Spoiler (Anzeigen)Hoch im Norden der Welt Korm, in dem Landstriche Dorkan, dem allernördlichsten des Nordens, wurde eines warmen Sommertages der Körper eines dem Tod nahen Menschenkindes gefunden. Viele Sagen in dem nicht weit entfernt gelegenen Dorf Oroka ranken sich seit dieser Zeit um jenen Moment, in dem der alternde Waldläufer Merrit die mit unbekanntem Stoff umwickelte Gestalt des Kindes glimmenden Stolzes die Dorfstraße entlang trug, um es schließlich der Witwe Misalde in die Arme legte.
Der Waldläufer, welcher etwa 2 Kilometer vom Dorfe entfernt in einer Hütte sein einsames Dasein fristete, beschrieb, wie er an jenem Morgen in allerjüngster Frühe dem Reich des Traums entwich, und mit vergeblicher Mühe versuchte, wieder Schlaf zu finden. Missmutig sei er an diesem Morgen aus seiner Hütte herausgestapft, habe jedoch, im Angesicht der beiden aufgehenden Sonnen alle Gram vergessen und in der Wärme des Morgens und der Frischheit der Luft auch seinen letzten Widerwillen über Bord geworfen. So hätte er minutenlang in einer stehenden Position verharrt, und so wartend der unsichtbaren Stimme der Natur gelauscht. Die Zeit, so erzählte er später mit leisem Ton, sei in diesem Moment und bei diesem Anblick auf ein Wenigstes ihrer Bedeutung zusammengeschrumpft, ganz so, als ob sie in liebevoller Weitsicht auf ihren Bruder Schicksal gewartet habe, den sie dann -mit offenen Armen- in einer donnernden Sekunde empfing. Und genau diese Sekunde der Eingebung war’s, erzählte er, in der er etwas vernahm, ein aus- höchsten Tonhöhen heranbrausender, sanfter Gesang, der sich wie eine Wogenwolle dramatisch kreisend in die seine Realität hineinschraubte und sein Herz bewegte- war’s eine Melodie des Schicksals und der fremden Welt. Und so plötzlich, als er die ersten Töne jenes Gesanges vernommen hatte, wusste er, was er zu tun hatte, und er fing an zu rennen, immerfort jener Musik hinterher, und obwohl sie an Insentität weder gewann noch verlor, so wusste er doch, das er sich ihrem Ursprung mit großen Schritten näherte. Und als er ihr Quelle endlich gefunden hatte, da stand er auf dem schneeweißen Berge Ormohn, der fast eine Tagesreise von Oroka entfernt dalag, und blickte in die ozeanblauen Augen eines Kindes, das von bläulichem Schimmer umgeben ward. Der Name Meriphion, der dorkanischer Abstammung ist und soviel wie der „Blaues Licht“ bedeutet, eilte seit jener Sekunde dem späteren Barden hinterher.
Merrit jedoch nahm das Kind in seine Arme und scheute keine Mühe und keine Anstrengung, es sicher und lebendig in das Dorf herabzubringen. Er erreichte es am nächsten Abend, ohne auch nur eine Sekunde geschlafen zu haben. Mit dem Stolz eines alten Mannes in der Stimme legte er das Kind in die Arme der treuen Misalde, flüsterte mit letzter Kraft den Namen des Kindes und brach vor der Frau zusammen, die zu Tränen gerührt dastand. Noch an diesem Tag starb der alte Waldläufer. Auf seinem Sterbebett erzählte er die wundersame Geschichte des Kindes und seiner mystischen Herkunft. Jeder glaubte ihm.
Im Dorf wuchs der Junge wie jedes andere Kind auch auf. Seine fröhliche Natur, sein aufgeweckter Geist und seine liebevolle Art brachten ihm schon bald viele Freunde ein, und das ganze Dorf erfreute sich seiner Anwesenheit. Schon während seiner Kindheit zeigte sich eine Neigung zum Künstlerischen, er liebte es zu Malen, zu Singen, und auch erste, eigens erdachte Geschichten waren aus seinem Munde zu vernehmen.
