Sonderlich begeistert war Frederick nicht, sich auf einen verrückten Cyricpriester zu verlassen. Wer konnte schon sagen, ob Von Fedel wirklich einen unsichtbaren Beutel mit rettenden Zauberutensilien bei sich trug. Wenn man den Beutel wenigstens anfassen könnte und sich so von seiner Existenz überzeugen könnte, aber Von Fedel liess keinen an sich oder seinen Beutel ran.
Die vorgeschlagenenen Fluchtpläne waren alle nicht bis zu Ende durchdacht worden. Es herrschte Uneinigkeit über die Durchführung einer Flucht. Sollte nur einer versuchen zu entkommen und Hilfe holen? Doch wer konnte denn helfen und es mit über 300 Orks aufnehmen? Bis nach Niewinter waren es dreieinhalb Tage für einen einfachen Weg. Bis nach Kaninchenbeeren waren es nur wenige Stunden, aber handelte es sich laut der Zwerge um ein winziges Dorf. Frederick lieferte einen weiteren Einwand, den keiner bedacht hatte. Hier in der Lichtung herrschten angenehm warme Temperaturen, aber ausserhalb des Niewinterwaldes lag Schnee und sie hatten nur diese Leinenfetzen am Leib. Der Weg durch den Niewinterwald war stockfinster, dass hatten sie selbst erfahren. Qariel hatte von allen die besten Augen, aber in der Finsternis der Nacht war auch er hilflos. An eine Flucht bei Tage war erst recht nicht zu denken. Aariyah hatte zum wiederholten Mal versucht, die Ketten zu zerreissen, war aber kläglich gescheitert, auch wenn die Kettenglieder unter der Spannung ächzten. Mit den Ketten zwischen den Beinen konnte man nur kleine Tippelschritte machen. Bei einer Flucht, bei der man eventuell einen schnellen Spurt zurücklegen musste, war das ein unüberwindliches Hemmnis, neben dem ständigen Klimpern der Eisenketten. Haplo vertraute noch immer auf die Zwerge. Sie würden irgendetwas unternehmen. Doch was? Hatten die Orks die Zwerge wirklich laufen lassen? Söggrim erzählte, darauf angesprochen, dass die Zwerge zwar laufen gelassen wurden, doch wenige Minuten danach brach eine Gruppe von bewaffneten Orks zur Jagd in dieselbe Richtung auf. Ob diese Zwerge oder Nahrung jagen sollten, blieb unklar. Vor der Rückkehr der Orks waren sie schon wieder in die Höhle gebracht worden.
Da man nur Vermutungen über die Anzahl der Wachen anstellen konnte, beschlossen die Abenteurer ihre Situation die kommenden Tage genauer zu beobachten. Qariel sollte versuchen, Gespräche der Orks zu belauschen. Kralle sollte sich die Gesicher der Wache schiebenden Orks einprägen und Schwachstellen ausfindig zu machen. Aariyah hatte sich vorgenommen, sich an der Mühle nicht allzu sehr zu verausgaben, denn sie war sich sicher, die Ketten zerreissen zu können. Frederick hatte die Aufgabe bekommen, sich um Ablenkungen Gedanken zu machen.
Doch es kam anders.
Schon in derselben Nacht, als die Gespräche über eine Flucht verstummt waren und die Orks jeden Augenblick die Gefangenen mit der Eisenstange fixieren würden, drang ein schreckliches Heulen schwach an die Ohren der Gefangenen. Unruhe machte sich breit. Vor der Höhle hörte Qariel einen Ork ängstlich fluchen. Da erscholl das Geheul erneut. Dieses Mal lauter, die Quelle war näher gekommen. Ein schreckliches Heulen war dies, wie eines von Tausend verlorenen Seelen, das einem durch Mark und Bein ging. Das Blut gefror den Gefangenen in den Adern. Schwere Kopfschmerzen stellten sich ein und ein unangenehmes Klingeln hatte sich im Ohr eingenistet. Vor der Höhle waren deutlich Schmerzensschreie zu hören. Hektische Panik schien sich im Lager breit zu machen. Rufe nach Xred wurden laut und konnten auch ohne Kenntnisse der Orksprache verstanden werden. Eine der Orkwachen taumelte in die Höhle und fiel tot zu Boden. Dünne Rinnsale Blut flossen an seinen Ohren hinab.
