Vom Sterben hatte er wenig erwartet, aber zu wenigst gehofft, bis in die letzten Augenblicke hinein den heimeligen Stahl führen zu dürfen.
Nichts war ihm nun vergönnt als eine andauernde Scham, die ihn den Tod herbeisehnen ließ. Am Rande der Klippen, auf denen noch mächtig gestritten wurde, lag er brach, jeder einzelne seiner Männer im Angesicht des jammervollen Elends des Schlachtenführers. Seine Hoffnung war, dass sie genug Anstand besaßen, im Kriegswirr die Gedanken an ihn mit einem längst und forsch dahingeschiedenen zu verbinden und nicht mit dem, das er tatsächlich noch war.
Kaum angeritten und blankgezogen, hatte ein boshafter Pfeil ihm das rechte Auge durchspießt. Verflucht sei er, hatte ihm nicht das Hirn mitdurchdrungen, sondern war im Fleisch der Höhle steckengeblieben. Im nächsten Übel, dem Sturz von seinem Ross, war er in Zweikampf mit dem Führer der Rebellen geraten und hatte in kläglichem Aufbrausen den linken Unterarm zertrennt bekommen. Todgeweiht war er dann hingestürzt, die Waffe fortgefallen und über ihm der verhasste Feind.
„Zum Gedenken eurer Ruhmestaten finden wir Zeit, Marschall, während ihr Buße ablegt für die Schandtaten gegen meine Recken“, war ihm als misslungen bespöttelnde Grabesrede gewährt worden und dann ein unreiner Schnitt gegen die Kehle, und der Hund war davongegangen. Dass die Wunde ihn langsam zum Tode hin blutete, war nur die Absicht gewesen.
Er gedachte, das Trauerbildnis, das er abgab, bald vergehen zu lassen. Doch eine Fackel finden, es zu verbrennen, eine Schneide, es zu zerritzen!
Die Schmerzen hatten ihn hilflos gemacht, und die letzte Überwindung, einem anderen Gefallenen die Waffe zu entwenden, um sich selbst zu richten, brachte er nicht aus seinem Kopf heraus und hinein in die übrige Hand.
Der Feind hatte Boden gutgemacht und die Kämpfe weit hinter seine erzwungene Position gelegt. Von dieser aus hätte er nur mit gedrehtem Kopfe zusehen können, und die kleinste Justierung des Genicks ließ Wasserfälle aus seiner Halsverwundung sprudeln. Zu schweigen von dem grässlichen Holzschaft, gegen den die Lider des rechten Auges gezwungen alle paar Sekunden schlugen und unter denen es rot vorquoll.
Von Wut und ungerichtetem Hass – seltsam, denn er konnte den Mörder nicht allein verwünschen – getrieben, hätte er sich mit einem Schrei und Tränen befreien können, doch beides zog schon im Ansatz unsägliche Marter mit sich, dass er sich gleichmütig jede Bewegung verwehrte.
Abgeschnitten von dem hehren Treiben nicht viele Schritt von ihm, und mit einem Ende der Qual nicht absehbar, wurde er gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Kein Starren in die keck lodernde Mittagssonne konnte ihn erlösen, auch nicht das auf Wolkentiere, vom Wind an seinem Gesichtsfeld vorbeigeschoben.
Ev, mit zweiundzwanzig Wintern jüngster Marschall der
Medusenbann-Einheit des Karrnather Heeres, rief er sich glorienspendende Worte aus der Vergangenheit ins Bewusstsein. Einwandfreie Karriere, mein junger Bursche. Stolz darfst du sein, so, wie du dich dem Kriegshandwerk gewidmet hast. Eines Sohnes so rühmen durfte ein Vater sich selten. Nicht immer hatten wir den Eindruck, dass es so kommen würde.
Oh ja, er besaß nun ein Recht auf Anerkennung. Aber damit war es nicht genug. Nicht der Triumph über die frechen Zweifler, die sich Eltern nannten, konnte ihm Balsam spenden.
Auch nicht das Wissen darum, dass Finger beider Hände und Zehen beider Füße gemeinsam genommen nicht ausreichten, der Zahl der erdroschenen Feinde nahezukommen.
Etwas verriet ihm leise, dass selbst eine ähnliche Menge souveräner Siege unter seiner Flagge – wäre sie nur Wahrheit! - an der Unzufriedenheit, die ihn nun erfüllte, etwas würde ändern konnte.
Wie ein blödes Kind hätte er strampeln und wüten mögen, gegen den Unsichtbaren, der ihn hier niederdrückte mit einem Bann, gegen den er nichts durchzubringen wusste. Nicht einmal dieses bereitwillige Eingeständnis völliger Hilflosigkeit, gar Zeichen der Billigung einer endgültigen Niederlage gegen ihm fremde und betrügerische Ikonen, war ihm gestattet.