Nur wenige erinnerten sich in solchen Momenten an seine geheimnisvolle Abstammung, seine niemals gekannten Eltern, und die Schicksalsmelodie, die sein Kommen angekündigt hatte. Doch Misalde, die Holzwand an Holzwand mit dem Barden zusammenlebte, vernahm jedes Jahr nach seiner Ankunft erneut den gleichen geheimnisvollen Gesang, den auch der Waldläufer Merrit zu seiner Zeit gehört hatte. Wenn sie dann in sein Zimmer geschlichen kam, so sah sie, wie sich die Lippen Mephorions während des Schlafes leicht bewegten, und er von einem bläulichen Schimmer umgeben dalag, die Augen geschlossen. Ehrfürchtig lauschte sie dann der Melodie, eine schreckliche Vorahnung ergriff vor ihr Besitz und dennoch stand sie– unfähig, dem Drang zu widerstehen- vor seinem Bett. Erst spät in der Nacht, wenn der bläuliche Schimmer verschwunden und der Gesang verstummt war, verließ sie ihn.
Als Mephorion in die Pubertät kam, verließ er immer öfter das Dorf und erforschte die umliegenden Gegenden. Ein undefinierbarer Drang hatte von ihm Besitz ergriffen, und nur in der Kunst fand er eine Möglichkeit, diesen auszudrücken – sei es mit Worten, mit Gesang, mit Tanz oder Malerei. So wurde Mepherion nach und nach im Umkreis berühmt, die benachbarten Dörfer erfreuten sich seines Besuches und seine Auftritte waren stets von vielen Menschen besucht. Misalde versuchte vergeblich, ihn in Oroka zu halten, und als sie einsah, das nichts und niemand denselben aufhalten würde, da knüpfte sie sein Reisen an die Bedingung, das er jedes Jahr aufs neue an seinem Geburtstag stets zu Hause anzutreffen sein sollte.
Denn Mephorion wusste zu jener Zeit noch nichts von seiner außergewöhnlichen Herkunft, und so hatte seine Ziehmutter Angst darum, das jemand anders als die jedes Jahr aufs neue auftretende Erscheinung sichten und so er selbst davon erfahren würde. Der Barde hielt sich mit eisernem Wille an diese Vorgaben und selbst als er erwachsen wurde war er jedes Jahr aufs neue in Oroka anzutreffen, und brachte Misalde so manch feines Geschenk von seinen Reisen mit.
Doch wie es das Schicksal wollte, gelang es ihm eines Tages nicht, sein Versprechen einzuhalten. Mepherion hatte im Alter von 18 ein alten Barden –Heretus- kennen gelernt, mit dem er seit jener Zeit durch die Lande zog und mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Auch diesen Sommer war er wieder mit demselbem unterwegs, als ein Gewitter die Beiden überraschte und ein schauerlicher Sturm sie davon abhielt, weiterzureisen und somit das Dorf im rechten Moment zu erreichen. Sie ergaben sich also ihrem Schicksal und übernachteten in einer kleinen Höhle. Sobald jedoch Mepherion Schlaf fand, stimmt er aufs neue jenen tiefmelodischen Gesang an, den sein eigen Ohr noch nie gehört, sein Herz noch nie in solch einer Reinheit gespürt hatte, und auch der bläuliche Schimmer umgab ihn wieder. Heretus jedoch, der ungläubig erwachte, weckte seinen Bardenfreund nicht, sondern lauschte ihm die ganze Zeit über und machte sich in jener Nacht so manch Gedanken über seinen außergewöhnlichen Freund.
