier schafften es, sich an ein Stück des Rumpfes zu klammern, außer Samuel und ihm waren es noch Asha und Amaal gewesen, und ein wenig umhertreibende Ladung, die sie retten konnten. Wasser war das geringste Problem. Wohin auch immer sie der Sturm verschlagen hatte, es regnete oft, und es regnete viel. Sie hatten ein paar Schüsseln aus dem Treibgut bergen können, und konnten ausreichend Wasser für alle auffangen. Doch der Sturm hatte sie bereits bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit ausgezehrt, und sie hatten nichts zu essen. Und so kam es, dass bald auch Asha und Amaal die Reise zu Aris antraten; beide glitten sie einfach vom Floß, des Nachts, als alle schliefen, und zu schwach, um sich festzuhalten. Das war vor zehn Tagen gewesen.
Samuel versuchte dann, eine Angel zu improvisieren, um Nahrung für die beiden verbliebenen zu besorgen - und tatsächlich schafften sie es, einen Fisch zu fangen. Sie teilten ihn brüderlich und schlangen das Fleisch roh hinunter, doch es war für Abdo ein Festmahl, das ihn an seine Kindheit zuhause erinnerte. Doch seitdem hatten sie kein weiteres Glück gehabt, und vor allem Samuel wurde schwächer und schwächer. Doch dieser neue Fang würde sie wieder ein paar Tage über Wasser halten, im wahrsten Sinne des Wortes.
Als er ein kleiner Junge war, war Ya'Kehet noch eine prächtige Stadt gewesen, das Zentrum der Welt. Philosophen und Wissenschaftler tauschten ihre Ideen an der Universität aus, die Künste hatten eine Perfektion und Vollkommenheit erreicht, die ihresgleichen suchte, und die gesamte bekannte Welt hatte sich dem Reich angeschlossen und lebte in weitgehendem Frieden miteinander. Es war eine Zeit, als einem kleinen Jungen wie Abdo die Welt offenstand und er nach den Sternen greifen konnte.
Doch dann kamen die Shetani.
Niemand weiß, woher sie kamen, und zunächst gab es nur Gerüchte von grausamen außerweltlichen Lebewesen, die hier eine Karawane überfallen hatten und dort einem Hirten sein Vieh gestohlen. Das meiste wurde als Phantasterei abgetan, doch die Berichte mehrten sich, und schließlich nahm die Anzahl der Wesen derart zu, dass selbst größere Städte von marodierenden Banden nicht mehr sicher waren.
Der Krieg, wenn man es denn so nennen wollte, dauerte weniger als ein Jahr. Es gab ja keine zwei Heere, die sich gegenüberstanden. Hier waren die Armeen Ya'Kehets, vernachlässigt durch die Generationen des Friedens, dort wilde, bestialische Monster, die keine Hierarchie und keine Sozialstruktur zu kennen schienen, sondern alles, was lebte, zu vernichten suchten. Der Kampf war ungleich, und am Ende lag das Reich in Trümmern. Überall, wo die Shetani ihr unheilvolles Werk verrichteten, schien die Erde selbst den Kampf aufgegeben zu haben, und wo man auch hinblickte, gab es nur noch Tod und Verwüstung.
Die Überlebenden sammelten sich in abgelegenen Siedlungen, oft unter der Erde gelegen, und versuchten, den Kampf aufrecht zu erhalten - vor allem aber, das Überleben der Menschheit selbst und der Zivilisation zu sichern.
Besonders eine Gruppe führte diesen Kampf: Der uralte Orden von Ekdal, geweiht dem einen Gott Aris, dessen Kämpfer durch Meditation und Gebete totale Kontrolle über ihren Körper erreichten. Der Zufall wollte es, dass Abdo, dessen Eltern in den Wirren des Shetani-Ansturms ums Leben kamen, von einer Gruppe dieser Mönche aufgelesen und aufgenommen wurde.
Und nun, 30 Jahre später, nach Jahrzehnten der Entbehrung, der Ausbildung und des Kampfes, hatten sie immer noch kein Mittel gegen die Eindringlinge gefunden. Aber sie waren noch da, sie kämpften weiter, und Samuel und Abdo würden dieses Land finden, von dem das Orakel gesprochen hatte. Ein Land, das selbst von Shetani heimgesucht wurde, aber das diese seit jeher zurückzuschlagen in der Lage war. Ein Land, von dessen Existenz niemand jemals gehört hatte, und von dem sie nur eine Richtung kannten: Norden.