Blind und Taub gegen die Welt fraß er seinen Groll, während die Sonne sank und die Waffen noch immer nicht schweigen wollten.
Ein streitbarer Ruf gegen die Krieger der Rebellen und man hätte ihm vielleicht in der Sucht nach Blut fahrlässig Gnade gewährt vor der Peinigung, die zu ertragen er gezwungen schien.
Bevor die Schmerzen ihn in den Wahnsinn trieben, wollte er etwas tun, das Leute üblicherweise vor dem Tod taten, um darin Befriedung seines kochenden Gemütes zu finden. Doch er hatte nicht die leiseste Ahnung davon, was man vor dem Tod tat, da man ihn selten anstolzieren und sich ankündigen sehen und Memoiren darüber anlegen konnte, mit welchen Tätigkeiten man bis zu seiner Ankunft ausharrte. Gerade an Orten wie diesen, fand er, war es unüblich, sich der Welt mit mehr als einem einzigen, schnell verstummenden Schrei für das gelebte Leben erkenntlich zu zeigen, um dann schon den dazu nötigen Geist aufzugeben.
Wild brannte es in seinem Herzen, als er dieses Vorhaben verwarf und stattdessen auf eine andere Art der Austreibung der Zeit kam. Vor Wochen noch hatte sein Heer einen kleineren Befehlshaber umfasst, dessen Namen dem seinen nur in seiner jähen Kürze ähnlich, und von dem er im Grunde und in sämtlichen sonstig interessanten Belangen völlig verschieden gewesen war. Ein einfältiger Kerl ohne Loyalität zu Land und Leuten, der in alten Schriften wühlte. Gänzlich unverständlich, wie er über das Kommando zumindest einer kleinen Gruppe kommen konnte. „Ein“, hieß er wohl. Bei seinem Abschied hatte er für ihn ein winziges Büchlein hinterlassen, dass er, wie er nun erinnerte, noch in der Manteltasche trug. Geradeheraus hatte er es zunächst ins Feuer werfen wollen, dann aber verschoben bis in die Vergessenheit.
Sein ganzes Wesen brüllte dagegen an, sich
diesem zu ergeben und sich der Zerstreuung der Lektüre einer unnötigen Schrift, gerade nun auch die dieses verachtenswerten Gimpels, hinzugeben.
Was mochte er nun für ein groteskes Bildnis geben, auf kargen Felsen hingestreckt und mit der rechten, gebrauchbaren Hand nach dem Büchlein fischend.
Das linke Auge konnte noch lesen, und es erfasste den Titel, den das abgegriffene, braunlederne Bändchen auf sich trug, mit ungetrübter Schärfe. Stadt aus Glas.
Einen Ausblick gab das, der ihn in seiner Überzeugung über das Narrentum des
Eins nur bestärkte. Kein klarer Mann würde den Bau einer Stadt in Auftrag geben, die aus Glas zu errichten sei. Bei diesen fantastischen Überlegungen musste er belustigt kichern, und aus seinem Schlund gluckste es aus dem angestauten Blutpfuhl heraus. Weiter, trieb er sich, lies nur weiter.
Er verharrte noch eine Weile bei dem Gedanken über eine Stadt aus Glas. Ob sie auch Soldaten aus Glas haben würde, die mit feingliedrigen Fingern nach zerbrechlichen Waffen greifen würden und anderen Armeen, ebenso aus Glas gefertigt, entgegentreten konnten? Von den Kriegen gäbe es weithin nur Scheppern zu hören, und am Ende wäre kein Blut vergossen worden, sondern nur einige Ellen und Schenkel und Daumen aus durchsichtigem Kristall lägen herum.
So eifrig sann er darüber, dass er die Schmerzen vergaß. Als es dann dunkel wurde, und die letzten Klingen brachen, wollte er endlich mit dem Lesen voranschreiten, hatte er doch noch nicht einmal tatsächlich begonnen. Dann musste er aber feststellen, dass er in der Finsternis keinen Buchstaben mehr entziffern konnte.
Er hatte seine Welt aus Glas nur kurz verlassen und fand sich schnell wieder darin ein, gestaltete sie mit immer mehr aberwitzigen Details aus. Besonders stolz war er auf die Idee eines gläsernen Throns und gläsernen Schlossmauern dahinter, die es im emsigen Zusammenspiel unmöglich machten, zu erkennen, ob der gläserne Herrscher nun anwesend war, oder nicht. Oder, ob es überhaupt einen Thron gab, oder eine Wand dahinter, oder ob nicht alles nur dünne Luft war.
So ging es emsig fort, bis er durch den Ruf einer Eule in die wirkliche Lage zurückgeholt wurde. Wie ärgerlich, seufzte er nun, dass er zu sterben hatte.