Von Fedels Gesicht zeigte, dass er ebenfalls Schmerzen hatte, die sich langsam zu den Zähnen vorkämpften und langsam unerträglich wurden. Trotzdem begannen seine Augen zu leuchten. Sein Wahnsinn lag nun offen, für jeden zu erkennen. Juchzend rief er aus: "Die Stunde der Dunklen Sonne ist gekommen! Oh, Cyric, mein Herr, diese Ungläubigen werden nun in ihrer Stunde des Todes deine volle Macht erkennen!"
Von Fedel griff wie so oft an seine Brust, fummelte mit seinen dürren Finger in der Luft herum. Seinen Bewegungen nach, öffnete und entferne er etwas. Sein Griff ins Nichts hatte tatsächlich eine Handvoll getrockneter Bienen hervorgebracht. Die toten Insekten zwischen seinen flachen Händen zerreibend, betete er zu Cyric, seinem Gott der dunklen Sonne.
"Oh Cyric, willst du der Todesfee an diesem Tag einen Sieg gönnen und damit eingestehen, dass die dunklen Mächte des Elfenreiches stärker sind als die deinen? Zeige den Ungläubigen die Macht der Dunklen Sonne! Ich flehe dich an, gib mir das, was dieses infernale Heulen verblassen lässt!"
Unmittelbar leuchteten die Hände Von Fedels in einem gelbbraunen Licht und kleine Kugeln, die aussahen wie Bienenwachs, erschienen aus dem Nichts auf seinen dargebotenen Handflächen. Freudig erregt blickte Von Fedel auf das Ergebnis seines Gebetes und rief seinen Mitgefangenen zu: "Seht ihr? Wo sind eure schwachen Götter? Wo ist Sune, in der Stunde, wo ihr sie braucht?", verhöhnte er Frederick. "Bekennt euch zur Dunklen Sonne. Respektiert ihn als euren neuen Gott, verehrt ihn als euren neuen Meister, der euch..."
Doch bevor der Priester seine Schimpfkanonade weiter fortführen konnte, ertönte schon wieder das durchdringendes Heulen. Viel näher als zuvor. Die Abenteurer spürten schreckerfüllt, wie anfällig ihre Körper auf das Geheul reagierten. Ihre Köpfe drohten zu explodieren. Aufzuplatzen, wie überreifes Obst. Die eigene Seele schickte sich an, der leiblichen Hülle zu entfliehen. Die Abenteurer waren kurz davor, dem Drängen der Seele nachzugeben. Keuchend fielen sie auf alle Viere nieder und hämmerten mit ihren Fäusten auf den harten Steinboden ein, um den Schmerz zu überlagern. Kleine Bluttropfen flogen durch die Luft, als die Hände an den Knöcheln aufrissen.
Und es wirkte. Schon eine ganze Weile war kein neuer lebenraubender Schrei an die Ohren gedrungen. Noch fiel es den Abenteurern schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Von Fedel lag ausgestreckt auf dem Boden. Es war ihm nicht gelungen, die beschworenen Wachskugeln rechtzeitig in seine Ohren zu stopfen. Die kleinen Kugeln waren aus seinen Händen gerollt und hatten sich überall in der Höhle verteilt. Die erste, die reagierte, war Söggrin, die sich zwei der Kugeln griff und eilig in ihre Ohren stopfte.
"Von Fedel, ihr seid ein solcher Idiot, dass euch nichtmal der verfluchte Cyric ertragen kann! Das letzte Geheul sollte euch lehren, endlich euer grosses Maul zu halten. Wahrscheinlich gab er euch so eine grosse Menge Wachs, damit ihr zusätzlich euren Mund damit versiegeln könnt. Und auch ich hätte Vorschläge, wohin ihr euch das Wachs noch schieben könntet."