Am nächsten Morgen erzählte er Mepherion mit ernster Stimme von seiner Entdeckung. Dieser wollte es nicht wahrhaben, lehnte jeden Versuch ab, den wahren Kern der Geschichte in Betracht zu ziehen und schob es auf die Träumerein seines Freundes. Es entbrannte ein mit Inbrunst geführter Streit, der sich fortzog, bis sie das Dorf erreichten, der an Fahrt aufnahm und sicherr zu einem Ende aller Freundschaft geführt hätte, wären sie nicht zu rechter Zeit in Misaldes Stube eingetreten. Misalde, über die Ausseinandersetzung zutiefst betrübt, sah keinen anderen Ausweg mehr, als zuzugeben, das Heretus’ Geschichte der Wahrheit entsprach. Mepherion, zutiefst überrascht und in seinem Inneren leer, lauschte den Worten seiner Ziehmutter, die ihn über alle seine Herkunft aufklärte und nunmehr keinen Zweifel daran ließ, das dem Barden ein höheres Schicksal bestimmt war. Heretus, der den feierlichen Moment erkannte, zitierte aus den Worten der Entstehungsgeschichte Korms:
... und da verbog sich die Welt unter dem Schmerz dieser urgründlichsten Wesen und ihren Sehnsüchten, und Tod und Leben umwirbelten sich und zerbarsten, barten in jenen wallenden Liebesfluten den Zwischenraum- der heute unsere Füße trägt.
Auch heut noch hallt der Nachklang jenes Urschreies durch die weiten Hallen unserer Welt. Lauschet ihm! Hört es drängen! Wies euch durchwühlt, Feuer und Tränen in eure Augen presst und darin wirbelt! Es ist die eine Frage, die seit aller Leben im Raum bestand, die ihre Antwort aufs letzte versucht zu finden...
„Mephorion“, flüsterte er mit leiser, intensiver Stimme, „es war diese Frage, die ich in eurem Gesang erkannte. Er ist die eine Frage, die über den Horizont der Menschen hinausgeht, die dich umgeben, über all unserer Verständnis dieser Welt. Du kannst dem nicht entrinnen oder entfliehen, es wird dein Schicksal sein. “ Und Mephorion, der nach diesen weisen Worten immer noch schwieg, nickte, stand still auf und verließ mit das Dorf mit dem Versprechen, in spätestens einem Jahr zurückzukehren.
Und tatsächlich, nach fast einem Jahr, einen Tag vor seinem Geburtstag, kehrte er in das Dorf zurück. Der alte Heretus hatte in dieser Zeit Misalde zu seiner Frau genommen, und Mephorion traf die beiden glücklich an. „Was hast du vor?“, fragte ihn sein Bardenfreund, und Mephorion erwiderte, das er diese Nacht nicht gedenke zu schlafen – das er diese Nacht zum Berge Ormohn, dem Anfang seiner Geschichte aufbrechen wolle und auf diesem seine Nacht verbringen würde. Die beiden nickten, umarmten ihn, und ließen ihn des Mittags schweren Herzens und mit vielerlei Tränen und liebevollen Worten ziehen.
Und so trat der Barde seine letzte Reise in der Welt Korm an, schritt höher und höher bis er schließlich die Spitze der Berges Ormohn erreichte. Er war ruhig dort oben, und auch Mephorion war ruhig, setzte sich in die Weißheit des Schnees und erwartete sein Schicksal. Und wie es gewollt war, nach etwa einer Stunde fing seine Haut an bläulich zu Schimmern, eine Stimme tief in seinem Inneren flüsterte ihm wie natürlich eine Melodie ins Ohr, und er begann zu singen, leise, und sachte. Und während seine Silben, die vor einer tiefen und wilden Schönheit erfüllt waren, durch die Luft preschten, begann die Schneeflocken, die links und rechts zu seiner Seite vom Himmel fielen, um ihn zu wirbeln, schneller und schneller, bis ihm schließlich ein gleißendes, blaues Licht sein Bewusstsein nahm...