"Gut, dann werde ich euch Zimmer zuweisen lassen, in denen ihr noch etwas Ruhe finden könnt. Wir führen dieses Ritual um Mitternacht durch, da dann die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten dünner zu sein scheint als am hellichten Tage. Ich werde euch abholen lassen, wenn es soweit ist."
Etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht klopft es an der Türe zu dem Zimmer, in dem Aitvaras und Alatheus den Rest des Abends verbracht haben. Ein junger Adept steht davor und bedeutet den beiden schweigend, ihm zu folgen. Er führt sie tiefer in das Mausoleum hinein, bis zu einem Raum, der offensichtlich dem inneren Heiligtum eines Tempels Aureons nachgebildet ist. Fackeln an den Wänden werfen ein gedämpftes Licht in die Kammer, das von den in vielen Nischen stehenden mit gold beschlagenen Urnen reflektiert wird, so dass man fast den Eindruck bekommen könnte, einen fremden Sternenhimmel zu betrachten. 12 Priester, die Gesichter unter den Kapuzen ihrer braunen Kutten verborgen, stehen im Kreis um einen jungen Mann in einem purpurverzierten weißen Gewand, der mit geschlossenen Augen entspannt in einem reich verzierten Sessel.
sitzt.
Einer der Priester schlägt die Kapuze zurück. Es ist die Hohepriesterin Amariss selbst, die dem jungen Adepten einen Wink mit den Augen gibt, woraufhin dieser den beiden Geheimermittlern nochmals zu schweigen bedeutet und dann selbst leise wieder das Heiligtum verlässt.
Amariss hebt die Hände. Die Tätowierungen an ihren Händen scheinen sich im Fackellicht zu bewegen, fast als hätte sie Schlangen um die Arme gewunden. Die Priesterin beginnt einen leisen Singsang, ein altes Loblied an Aureon in seiner Eigenschaft als Hüter alles Wissens. Leise fallen die anderen Priester in den Gesang ein. Langsam beginnt sich die Melodie zu verändern, sie bekommt einen hypnotischen Unterton. Der junge Priester in der Mitte beginnt, sich im Takt der Melodie hin-
und herzu wiegen. Das Lied wird langsam schneller, und mit ihm die Bewegungen des Priesters, bis er sich endlich in wilden Zuckungen auf dem Sessel windet. Nach einem endlos scheinenden Moment klatscht Amariss in die Hände, und der Gesang bricht schlagartig ab. Der Priester sinkt in seinen Sessel zurück.
Als er kurz darauf seine Augen öffnet, ist nur das weiße in ihnen erkennbar. Langsam erhebt sich der Priester und hebt nun seinerseits die Arme. Er beginnt zu sprechen, in einem alten, archaischen Dialekt, so wie ihn die Menschen wohl einst gesprochen haben, lange bevor sie aus Sarlona an die Gestade Khorvaires kamen. Dennoch können Aitvaras und Alatheus verstehen, was er sagt. Es ist die von Amariss angekündigte Anrufung des Raffers und zur nur leichten Beruhigung der beiden stillen Beobachter handelt es sich tatsächlich um keine Anbetung. Es scheint sich eher um einen Kampf zwischen dem Sprecher und dem Raffer zu handeln, in verschiedenen Tonlagen gesprochene Befehle und Drohungen wechseln in schneller Folge, wobei der Priester langsam die Oberhand zu gewinnen scheint. Denn plötzlich schweigt er wieder und seine Arme sinken zum Körper zurück.
Abwartende Stille setzt ein. Erwartungsvoll sind die Blicke der Priester auf das Medium in ihrer Mitte gerichtet, das in sich zusammengesunken in seinem Sessel ruht. Amariss erhebt ihre Stimme.
"Jaquand, sage uns, was du siehst. Teile dein Wissen und gehorche damit dem Willen Aureons. Durchquere die Barriere und sage uns was du siehst."
Doch nichts geschieht. Die Stille beginnt zu schmerzen, und ein gelegentliches Rascheln der Kutte eines der Priester verrät den beiden Beobachtern, dass die Nervosität im Heiligtum wächst. Irgendetwas schein nicht dem normalen Ablauf zu folgen.
Plötzlich reißt es den Körper Jaquands aus dem Sessel. Wie von unsichtbaren Schnüren gehalten hält er sich auf seinen Zehenspitzen. Dieses Mal sind seine Pupillen so unnatürlich geweitet, dass man nur noch die Schwärze zu sehen vermag, und seine Stimme scheint nun einem anderen zu gehören. Sie krächzt und gurgelt, es klingt fast wie die Laute eines Menschen, dem man mit einem schnellen Schnitt die Kehle durchtrennt hat. Und tatsächlich fließt ein dünner Blutfaden aus dem Mund Jaquands, während er redet.
"Die Barriere..wird dünner. Die Toten..sie kehren aus ihren Gräbern zurück. Gelenkt von einem Willen, der nur Vernichtung kennt. Hütet Euch, denn die Wurmzeit ist nahe."
Röchelnd holt Jaquand Luft.
"Da wo das Grab wispert, könnt ihr den Schlüssel finden, der das Verhängnis aufzuhalten vermag. Der Halbling eilt euch voraus, doch sind die Verfolger ihm auf der Spur. Rettet ihn, er kann Euch führen. Und hütet euch vor denen, die die Wegbereiter des Chaos sind. Sie sind..."
Plötzlich erstickt ein dicker Schwall tiefroten Blutes seine Rede. Wie vom Blitz getroffen sinkt Jaquand zu Boden und bleibt mit merkwürdig verrenkten Gliedern und leerem Blick liegen. Schon ist Amariss bei ihm. Für einen kurzen Moment bleibt sie über ihn gebeugt. Als sie sich wieder aufrichtet, ist ihr Gesicht seltsam ausdruckslos.
"Er ist tot."