Abdo schrak aus seinen Gedanken hoch und bemerkte erst nach einigen Augenblicken, dass er immer noch den Fisch in Samuels Richtung hielt. "Komm schon, lass dich nicht bitten!" versuchte er zu scherzen, doch dann bemerkte er, dass sein Freund sich nicht gerührt hatte. Samuel hatte es nicht geschafft.
2. Albion
"Abdo! Essen!"
Es war Hilda, die ihn zu Tisch rieg, Leifs junge Tochter, und der Ekdal schlang seinen schweren Pelz noch etwas enger um sich, während er die Hacke stehen ließ und sich zum Langhaus aufmachte. Abdo hatte sich noch längst nicht daran gewöhnt, dass es hier offenbar immer bitterkalt war, obwohl er nun schon einige Monate in Leifs Haushalt lebte und dort wie ein Familienmitglied behandelt wurde - seit er damals ohnmächtig auf den Resten seines Floßes von dessen Fischerboot aufgegriffen wurde.
In den ersten Wochen hatte er kraftlos im Bett gelegen und war übermannt von der Trauer um seine Gefährten und von der Einsamkeit. Zwar kümmerte sich Leifs Familie um ihn, doch verstand er keins der Worte, die sie zu ihm sprachen. Erst langsam lernte er sich zu verständigen, doch nach den ersten Worten folgten weitere, und da er Zeit hatte und keine andere Möglichkeit zur Ablenkung, beherrschte er die fremde Sprache bald.
Seit er wieder stark genug war um aufzustehen, machte er sich in Leifs Haus und Hof nützlich; doch Freude über sein neues Leben wollte sich nicht einstellen. Seine Mission war gescheitert, all seine Kameraden tot, und seine Heimat war unerreichbar weit entfernt. Zwar war es angenehm, auch wenn das Leben hier primitiv war, das erste Mal, seit er ein kleiner Junge war, ohne Angst vor den Shetani leben zu können, doch sein schlechtes Gewissen plagte ihn Tag und Nacht, seine Heimat im Stich gelassen zu haben.
Doch was konnte er tun? Niemand hier hatte jemals von Ya'Kehet gehört, und selbst wenn Leif ihm ein Boot zur Verfügung gestellt hätte, wohin hätte er es steuern sollen? Durch den Sturm hatte er jede Orientierung verloren, und er wusste weder in welcher Himmelsrichtung seine Heimat lag, noch ob es bis dorthin tausend oder zehntausend Meilen waren.
"Was ist mit dir?" vernahm er Hildas Stimme, als er sich dem Haus näherte. Leifs Tochter war zwar erst zwölf, doch seit dem Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren war sie die Herrin des Hauses und meisterte diese Aufgabe mit Bravour. Dazu war sie Abdos beste Freundin in diesem fremden Land, und die einzige, die sich nicht an seinem Aussehen zu stören schien. Selbst Leif, so freundlich er der Mönch auch aufgenommen hatte, wahrte doch eine Distanz zu ihm, die eher von Furcht als einem sonstigen Gefühl zu entstammen schien. Doch auch Abdo selbst musste sich eingestehen, dass er sich immer noch nicht an dieses Land gewöhnt hatte, in dem Aris allen Menschen die Farbe aus der Haut genommen zu haben schien.
"Wir haben Gäste zum Essen! Der Händler Olaf ist nach einem halben Jahr endlich wieder da, und Vater hat mir versprochen, dass ich mir etwas kaufen darf!" Die Begeisterung stand der jungen Frau ins Gesicht geschrieben, und auch Abdo war neugierig auf die Besucher, denn Leif lebte auf einem abgelegenen Hof, und nur selten sah der dunkelhäutige Mann jemand anderen als Hilda, Leif, und seine beiden Söhne. In der Küche waren Erik und Torbjörn bereits daran, den Händler nach Geschichten aus dem Festland zu löchern, und Abdo setzte sich leise, um die Erzählung nicht zu unterbrechen.
"... Kolkar. Doch einige sagen, die eigentliche Bedrohung kommt nicht von ihnen, sondern von den Dämonen, die aus den Bergen um Hanzaat strömen und die selbst die Behadrim nicht mehr lange aufhalten werden können. Monströse Kreaturen sind das, nicht von dieser Welt, die ohne Verstand alles zu vernichten trachten, was sie erblicken, und nur Tod und Zerstörung hinterlassen."
