Yushudo folgt der Gastwirtin nach oben und betritt das ihm zugeteilte Zimmer.
"Macht Euch keine Umstände, ich bin zufrieden mit diesem Zimmer. Das Kloster lehrt Bescheidenheit. Ich wünsche eine geruhsame Nacht. Bis morgen früh."
Yushudo schließt die Tür, legt seine Tasche neben dem Bett ab und zieht den Folianten heraus, der sein Tagebuch darstellt.
Dann begibt er sich an den Tisch, blättert ein wenig und schlägt die erste leere Seite auf. Aufgrund mangelnder Beleuchtung zieht er die entsprechende Ofuda aus dem Kimono, spricht einen Zauber und stellt sie hell leuchtend neben das Tagebuch auf den Tisch [light].
Es gibt viel zu erzählen.
Yushudo zückt das Tintenfässchen und eine Schreibfeder und beginnt, die unzähligen Eindrücke dieses Tages zu beschreiben.
"14. Alturiak im Jahre 1372 DR
Welch merkwürdiger Tag. Noch nie war ich meinem Ziel so nahe und habe mich zugleich so fern gefühlt. Zweifellos haben sich meine Möglichkeiten hier um ein Vielfaches vermehrt und doch habe ich kaum einen Gedanken dem Ziel meiner Reise gewidmet. So sehr war ich damit beschäftigt all die Eindrücke dieser Stadt förmlich aufzusaugen.
Man begegnet merkwürdigen Leuten. Eine heruntergekommene, bemitleidenswerte Kreatur namens Desragir hat mich empfangen und verlangte gleich eine üppige Einreise- und Zollgebühr. Nachdem ich hartnäckig nach einem Beweis der Richtigkeit dieser Gebühr verlangte, gab er zu, dass diese nicht offiziell war und folglich wurde sie mir erlassen. Wenn ich jedoch im Nachhinein darüber nachdenke, so hätte meine Sturköpfigkeit und Hartnäckigkeit auch meinen Besuch in dieser wundersamen Stadt auf wenige Minuten reduzieren können, hätten die Behauptungen Desragirs der Wahrheit entsprochen. Letztendlich vermittelte er mir eine „Schlepperin“, wie er sie nannte.
Die Frau heißt Tyori und ihr verdanke ich einen guten und weit reichenden Überblick über die Stadt. Wir haben uns durch die Armenviertel nach oben gearbeitet und sie hat mir dabei die Hauptsitze einiger Fraktionen gezeigt und mir deren Philosophien erläutert. Diese Fraktionen erinnern mich stark an das, was in vielen Teilen unserer Welt als Gilden bekannt ist, nur scheinen diese Fraktionen alle auf ihre eigene Art und Weise fanatisch zu sein.
Eine Fraktion ist mir besonders ins Auge gefallen. Es war die einzige, die mir einen Eindruck hinterlassen hat, der nichts anderes als einfach nur merkwürdig war. Von diesem Bund habe ich kein Hauptquartier gesehen, sondern nur ein äußerst auffälliges Mitglied. Sie nennen sich die Chaosmänner. Dieser Chaosmann sprach - oder eher bellte - mich an mit den Worten "Einig Leere Viele in der sind." Die Leere. Ein absolut sinnloser Satz und das wichtigste Wort, welches ich an diesem Tag vernommen hatte, befand sich ausgerechnet in dieser Sammelsurium vermeintlich sinnfreier Wortgruppierungen. Tyori meinte, die Chaosmänner neigten dazu, gern die Worte zu vertauschen. Ich habe eine Weile die Wörter umgestellt. Auf Anhieb ist mir nur eine Umstellung eingefallen Viele sind in der Leere einig. Aber ergibt das Sinn? Gibt es nicht vielleicht noch andere Möglichkeiten? Auf jeden Fall scheinen die Chaosmänner eine gewisse Rolle zu spielen.
Unsere letzte Station war die Festhalle. Sie ist das Zentrum der Macht der so genannten Sensaten. Diese Fraktion hat einen fanatischen Hang dazu, zu erleben. Dies schafft ihnen natürlich eine große Lebenserfahrung, doch zu den von ihnen gewünschten Erfahrungen zählen auch peinigende Foltern durch die grausamsten Kreaturen des Abgrunds. Nichtsdestotrotz ist das Treiben im Bereich der Festhalle ein Ereignis, was sich niemand entgehen lassen sollte. Die Akrobaten, die Speisen, alles… Es ist Wahnsinn. Ich wünschte Dajuke hätte neben mir gestanden und dieses Erlebnis mit mir teilen können.
Tyori holt mich morgen ab, um mir die restlichen Fraktionen nahe zu bringen. Die eine oder andere von ihnen kann mir sicherlich Informationen geben, die mir auf meiner Suche äußerst behilflich werden könnten.
Ich spüre Trauer, wenn ich daran denke, was ich in dieser Stadt alles verpassen werde, und doch muss ich einen starken Willen beweisen und an meinem Ziel festhalten, wenn ich es jemals erreichen und meine Familie wieder sehen will.
So blicke ich mit Freuden dem morgigen Tag entgegen, an dem meine Wünsche sich noch vereinen lassen, da ich die Stadt erkunde, um die Fraktion zu finden, die am ehesten ein Weiterkommen verspricht.
Möge Stille einkehren in meinem Geiste.
Yushudo“
Der Elementarmagier aus den Reichen Rokugans kalligraphierte darunter noch die Zeichen der Isawa-Schule, sowie die des Phönix-Clans und schloss bedächtig das Buch. Er saß einige Minuten einfach nur da und blickte die leere Wand über dem Tisch an. Eigentlich blickte er in sich hinein. Er erforschte seine Gefühle, er stellte Überlegungen an, wie sein weiteres Vorgehen aussehen würde, und allem voran genoss er die Stille.
Er kehrte erst ins Hier und Jetzt zurück, als der Lichtzauber seiner Ofuda versagte und das Zimmer in ein sehr schwaches Licht getaucht wurde, das durch das kleine Fenster schien.
Yushudo legte seine Kleidung ab und setzte sich ins Bett. Er ließ sich in eine tiefe Meditation fallen – ein Zustand so vollkommener Ruhe, Stille und Leere, wie ihn die meisten Sterblichen nie erfahren würden. Nach einer unbestimmbaren Zeit tauchte verließ er diesen Zustand, was eine sofortige Sehnsucht danach auslöste. Doch auch Mäßigung zählte zu den Tugenden seiner Schule und legte er hin und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.