Sie war den ganzen Weg in die Elendsviertel gerannt und holte etwas Atem in einer schmalen Seitengasse. Sie sah sich nach neugierigen Augen um und als sie sicher war, unbeobachtet zu sein, holte sie die braune Geldkatze des Händlers hervor. Das Katzenleder war neu und gut gefettet und war schwer genug, um eine gute Summe enthalten zu können. Scarlet hasste die Art, aus Katzen Geldbeutel zu machen. Schon aus diesem Grund hatte sie dem Händler die Geldkatze mit Freuden abgenommen.
Scarlet pfiff erfreut, als zwei goldene und einige silberne und bronzene Münzen aus dem Beutel rollten. Es bereitete ihr unheimliches Vergnügen, sich vorzustellen, wie der dickbäuchige, schweinsgesichtige Mann gerade im Lokal seinen Wein bezahlen wollte und sein Geld nicht fand. Für sie war es ein guter Bruch gewesen und wo diese Münzen herkamen, waren sicher noch mehr zu holen. Schade, dass der Fettsack nun ihr Gesicht kannte.
Sie warf die Geldkatze die Gasse hinab und verteilte die Münzen auf ihre unzähligen kleinen Taschen im Gewand. Dann griff sie in ihre Manteltasche und holte ihre großen Schlapphut hervor, den sie sorgfältig eingerollt hatte. Sie fischte eine grüne Feder aus ihrem Futteral und steckte sie in das Hutband. Erst dann verließ sie die Gasse und ging die Straße herunter.
Der faulige Wind blies ihr ins Gesicht und sie fühlte sich frei und glücklich. Hier war sie ihr eigener Herr. Sie hatte hier das schlichte Glück im Hoch und Tief des einfachen Lebens gefunden, dass den Adeligen immer verborgen bleiben würde. Und sie liebte es, mit der Gefahr zu spielen, denn die Elendsviertel waren ein hartes Pflaster: Die Miliz ließ sich hier kaum blicken; der lange Arm des Gesetzes griff am Viertel vorbei. Wo jede soziale Ordnung fehlte, wo Du Dich auf nichts verlassen kannst und nicht weißt, ob Du morgen noch was anderes außer Schläge zwischen die Zähne bekommen könntest, gilt es, Leute zu kennen. Und Scarlet kannte hier eine Menge Leute. Sie kannte jeden Winkel und jedes Gesicht – wenn auch nicht jeden Namen. Sie war eine von ihnen. Manchmal dachte sie an ihr altes Leben zurück, doch mittlerweile gehörte sie dazu.
Sie überlegte, was sie mit dem Gold anfangen sollte. Eins war ihr selbstverständlich: Sie würde nur den geringsten Teil für sich behalten. Hier gab es mehr gescheiterte Existenzen als ihr Mantel Löcher hatte. Sie würde versuchen, mit dem Gold das Leid ein wenig zu lindern. Aber auch nicht wahllos und sie würde auch nicht alles einer Person geben. Viele konnten ohnehin nicht mit Geld umgehen. Manche würden sich besaufen, es verspielen oder sich ausrauben lassen. Auch war es für sie selbst gefährlich, zu zeigen, dass sie so viel Gold besaß.
Da fiel ihr Feista ein. Feista verdingte sich ihren kümmerlichen Lebensunterhalt, indem sie sich widerlichen Perversen in einem kleinen schmuddeligen Bordell am Ende der Flickergasse hingab. Jedesmal, wenn Scarlet an sie dachte, schickte sie in Gedanken ein kurzes Dankgebet an Olladra. Dieses Schicksal war ihr bisher erpart geblieben.
In der Vergangenheit hatten sie gemeinsame Sache gemacht: Feista machte vielversprechende Kunden aus und Scarlet erleichterte sie um ihr Gold. Feista bekam dafür ein paar Münzen ab. Auch die ein oder andere offene Rechnung hatte Scarlet für Feista beglichen. Das alles war schon eine Weil her. Mittlerweile war das Henkers zu heruntergekommen, um betuchte Männer anzulocken. Doch ihre Freundschaft hatte sich gehalten. Es war wichtig, Leute zu kennen, denen man vertrauen konnte.
Obwohl sie sich mochten, trafen sie sich eher durch Zufall denn durch Absprache und seit drei Tagen hatten sie sich gar nicht gesehen. Feista stand nicht immer an den selben Orten. Gerade im Moment nicht, denn es war Jahrmarkt. Zuletzt hatte sie sich darüber beklagt, dass ihr Beruf in der Zeit des Jahrmarktes immer zur Freakshow würde. In der vorherigen Nacht hatte sie drei Kunden, einen ekelhaften, schmierigen Kürbishändler mit orangefarbenen Händen; einen Typen mit merkwürdigen Hautveränderungen, dessen Klamotten nach Motten und Schimmel rochen; sowie einen Harlekin vom Zirkus. Sie war ein bedauernswertes Ding.
