Lächelnd nickte Isabelle Mika zu. „Das überrascht mich nicht. Es ist die geheime Sprache der Künstler, und die meisten von uns verschweigen sie lieber auch anderen Künstlern, als zu riskieren, dass der falsche davon erfährt.“ Ihr Blick wanderte kurz zu Eretria. „Und du hast nichts hiervon gehört, da sind wir uns einig, ja?“
Dann sah sie wieder zu Mika. Ihre strahlenden Augen gaben den beiden Frauen etwas Hoffnung. „Ich bringe dir die Grundlagen bei, wenn wir gleich proben. Viel mehr wirst du nicht brauchen, denn Aricathari arbeitet sehr stark damit, den Kontext des Stücks oder des Lieds, das aufgeführt wird, zu nutzen. Eine Geste erhält eine vollkommen andere Bedeutung, wenn sie zu einem anderen Lied gezeigt wird, oder kann sogar komplett sinnlos werden. Übrigens die erste wichtige Lektion, wer ständig Ari-Gesten zeigt, die keinen Sinn machen, erklärt damit, dass er entweder dazu gezwungen wird oder jemand zuschaut, der die Sprache beherrscht, aber die eigentliche Botschaft nicht kennen darf.“
Dann wandte sie sich wieder an die junge Priesterin. „Wir werden es rausfinden, und wir finden auch deinen Verlobten. Unsere Leute sind über die ganze Stadt verteilt, und über jede andere. Es gibt gute und schlechte, mutige und feige, aber eines vereint sie: Wenn einer von uns um Hilfe ruft, stehen ihm die anderen bei. Das erfordert das Gesetz.“
Wieder sah sie zu Mika. „Falls dir vom Gesetz der Künstler noch niemand erzählt hat, hole ich das auch gleich nach. Es sind nur wenige, einfache Regeln, doch sie halten uns zusammen. Wer gegen das Gesetz verstößt, wird geächtet, und er wird niemals wieder die Unterstützung der anderen erfahren.“
Sie stand auf, und blickte zum Zeltausgang. „Mika, wir zwei werden heute noch eine Menge Arbeit vor uns haben. Lass uns gleich beginnen. Und Eretria, du kannst es dir hier gemütlich machen. Ruh dich auch. Du bist eine Priesterin, vielleicht hilft es dir, zu beten oder zu meditieren. Im Augenblick kannst du wenig tun, aber morgen… nun, ihr zwei werdet eine Armee anführen. Eine sehr ungewöhnliche Armee, aber eine Armee.“
Damit verließ sie das Zelt.
Die nächsten Stunden arbeitete Mika mit Isabelle und den anderen Schaustellern an der Aufführung. Das Stück erzählte die Geschichte von Josain, einem Bauersjungen, der sich in eine junge Fremde verliebte. Wie sich herausstellte, war die Fremde eine boshafte Göttin, die sich vorgenommen hatte, ihm das Herz zu stehlen, und ihn damit zu einem unsterblichen, aber gefühllosen Krieger ihrer Armee zu machen. Der Konflikt aus überwältigender Liebe und dem Kampf um seine Seele war das, was die Geschichte vorantrieb.
Die Rettung würde der Bauer durch eine junge Frau aus seinem Dorf finden, die schon seit vielen Jahren in ihn verliebt war – und die mit ihrem Mut letztlich das Herz des Jungen aus der Schatzkammer der Göttin befreite, und ihn so zu den Menschen zurück brachte.
Mikas Aufgabe war tatsächlich entscheidend, denn sie bestimmte mit ihrer Musik die anfängliche Stimmung jeder einzelnen Szene, und jeder wichtige Charakter wurde mit einer eigenen, zu ihm passenden Musik vorgestellt.
Als schließlich der große Auftritt statt fand, hatten sich weit mehr Leute auf dem Platz vor der Bühne versammelt, als Mika erwartet hatte. Nicht nur Dutzende, sondern Hunderte von Menschen saßen da, gebannt und neugierig, was sie erwarten würde. Die junge Bardin hatte mit ihrer Angst vor dem ersten Auftritt schwer zu kämpfen, doch irgendwie schaffte Isabelle es, sie so weit zu beruhigen, dass sie nicht vor lauter Panik davon rannte. Dennoch rechnete sie fest damit, zu scheitern.
Dann spielte sie die ersten Laute des ersten Liedes, und Josain betrat die Bühne. Mika schloss die Augen, versuchte, zu vergessen, dass Hunderte von Zuschauern zuhörten, und konzentrierte sich ganz und gar auf ihre Musik. Erinnerte sich an die Szenen, die sie eingeübt hatten, und daran, welche Gefühle die Lieder hervorrufen sollten.
Die Zeit verging. Lied um Lied spielte Mika, lauschte dem Applaus, den die Schauspieler bekamen, und irgendwann stellte sie fest, dass das letzte Lied an der Reihe war. Auch dies brachte sie hinter sich, und mit ihren letzten Noten fiel der Vorhang.
Einen Moment lang herrschte Stille. Erdrückende Stille. Hatte sie etwas falsch gemacht? Hatte sie mit ihren letzten Lauten nun doch alles verdorben? Doch dann brach der Jubel los. Die Leute applaudierten, jubelten und klatschten, und bevor sich Mika versah, wurde sie von Isabelle an der Hand gefasst und mit auf die Bühne gezogen. Sie verbeugte sich, weil es alle anderen auch taten, versuchte dann, schnell wieder von der Bühne zu entkommen, doch ein anderer Schausteller schob sie gleich wieder zurück.
Dann geschah das, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatte. Die anderen aus der Künstlertruppe zogen sich zurück, und Mika stand im Mittelpunkt, ganz alleine. Und das Publikum applaudierte.
Für sie.