Zugleich begriff er, dass der Tod ihn warten lassen würde. Die Schmerzen hatten wunderbarerweise nachgelassen, und nichts hielt ihn mehr dort am Boden. Der Glaswelt entsagte er entschlossen der Enthaltsamkeit für die nächste Zeit und um des Versuches willen, sich hochzuraffen. Er konnte aufstehen, was sich zwar als mühsam, doch durchführbar enthüllte.
Zauberisches war hier geschehen. Unfern die Leiber der Gefallenen, und keiner von denen rührte sich, hatte auch niemand Büchlein bei sich. Noch unsicher auf den Beinen fand er seinen Stand wieder, auch sein weggestreutes Schwert und das Schild.
Bevor er sich wieder mit sich nahm, kam ihm das entsetzliche Wissen darum, dass er noch immer einen Pfeil in seinem Auge hielt. Gespenstisch, wie so überhaupt kein Leiden mehr auftrat, wenn er daran herumtastete, und auch nicht, als er letztlich mit einem herzhaften Ruck das Geschoss freibekam. Neues Blut floss sogleich nach, doch frei von Schmerz war er!
Die Blutung des zertrennten Armes hatte sich beruhigt, und ihm blieb nun nichts weiter, als das verbeulte Schild mit einem Stück Gürtel daran festzumachen. Zu leicht gestaltete sich dieses Konzept nicht, denn mit nur einer Hand rutschte ihm das Leder bald hier, bald dort herum und heraus, bis er es dann doch festbekam und den Schild wie zu früheren Zeiten führen konnte. Das Büchlein war längst wieder im Mantel verschwunden, getauscht nun gegen das Schwert.
So völlig ratlos war er noch nie gewesen, nachdem er sich nun bereitgemacht hatte zur Schlacht gegen einen Feind, der unsichtbar war, aber doch unendlich anders als der Unsichtbare, den er noch am Nachmittag als solchen, und als Peiniger und Marterer beschimpft hatte.
Schon im Versinken in regellose Hirngespinste, merkte er auf. Keine Menschen konnten sich hier mehr gegen ihn wenden, aber er nahm einen lauernden Schatten zwischen den Kadavern wahr, der Gefahr bergen mochte. Ein uralter Instinkt, den er selbst nie hatte durchschauen können, warnte ihn.
Er umschlich die Toten sorgsam und kam auf Umwegen dem Dinglein näher. Vier Beine hatte es, wie ein Wolf, aber etwas schmaler und weniger sehnig, soweit er erkennen konnte. Die Ohren traf er breit und hochgestellt zum Lauschen an. Für einen Fuchs ebenso untypisch. Nun bemerkte ihn das Tier doch, und kaum so getan, begann es, wiederum auf ihn zuzuschleichen. Beide hielten sich noch immer an die achtsame Näherung, obgleich längst offenbar war, dass sie einander entdeckt hatten. Da ließ er das Pirschen sein und legte etwas mehr Kraft in seinen Schritt. Darauf tat das Geschöpf ihm gleich. Wie er versehentlich auf den Arm eines Niedergestreckten trat, stapfte eine Vorderpfote gleichsam auf das Metall einer zerschrammten Rüstung. Ging er zur Seite, setzte sich das Tier in Gegenbewegung, sodass sie einander umkreisten. Verhextes Spiel, dachte er, und hob seinen halbierten Arm vor das Gesicht. Trug in der Nacht oder Gedankenscherz, das Tierchen zog nach und nahm einen Vorderlauf zur Schnauze, ohne, dass sie heranreichen konnte, da zu kurz, da kürzer als der zweite, da augenscheinlich ohne Pfote und ohne ein ganzes anderes Stück, das dort hängen sollte.
So trieb er es eine Weile, und ohne einen tierischen Laut mimte ihn das Tier in jeder Aktion vollendet nach. Nur gut, beschloss er dann, wenn ich mich umdrehe und davongehe, mag er es auch so tun.
So tat er dann, ohne damit die gewünschte Macht auf den Spiegelzwilling auszuüben. Nicht zurück, sondern voran kam der, und schloss noch Stück weit auf, bis beide nebeneinander gehen mussten. Er konnte stehen bleiben oder weitergehen, das kleine Hexenwesen ahmte ihn nun wieder zuverlässig nach. Gleich soll es mir sein, stöhnte er.
„Zu gern würde ich aus den weichsten Federn des Reiches aufstehen“, sagte er laut vor sich hin, während er in nach Belieben gewählter Richtung über die Toten hinwegschritt, und bedachte dabei die Tatsache, dass man sich zuerst in ein Federbett hineinlegen muss, um daraus wieder aufstehen zu können, nicht mit der geringsten Bedeutung, fast einer triumphierenden Vernachlässigung an deren Statt.
PS: Es ist ein
Schakal.