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Es ist Herbst in Barthesia, die Zeit der Jagd auf dem Gut DeSalis. Die flammenden Blätter glänzen im Abendlicht an den hohen Bäume des königlichen Forstes. Nur ganz leise raschelt das Laub unter meinen Füßen, während ich ein Versteck suche. Das Rotwild ist ganz ruhig, gemächlich äsen die Tiere auf der kleinen Lichtung. Ich kann mich noch nicht weiter nähern. Noch steht der Wind ungünstig, aber der Instinkt des Jägers sagte mir schon damals, dass der Wind bald drehen wird. Ich bin alleine, der Rest meiner Familie hat das Wild noch nicht entdeckt. Leise atmend harre ich in meinem Versteck aus, das Rotwild beobachtend. Da, eine Bewegung. Es ist mein Vater. Er hat es doch geschafft, die kleine Herde zu umgehen. Bewundernd sehe ich zu, wie er sich geschickt vorarbeitet, den Speer in der Hand. In seinem Wollgewand ist er im hohen Gras kaum zu sehen. Plötzlich schrecken die Rehe auf, der Kopf des Hirsches ruckt hoch, und prüfend saugen sie die klare Herbstluft in ihre Nüstern. Augenblicke später höre ich es auch. Ein Schwert schlägt gegen einen Stiefel, ein schweres Schnaufen kommt näher. Er ist es, Samael, dieser fette Trottel, in seiner verhassten Uniform. Mit hochrotem Gesicht taucht mein Onkel am Rande der Lichtung auf, den Langbogen in der Hand. Das Rotwild setzt zur Flucht an. Mein Vater ist der Beute inzwischen nähergekommen, er schnellt hoch, um den Speer zu schleudern, seine letzte Chance. Die Rehe sind in noch in Reichweite. Gebannt folgt mein Blick dem Speer, der fast träge über die sonnengetränkte Lichtung segelt. Ein Reh bäumt sich auf, getroffen sinkt es zu Boden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Samael den Bogen ebenfalls hochreißt. Zischend verlässt der Pfeil die Sehne. Knirschend frisst er sich in den Rücken meines Vaters. Ich schreie, doch kein Laut kommt über meine Lippen. Mein Blick trübt sich. Verschwommen sehe ich Samael über die Lichtung rennen. Ich höre sein Schnaufen und das Knirschen des Pfeils, als er ihn herausreißt. Ich muss die Sinne verloren haben. Ein Schrei lässt mich hochschrecken, ich reibe mir die Tränen aus den Augen. Joan, mein Bruder! Er ist am anderen Ende der Lichtung aufgetaucht. Der Schrei hallt in meinem Kopf wieder, und erst jetzt verstehe ich das Wort: Mörder! Joan stürmt über die Lichtung, den Speer erhoben. Ein Lächeln umspielt Samaels Lippen, als er seinen Langbogen ebenfalls hochreißt. Das Lächeln und das Geräusch des einschlagenden Pfeils sind gnadenlos. Zitternd bricht der schmächtige Körper zusammen.
Ich schrecke hoch. Dunkelheit. Knarrendes Holz. Salz auf meinen Lippen. Langsam komme ich zu mir. Schon wieder dieser Traum. Ich setzte mich in meiner Hängematte auf. Ja, ich lebe noch, ich bin an Bord der Hoffung auf der Reise in die neue Welt, nach Gilvanest. Ein passender Name. Hoffnung. Hoffnung zu vergessen. Vergessen und ein neues Leben beginnen. Auf das vergangene Leben bin ich nicht stolz. Wie ich meinem Onkel damals entkam, weiß ich nicht mehr. Dunkel erinnere ich mich an lange, einsame Jahre, die ich mich in den kalten Wäldern Barthesias versteckte. Ich überlebte in der stillen Einsamkeit. Doch eines Winters gab es nichts mehr, von dem ich leben konnte. Fast wahnsinnig wanderte ich durch erstarrten Wälder auf der Suche nach etwas zu essen. Ich erinnere mich deutlich an den schwachen, köstlichen Geruch von Gebratenem, den ich gierig einsog wie ein Wolf den Geruch eines blutenden Kitzes. Der verheißungsvollen Spur folgend fand ich ein Lager mit abgerissenen Gestalten. Es waren Gesetzlose. Warum sie mich, den halbverhungerten Habnichts aufnahmen, ist sicher der Balthasar zuzuschreiben. Er schärfte mir die Regeln ein, und ich gehorchte. Ich raubte, ich stahl, ich tötete. Ich wurde zu dem Leuten, vor denen mich meine Mutter immer gewarnt hat. Meine Mutter! Ich hörte, sie sei ins Wasser gegangen. Mein Onkel war also an meiner statt Baron. Schon bald hatte er unseres kleines Gut mit seiner Trunksucht zugrunde gewirtschaftet. Es ist heute nur noch eine Ruine, hörte ich. Oft begleitete ich Balthasar in die Stadt, um Beute zu einzutauschen und neue Waffen und Vorräte zu besorgen, und bald schon übernahm ich diese Aufgabe ganz.
Die Annehmlichkeiten des zivilisierten Lebens kamen mir wieder in den Sinn. Des Waldes überdrüssig, nutze ich meine bescheidenen Ersparnisse, um in die Stadt zu ziehen. Da ich keinen Beruf gelernt hatte, blieben mir nur die dunklen Gassen. Doch die Gewalt der Straßen wurde mir zuwider, langsam wurde mir bewusst, was ich tat. Ich machte mich daran, Beute zu verkaufen und an den Wachen vorbeizuschleusen, statt mir selbst die Hände weiter schmutzig zu machen.
Ich war gut in dem Geschäft, das ist unbestritten. Doch so gut man darin auch ist, früher oder später bekommt man Probleme. Das ist der Nachteil an Geschäften abseits des Gesetzes. Man hat gewisse Verpflichtungen. Man muss von den falschen Leuten einen Gefallen annehmen, man wird von den Soldaten erwischt, man kann das Schutzgeld nicht zahlen, es kommt eins zu andern.
Die Luft wurde immer dünner für mich, immer öfter machte ich Bekanntschaft mit üblen Schlägern, die meinen bescheidenen Laden und mein Gesicht verwüsteten. Ich erinnere mich noch an die Gewitternacht, als ich den Strick über den Balken warf. Doch ich werde nicht aufgeben. Da wurde das Gerücht einer neuen Welt laut.
Ich legte mir abermals einen neuen Namen zu und heuerte auf einem der Frachtschiffe an. In Erinnerung an den graubärtigen Mann, der mir damals Essen gab, nenne ich mich Balthasar.
Ich bin endlich auf der Reise. In die neue Welt, in ein neues Leben. In die Freiheit. Ich werde nur nach meinen eigenen Regeln leben. Niemand wird mir befehlen. Ich werde das verkaufen, das ich kann: Überleben, Dinge besorgen und Menschen betrügen.
In Gilvanest angekommen, werde ich Freunde, Kontakte und Mittel brauchen. Ich bin nicht gläubig, doch bete ich, dass ich die Geschehnisse des schrecklichen, blutroten Herbstes vergessen kann. Vor allem werde ich Samael nie wieder sehen.
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