Bevor sie sich daran machten, die Gefangenen in den Geheimgang zu bringen, überprüfte Dorgen noch einmal flüchtig den Gesundheitszustand jeder noch lebenden Person. Alle waren transportfähig, auch wenn die Priesterin noch mit dem Leben rang. Fabulon, der trotz seiner schmalen Statur, wahrscheinlich mit der Kräftigste von ihnen war, trug die Frau allein, während Regadur Shan Thar mit sich schleifte und Dorgen und Tia'Nal sich der Wache annahmen. Zuletzt mussten sie jedoch wegen Amnics Leiche noch einmal zurück. Es blieb ruhig, aber es lag eine Spannung in der Luft, die beinahe greifbar war. Schließlich waren Dorgen und Tia'Nal zurück in dem Geheimgang und beide konnten nicht leugnen, dass es sie in gewisser Hinsicht beruhigte. Fabulon überreichte Dorgen noch die Briefe, die er gefunden hatte, damit die beiden bei den Purpurdrachen auch etwas vorzuweisen hatten. Dann schloss sich die Wand hinter ihnen und sie waren allein mit den Gefangenen.
Fabulon und Regadur gingen zurück zu dem Flur mit der schwarzen Scheibe. Fabulon verschloss vorsichtshalber wieder die Tür hinter ihnen und deutete noch einmal auf jene, die sie bisher nicht hatten öffnen können.
5. Eleint TZ, unbekannte Uhrzeit, unbekannter Ort, Áine Washyevic
Immer und immer wieder wurde ihr Verstand vollkommen blockiert. Wie ein Wurm fraß sich etwas hinein und ließ ihn nicht los. Áine lag am Boden und wusste nicht, wo sie war, wie spät es war, wer sie überhaupt war. Selbst ihr Name war ihr entfallen. Die letzten Stunden waren dunkel. Sie kämpfte mit aller Macht gegen das, was da ihren Verstand zu verzehren drohte, bis sie nur einmal kurz Schwäche zeigte und bemerkte, dass es dadurch besser wurde. Von da an ließ sie sich treiben, versuchte zu vergessen, dass es da diesen Wurm in ihrem Kopf gab und er hörte auf zu fressen und ließ sie wieder Áine sein, die ihren Namen wieder kannte, wenngleich sie noch nicht wusste, warum sie da lag, und auch noch nicht versuchte, es heraus zu finden, weil sie Sorge hatte, der Wurm könnte zurückkehren. Sie ließ sich weiter treiben. Wie viel Zeit dabei verging, wusste sie nicht. Manchmal hörte sie wie in der Ferne ein leises Platschen, manchmal sogar Stimmen, vorwiegend eine männliche Stimme, der sie aber kein Gesicht zuordnen konnte. Dann, als sie endlich sicher war, dass der Wurm verschwunden war, begann sie sich darüber Gedanken zu machen, in welcher Lage sie sich befand. Die ersten Erinnerungen aber schienen lange zurück zu liegen. Sie war an Windritt los gezogen, des heiligen Tages Shaundakuls im Monat Tarask. Sie hatte den Reiter der Winde gebeten, ihren Weg zu begleiten, und das hatte er getan, beinahe ein halbes Jahr lang. War es damals langsam wärmer geworden, wurde es inzwischen schon wieder kälter, das wusste sie noch. Sie schlug die Augen auf und starrte zunächst nur an eine steinerne Decke. Als sie den Kopf wand, erkannte sie aber eiserne Stangen, die ihr Gefängnis begrenzten und dahinter eine Art Kanal mit Wasser gefüllt. Da schwamm sogar ein Boot. Nein, das sah eher nach zwei miteinander verbundenen Kayaks aus, ein Katamaran. Áine schätzte, dass wohl nicht mehr als sieben oder acht Personen darin Platz fanden konnten, und dann wahrscheinlich auch eher schmale Hänflinge, nicht solche Kreaturen wie sie. Sie zwinkerte. Die Gedanken machten sie munterer und wo vorher der Wurm sich in ihren Verstand gefressen hatte, sobald sie nachdachte, so hatte sie jetzt das Gefühl, dass ihre Gedanken wieder Klarheit schafften und dass Shaundakuls Winde den Nebel aus ihrem Kopf bliesen. Sie setzte sich auf und stöhnte, während sie weiterhin ihre Umgebung beobachtete. In der Nähe des Katamarans gab es einen Raum, aber sie konnte aus ihrem Winkel nicht genau hinein sehen, also widmete sich den anderen...ja, was eigentlich? Waren das Zellen? War sie gefangen? Nun ja, da sowohl ihre eigene Behausung, als auch die anderen kleinen Räume in ihrer unmittelbaren Nähe, und so wie sie die Sache sah auch die Räume auf der anderen Seite des Kanals, Eisenstangen aufwiesen, musste sie davon ausgehen, dass sie eine Gefangene war. Aber sie? Gefangen? Das war ein so unrealistischer Gedanke, dass sie den Kopf schüttelte. Der Nebel darin löste sich langsam auf und Àine erinnerte sich wieder daran, wie sie hierher gekommen war. Verdammter Dreck! fluchte sie innerlich. Sie war von Natur aus neugierig und es lag auch in ihrem Glauben begründet, dass sie sich durchaus für andere Religionen interessierte, aber in Zukunft würde sie wohl vorsichtiger sein, wenn sie einfach so einen Tempel betrat und an einem komischen Ritual teilnahm. Nur verschwommen erinnerte sie sich an die letzten Tage, in denen ihr die Lehren und Geheimnisse der Mystra offenbart worden waren. Dann waren sie in Gruppen weggebracht worden und dann...dann war da irgendwie ein großes Loch. Sie rieb sich die Augen. Wie lange sie wohl hier gewesen war? Ganz egal. Sie musste hier raus. Aber wie? Sie sah noch einmal zu den anderen Zellen, in denen Menschen hockten, die alle irgendwie abwesend wirkten. Keiner von denen schien ganz bei sich zu sein. Und dann hörte sie Schritte, die aus dem Raum in der Nähe des Katamarans, kamen.