Hymir kann nicht schlafen.
Zu viel ist in den letzten Tagen geschehen. Sein komplettes Leben würde über den Haufen geworfen und neu geordnet. Es ist schon in Ordnung, sicher, aber nichtsdestotrotz ist er nun Einwohner einer ihm fremden Welt.
Da hilft es auch nicht viel, dass alle so nett zu ihm sind und ihn mit so viel Respekt behandeln. Darauf könnte er daheim vergeblich warten. Als ob ihm Thrym jemals auch nur zugenickt hätte!
Inzwischen würde er das vielleicht anders sehen, ist Hymir doch weiter herumgekommen als er selbst. Das Meer hat er befahren, als wäre er einer der tapferen Walfischer, fremdes Land betreten wie ein Held der Legenden und gefeiert, als wären seine Lenze vollzählig und sein Bart lang wie der seines Vaters.
Zwar gab es weder Met noch umfingen ihn schlanke Frauenarme, aber immerhin hat er gekotzt wie ein krankes Tlalusk.
Unfassbar, dass die Grünen am nächsten Tag wieder so schnell auf den Beinen waren. Es ging nicht einmal ein Spucknapf oder eine andere vernünftige Möglichkeit der Reinigung um. Niemand hat sich die Haare auf traditionelle Art und Weise geflochten und nirgends stiegen Dampfwolken vom morgendlichen Geschäft auf, nicht einmal bei ihm selbst. Warum das so ist, hat er immer noch nicht feststellen können.
Überhaupt gibt es vieles, was er bisher nicht begriffen hat, zum Beispiel diese Besprechung, der er beiwohnen musste.
Offenbar gibt es nicht nur einen Thain, sondern viele. Der, der ihn vor ein paar Tagen so überschwänglich lobte, ist der Jarl. Die Rolle der Schamanen kennt er immer noch nicht, obwohl er ihnen gerne zusieht.
Sie veranstalten längst nicht so ein Spektakel wie Mimir, aber schließlich essen sie auch keine Tollpilze. Ihm selbst wäre es lieber, wenn sie so beschwörend sprächen wie der Weise der Windläufer. Er vermisst diese Reden.
Der Jarl schwang schon große Worte, bestimmt sogar, aber verstanden hat Hymir nicht viel davon.
Was etwa eine “Püramide” sein soll ist ihm völlig schleierhaft. Irgendwer benutzt Gift, was sich für einen Krieger eigentlich nicht ziemen sollte, das fand zumindest sein Vater. Offenbar ziehen die Grünen Seite an Seite mit den Alfen, wenn er sich nicht verhört hat. Bisher hat er keine entdecken können außer den komischen Kleinen, der irgendeinen Samen finden soll. Anscheinend hat das etwas mit den Göttern zu tun.
Was auch immer der genaue Wortlaut gewesen sein mochte, er wurde begeistert aufgenommen. Es herrschte mindestens so ein Geschrei wie beim Wollhornweitwurf in der Heimat. Jeder erschien erfüllt von einem großen Geist, obwohl ihnen nichts ins Gesicht geschmiert wurde.
Seine Aufbruchsstimmung war danach so groß, dass er mindestens ein Dutzend Mal seine Sachen durchstöbert und nach Fehlendem gesucht hat, wenn auch ohne Ergebnis. Es blieb stets bei Anhänger, Rüstung, Axt und dem Dicken.
Letzterer benahm sich faul wie eh und je und half trotz wiederholter Schelte nicht einmal mit.
Seitdem sind fünf Tage vergangen, in denen er sich nicht großartig gerührt hat, sieht man von seinen Fütterungen ab.
Spontan blinzelt Hymir in das wenige, was vom Nachthimmel zu sehen ist und greift in seinen Gürtel, um Fjodor hervorzuholen und ihn ein wenig vor seinem Gesicht in der Luft schwimmen zu lassen. Er imitiert dazu leise die Geräuschkulisse, wie er sie aus seinen Tauchgängen kennt, und entsinnt sich der letzten fünf Tage.
Es ist zu viel geschehen, als dass ihm alles Erlebte einfiele, aber einiges war so erstaunlich, dass er es sich einprägte.
Es gibt zum Beispiel Boden, der das Gewicht eines Thursen nicht hält, sondern ihn im Gegenteil einsinken ließ. Als man ihn schließlich herauszog, war er völlig mit komischen schwarzem Zeug bedeckt, ähnlich feuchter Erde.