Da Scarlet nicht wusste, wo Feista stand, beschloss sie, im Henkers vorbeizuschauen, vielleicht hatte sie Glück.
Ekel durchfuhr Scarlet, als sie vor dem Bordell stand. Gerne hätte sie Feista geholfen, von hier fortzukommen, doch die Umstände! Jeder hat sein Päckel zu tragen, dachte sie traurig, manche Dinge lassen sich kaum ändern, denn das Schicksal klopft nicht an. Dann trat sie in den schmuddeligen Schankraum. Sie versuchte, im schummrigen Licht Feista ausfindig zu machen. Der Bordellbesitzer fiel ihr erst auf, als er direkt neben sie getreten war – sie wusste nicht einmal ihren Namen, so abstoßend war er ihr. Noch bevor sie auf ihn reagieren konnte, hatte er sie am Hals gepackt und gegen den Türpfosten gedrückt. „Okay, du kleine Nutte, ich weiß, dass Du und Feista befreundet seid. Also streite es erst gar nicht ab, dass ihr unter einer Decke steckt.“ Sein übler Atem stach ihr in den Nase. Scarlet war überrumpelt und würgt nur hervor, „Wovon redet ihr?“. Röte stieg dem Mann ins Gesicht, „Verarsch mich nicht. Feista ist verschwunden und Du hast ihr geholfen. Wo ist sie? Raus damit oder ich mach aus Dir Kleinholz – oder vielleicht fällt mir noch etwas besseres für Dich ein“, fügt er mit lüsternen Grinsen hinzu. „Ich verstehe, es macht keinen Sinn, es abzustreiten. Meinetwegen bringe ich Euch zu Feista.“, sie macht eine kleine Pause, gibt sich unsicher und fügt hinzu, „… und ihr sagt mir, was ich tun muss, dass wir die Sache vergessen.“, sie legt ihren Finger auf seine Lippen, „… ich bin ein versöhnliches Mädchen, wisst ihr?“. Der Mann lockerte seinen Griff, ließ sie ein Stück herab.
Er schätzte sie mit unverhohlener Geilheit ab. Scarlet vergalt es ihm, indem sie ihn zwischen die Beine trat. Der Zuhälter krümmte sich vor Schmerzen, ließ von ihr ab.. „Widerlicher Wixer!“, sagte Scarlet und gab ihm noch einen Schlag ins Genick. Der Mann brach zusammen.
Geschwind stieg sie die Treppe herauf. Spätestens jetzt wusste sie, dass sie Feista hier rausholen musste. Oben traf sie Tarasha in Feistas Raum an. Hmm? Tarasha arbeitet doch im Blutroten Herzschlag?. Tarasha hatte den Lärm und das Aufstöhnen des Zuhälters anscheinend gehört. Sie war verwirrt und verzweifelt, als sie erfuhr, was Scarlet gerade getan hatte. Schnell befragte Scarlet Tarasha. Nach einigen Fragen erfuhr sie, dass Feista schwer erkrankt war und dass man sie in die Jorascoenklave bringen ließ, nachdem sie sich im Blutroten Herzschlag versteckt hatte. Sie selbst wollte sich etwas in ihrem Raum umsehen und sich mit einem gewissen Sir Bolbas d'Jorasco im Blutroten Herzschlag treffen, um weitere Nachforschungen bezüglich der Krankheit anzugehen.
„Ich begleite Dich, Tarasha!“, sagte Scarlet, „Allein ist es zu gefährlich. Und packe auch gleich ihre anderen Sachen. Sie sollte hier nicht zurückkommen. Besser Ihr kommt nie wieder zurück. Keine Angst, ich sorge für Feista. Sie wird ein neues Leben beginnen können!“, sagte sie zärtlich. Sie hoffte, dass sie dieses Versprechen wahr machen konnte. Das musste eine wirklich schlimme Krankheit sein, wenn sich Tarasha so in Gefahr begab.
Das war erst wenige Minuten her, doch jetzt erscheint es ihr wie eine Räubergeschichte. Sie steht mit Tarasha vor dem Blutroten Herzschlag und ihre Blicke treffen sich. „Hier ist es also“, stellt sie fest. "Ähm, sag mal Tarasha, dieser Sir d' Jorasco; das ist der Name eines Adeligen aus einem Halbling-Herrscherhaus. Du weißt, dass Feista meine Freundin ist, also versteh' mich nich' falsch, aber was will das Blaublut von einer Prostituierten aus dem Henkers?", sie fährt im Verschwörerton fort, "Die große Liebe oder nur ein Perversling?". Sie konzentriert sich zu sehr darauf, eine Lüge in Tarashas Gesicht zu erkennen, als dass sie auf ihren Rücken achtet.