26. Erastus, 4705 AZEs war dunkel. Lediglich durch eine kleine Öffnung, weit oben, fiel etwas Licht in das enge Treppenhaus. Daros Augen mussten sich erst an die plötzliche Dunkelheit gewöhnen, denn draußen schien die grelle Mittagssonne an einem heißen Sommertag. Hier in den Schatten war es angenehm kalt. Er war schweißgebadet, was dem Jungen erst jetzt so richtig auffiel, da er endlich das schwere Bündel abstellen konnte, das er den ganzen Weg aus der ... her getragen hatte. Kalt und nass klebten die dunklen Kleider an seinem dürren Körper, als er sich daran machte seinen kostbarsten Besitz auszupacken. Eine Armbrust. Daro hatte sie in schmutzige Leinentücher eingewickelt, damit die Stadtwache keinen Verdacht schöpfen würde. Denn er hatte die tödliche Waffe tatsächlich dabei um sie zu benutzen. Um damit einem Leben ein Ende zu setzen.
Entschlossen wischte er sich noch einmal den Schweiß von der Stirn und begann den langen Aufstieg. Fünf Stockwerke musste er das schwere Ding über die wacklige, ächzende Holzkonstruktion hoch schleppen. Doch die Wut auf sein Ziel gab ihm Kraft. Als er schließlich völlig außer Atem die Falltür zum Dach aufstieß, explodierte das goldene Licht in seinen Augen wie ein Feuerball. Halb blind zog er die Armbrust auf die glühend heißen Steinplatten der herunter gekommenen Terrasse. Das verfallene Haus war vor geraumer Zeit verlassen worden. Nun hausten Bettler und Landstreicher darin, doch das Treppenhaus, so wie die Dachterrasse benutzten sie nur sehr selten. Ein Umstand, der das Haus ideal für sein grausames Vorhaben machte. Denn dabei brauchte er keine Zeugen.
Noch immer keuchend baute Daro die Armbrust mit schnellen, wohl vertrauten Handgriffen vollständig zusammen. Dann legte er eines der Leinentücher auf dem heißen Stein aus und bezog seine Stellung am Dachrand. Von hier hatte er den perfekten Blick auf den Eingang zu dem Gebäude gegenüber. Der Junge wusste, dass Gaedren Lamm, der Mann den er zu töten geschworen hatte, sein Versteck lediglich am Feuertag für ein paar Bier in seiner Lieblingstaverne verließ.
Also wartete er.
Die Sonne brannte unbarmherzig auf ihn herab und schon bald rann der Schweiß in seine Augen. Mehrere Stunden blinzelte er bereits in das grelle Licht des Mittags, als er sie das erste Mal für einen Moment geschlossen hielt. Noch einmal dachte er daran, warum er hier war. Warum er Gaedren tot sehen wollte.
* * *
Lamms Lämmer saßen halb verhungert auf dem verdreckten Boden eines verfallenen Lagerhauses. Die Kinder hatten gerade ihre Beute bei Gaedren abgeliefert und der alte Mann war noch mit glänzenden Augen damit beschäftigt die Geldbörsen, Schmuckstücke und bestickten Tücher zu begutachten, als sich Daro erhob. „Was willst du!“, schrie ihn der gierige Gaedren an. „Wir sind hungrig und haben gemacht was du gesagt hast. Gib uns was zu essen!“, antwortete der Junge. „Und dass sagt mir gerade der Pimpf, der mir am wenigsten nach Hause gebracht hat!“, zischte der alte Mann. „Ich glaube langsam, dass du dich mal mit dem Kleinen unterhalten solltest, Kicherer.“ Ein stämmiger Mann löste sich aus den Schatten eines Nebenraums. Das Orkblut in seinen Adern konnte man nicht nur an seiner massigen Gestalt und seiner schwarzen, dichten Behaarung, sondern auch an dem breiten, mordlustigen Grinsen in seinem bestialischen Gesicht erkennen. Während Gaedren sich wieder seinen kleinen Reichtümern widmete, packte der Halbork mit unglaublicher Geschwindigkeit den Jungen und zerrte Daro aus dem Lagerhaus.
Unheimlich kichernd stieß er ihn tiefer in eine dunkle Gasse hinein. Dann fegte er ihn mit einem harten Schlag von den Beinen. Schnell hatten die harten Fäuste des deutlich stärkeren Mannes jegliche Luft aus Daros Lungen geprügelt, bis er einfach regungslos auf dem Boden liegen blieb. Nach zwei weiteren heftigen Schlägen gegen den Kopf verlor der Junge das Bewusstsein.
Als er wieder erwachte, lag er auf einer Müllhalde irgendwo am Fluss. Sein ganzer Körper schmerzte und die Kälte war in seine steifen Glieder gekrochen, was jede noch so kleine Bewegung fast unmöglich machte. Es stank fürchterlich. Daro konnte Ratten hören, die sich um eine tote Möwe stritten, während die weißen Seevögel am Himmel ihren Hunger klagten. Plötzlich vernahm er eine tiefe Stimme neben sich. Sie gehörte ohne Zweifel einem Mann und die Worte der fremden Sprache erinnerten ihn an rollende Felsbrocken. Zwergisch. Daro beherrschte die Sprache der Händler aus Janderhoff zwar nicht, doch konnte er mit Bestimmtheit sagen, dass der Mann Überraschung und Besorgnis ausdrückte. Dann wurde er von kräftigen Händen umgedreht und starrte in das bärtige Gesicht eines einäugigen Zwergs.
* * *
Wenn Daro sich tatsächlich an dem alten Gaedren rächen wollte, musste er sich konzentrieren. Er setzte die schwarze Augenklappe, die er von Hadrak bekommen hatte. Seitdem der Zwerg den Jungen vor sieben Jahren gefunden und bei sich aufgenommen hatte, war er für Daro so etwas wie ein Vater. Bei ihm hatte er gelernt Armbrüste zu fertigen und sie auch zu benutzen.
Niemand hatte das baufällige Gebäude gegenüber betreten oder verlassen.
Er musste noch bis zum frühen Abend warten, bis die Tür zögerlich geöffnet wurde. Und es handelte sich tatsächlich um Gaedren Lamm. Tausend Dinge für die er sich rächen wollte, schossen Daro noch einmal durch den Kopf, fest entschlossen legte der Junge den Finger auf den Abzug. Doch bevor er den tödlichen Bolzen abfeuern konnte, hallten plötzlich die schweren, scheppernden Schritte von gepanzerten Kriegern durch die Gassen.