"Mach ihnen doch keine Angst, Olaf!" unterbrach Leif den Händler, als er seine Tochter zur Tür hereinkommen sah. "Olaf übertreibt natürlich maßlos, so hofft er ein besseres Geschäft zu machen."
Doch Abdo hatte etwas gehört, was ihn nicht mehr losließ. Dämonen? Der Beschreibung nach war der Mönch sich sicher, dass es sich um Shetani handeln musste. Sofort war jeder andere Gedanke aus seinen Sinnen verschwunden.
"Bring mich zu diesen Dämonen!"
3. Eine neue Aufgabe
Frustriert stand Abdo auf dem Marktplatz von Kromkat, erschöpft, mittellos und ohne Dach über dem Kopf. Er hatte sich einen Schal um das Gesicht gewickelt und die Kapuze seines Mantels tief nach unten gezogen, so dass nur seine Augen zu sehen waren. Immerhin konnte er so unbehelligt von feindseligen Blicken seines Weges gehen. Doch irgendwie musste er jemanden finden, der ihn nach Hanzaat mitnahm, und er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Hautfarbe ihm dabei solche Probleme bereiten würde. Sobald sie ihn erblickten, schlugen die Leute ihre Tür vor ihm zu, oder warfen sogar mit Steinen nach ihm. Manche schienen ihn sogar für einen dieser Kolkar zu halten, von denen er bisher nur gehört hatte.
Die Räuber immerhin hatten sich nicht um seine Haut geschert. Sie hatten ihm einfach all seine Habe abgenommen, die Leif ihm zum Abschied gegeben hatte, wie sie es auch bei jedem anderen getan hätten. Fast war Abdo dankbar für den Anstand der Männer, die ihm immerhin den Mantel gelassen hatten, so dass er nicht erfrieren musste. Doch nun, nach mehreren Tagesmärschen, war er hungrig in der Stadt angekommen und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Er hätte seine Dienste gerne jemandem angeboten, denn er war ein ordentlicher Kämpfer und als Begleitung einer Karawane hätte er sich Kost und Logis redlich verdient, doch niemand schien bereit, jemanden wie ihn mitnehmen zu wollen.
"Haltet den Dieb!" schallte es plötzlich dicht neben ihm, und schon sah er eine Gestalt im Sprint zwischen zwei Häuserreihen verschwinden. Sofort setzten seine Instinkte ein, und bevor er sich versah und ohne darüber nachzudenken, war er bereits an der Verfolgung des Diebes. Von klein auf hatte er gelernt, jedes Unrecht zu verfolgen und stets für Recht und Ordnung einzustehen, und so handelte er nach der Tradition und Lehre seines Ordens.
Zwar kannte er sich in der Stadt nicht aus, doch die Mönche der Ekdal besaßen eine Körperbeherrschung und Geschick, die es ihm leicht machte, den Fliehenden nicht nur nicht aus dem Auge zu verlieren, sondern in kürzester Zeit einzuholen. Der Kampf war kurz, und Abdo ließ den Dieb davonrennen, nachdem er ihn von seiner Beute befreit hatte - eine kleine Schatulle, mit der er sich auf den Weg zurück zum Marktplatz machte. Schließlich wusste er nichts über die hiesigen Gesetze, und die Tracht Prügel, die der Missetäter erhalten hatte, war für den Moment Strafe genug.
Als Abdo zum Marktplatz zurückkehrte, hatte er nicht einmal bemerkt, dass Schal und Kapuze sich bei der Verfolgung längst selbständig gemacht hatten; doch die erstaunten Blicke, die man ihm zuwarf, erinnerten ihn schnell daran. Es hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, aus deren Mitte ihm nun ein Mann entgegentrat und misstrauisch musterte. Erst als Abdo ihm die Schatulle darbot, hellten sich die Züge des Mannes auf und er sprach Abdo an.
"Ihr seid eine höchst faszinierende Erscheinung, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Aber versteht Ihr mich überhaupt?"
Nachdem Abdo dies mit einem Nicken bejaht hatte, fuhr der Fremde fort.
"Mein Name ist Lord Ajrin, und Ihr habt gerade ein wertvolles Familienerbstück für mich gerettet. Dafür sollt Ihr selbstverständlich eine Belohnung erhalten. Doch scheint mir, hinter Euch steckt eine Geschichte, die es lohnt, angehört zu werden. Wollt Ihr mich nicht begleiten? Für einen Mann wie Euch hätte ich Verwendung - und just eine Mission, für die Ihr wie geschaffen zu sein scheint ..."