Auf dem Wasser der allgegenwärtigen Tümpel schwimmen komische Flecken und es riecht faulig, wie nach Kadaver. Auf manchen schwimmen sogar Blumen.
Zwischen vielen Bäumen ist ein seltsamer, fast durchsichtiger Stoff gespannt, der gleichzeitig so dünn wie eine Nadel und stark wie Kiefernholz zu sein scheint.
Vor allem herrschte Hitze, unentwegt.
Je weiter sie vordrangen, desto fremdartiger wurde ihre Umgebung. Erst vor kurzem sah Hymir nah einer der stinkenden Pfützen erstmalig einer ihrer Gegner, der da bereits eine Weile zu verfaulen schien.
Er muss zugeben, enttäuscht gewesen zu sein. Die Bestien, die er vor seiner Abreise bekämpfte waren weitaus beeindruckender, nicht so mickrig.
Angeblich setzen die Gnome, wie sie von den Grünen genannt werden, Gift ein. Davon hat er bisher nichts gespürt. Es kam weder zu Kämpfen noch etwas anderem, dass ihn vom Klima ablenken könnte.
Inzwischen wird er in seinem eigenen Schweiß regelrecht gesotten. Es ist nicht bloß heiß, sondern gleichzeitig feucht und drückend.
Sein Kopf fühlt sich schwammig an, als rutsche jeder Gedanke einfach durch. Zu viel Denken ist anstrengend.
Das Fell klebt nur so an seinem Körper. Als er versucht hat, es zu lösen, holte ihn schnell die Wirklichkeit ein. Obwohl es glitschig und warm wie Pisse ist, lässt sich nicht einmal ein einziges Teil lösen, so sehr haftet es an seiner Haut. Irgendwann hat er einfach aufgegeben.
Wenigstens seine Bemalung ist schnell in der Sonne getrocknet. Sein ganzes Gesicht fühlte sich seltsam starr an, als spanne sich etwas auf der Haut. So komisch hat er sich selten zuvor gefühlt. Umso erleichtender nahm er die Nachricht auf, die “Geistermaske” ruhig lösen zu dürfen, da das Ritual beendet sei.
Obwohl er sich nicht so recht traute, kratzte er sie schließlich heimlich im Schatten ab, während er den Kriegsgeist beschwor, der ihm zur Seite stehen soll.
Jetzt, am Abend des fünften Tages, haben sie ihr Lager auf der Kuppe einer kleinen Erhebung errichtet. So weit über den fauligen Winden ist es bereits sehr viel leichter zu atmen.
Murmelnd, Fjodor schwenkend und mit dem Kopf irgendwo ganz woanders bemerkt Hymir erst gar nicht, wie sich die Nicht-Alfe erhebt und eine Warnung aufstößt.
Irgendetwas klickt und scharrt in der Dunkelheit. Er glaubt sogar Stimmen zu hören, die ihm zum Glück nicht einmal bekannt sind. Endlich!
Freude brodelt in ihm hoch. Die Erschöpfung ist ebenso vergessen wie seine komische neue Sippe oder Fjodors Faulheit. Das ist die Möglichkeit, sich zu beweisen, nicht bloß durch seine Statur, sondern seine Taten! Dafür haben ihn die Männer seines Stamms von seiner frühesten Erinnerung an ausgebildet!
Triumphierend knurren lässt er das Spielzeug fallen, erhebt sich zu voller Größe und zieht betont seine Axt vom Rücken. Allein ein Blatt ist so breit wie die Brust des drahtigen Gehörnten. Damit hat er bereits einen Tundrawolf von den Lefzen bis zum Schweif gespalten. Selbst Thrym hat ihm damals dafür Respekt gezollt.
Damals wie heute fühlt er sich seine Sinne schärfen. Jede Ablenkung ist verflogen. Kein Muskel zuckt, kein Lid flackert. Geräusche klingen wie undeutliche Erinnerungen, unbedeutend wie jede andere Kleinigkeit, die ihn beschäftigt haben mochte.
Auf die Idee, in Deckung zu gehen, kommt er natürlich nicht. Nichtsdestotrotz sieht er sich wachsam um. Sobald er einen Feind ausmacht, lässt er ihn je nach Bewaffnung entweder kommen
[1] oder stürmt gleich auf ihn zu
[2].