Tief atmet Ansuz die kalte Bergluft ein. Er kostet sie wie einen gereiften Pilzschnaps und schwelgt in ihrem Bouquet. Isvar Antli ist ein trockener, im Vergleich zur sonnendurchfluteten Oberfläche stickiger Ort. Frische Luft muss einen weiten Weg zurücklegen, bevor sie sich in den Hallen der Klans ausbreitet.
Auch Wind gibt es keinen. Zwergenkinder spüren ihn erst, wenn ihre Eltern sie mit in den Schnee nehmen und ihnen die Gipfel präsentieren, die seinem Volk vom großen Geist zum Geschenk gemacht wurden. Seine heulenden Böen erzählen den Kleinen Geschichten von tiefen Tälern, glitzernden Gletschern und schäumenden Strömen, von alter Zeit und dem Gesang der Ahnen.
Nachdenklich hebt Ansuz den Kopf und blinzelt in die goldene Scheibe am Himmel. Seine Bart wogt im Wind, sein Atem bildet Wölkchen. Selten hat er sich so lebendig gefühlt. Fast scheint es so, als würde der weiße Schnee allen Tod von ihm abwaschen. Selbst seine Erinnerung badet im Licht der Sonnenstrahlen.
Lächelnd wuchtet er seinen überfüllten Rucksack vom Rücken. Mit Hammer und Meißel aus seiner Werkzeugtasche hinterlässt er einige Worte an einem nahegelegenen Felsen
[1]:
"O Reisender,
höre denn,
was dir erzählt sein möge."
Einige Minuten betrachtet er sie, bevor er nickt und die letzten Steinsplitter abklopft. Sorgfältig und ohne Hast verstaut er sein Werkzeug wieder und setzt den Abstieg fort. Seine schweren, eisenbeschlagenen Stiefel finden relativ leicht Halt auf dem steinigen Untergrund. Lediglich das Gewicht seiner Rüstung wird auf Dauer anstrengend.
Selbstverständlich ändert das nichts. Notfalls würde er auf blutigen Knien kriechen, um weiter voranzukommen. Nicht eher würder er zurückkehren, bevor er nicht ein Heilmittel gegen Hragle gefunden hätte. Er schwor dies am Schrein seines Gottes, sorgenvoll gemustert von der ehrwürdigen Gridhild.
In Erinnerungen versunken merkt er erst auf, als das Knirschen unter seinen Füßen nach und nach leiser wird und ihm der Geruch nach Gebratenem in die Nase steigt. Sofort quittiert sein Magen die Entdeckung mit lautem Rumpeln. Gab es dort unten etwa Menschen? Brieten sie gerade irgendeine Köstlichkeit?
Zufrieden grollend beschleunigt er kurz seine Schritte, bevor er wieder langsamer wird. Dank Gridhild beherrscht er die Sprache der Ebenenbewohner, seine Bräuche und Wesensart ist ihm jedoch völlig fremd. Bisher traf er nur reisende Händler an, die in Isvar Atli Gewürze und Stoffe gegen Stahl und Werkzeug tauschten, manchmal auch Waffen oder Rüstzeug. Geredet hat er nie viel mit ihnen. Solang sie Gold hinterließen, reichte das aus.
Nun ist Ansuz gezwungen, umzudenken. Im Angesichts des Wäldchens wird ihm bewusst, wie allein er eigentlich ist. Das ist nicht mehr seine Welt. Bäume gibt es auf den Spitzen der Berge nicht. Sie sind höchstens Durchreisende, längst zu Brennholz kleingehackt und kaum noch voneinander zu unterscheiden.
Dort unten liegt das Reich der Menschen. Sie wissen nichts vom Großen Geist der Berge. Vorsorglich verstaut er sein Heiliges Symbol unter seinem Harnisch, bevor er den Weg fortsetzt. Selbst ein Zwerg muss sich manchmal anpassen. Sogar Fels weicht mit der Zeit Wasser und Wind.
Irgendwann muss er sich der Verantwortung stellen, die er sich selbst in den Hallen seiner Vorväter auferlegt hat.
Leise grollend stapft er wieder los. Aufmerksam sieht er sich nach möglichen Gefahrenquellen oder Einwohnern um.
[2]Die Waffe zieht er nicht, da er keinen feindseligen Eindruck erwecken möchte.
Was er nicht weiß ist, dass Zwerge für einen Menschen praktisch immer mürrisch und streitlustig aussehen.