Als seine Zuhörer nach der Vorlesung zu ihm kamen, nahm Samuel seine Unterlagen vom Redepult und klemmte sie unter seinen Arm. Wer darauf achtete, mochte bemerken, dass diese „Unterlagen“ in Wahrheit nichts anderes waren als ein Stapel leerer, weißer Papierzettel.
Geduldig beantwortete Samuel alle Fragen und nahm sich die Zeit, auch kleinste Details zu erklären und sich auf kleine Folgediskussionen einzulassen. Doch machte er nicht den Eindruck, als würde er das Bad in der Menge genießen; vielmehr schien es ein wenig wie ein notwendiges Übel, das er über sich ergehen ließ. Er wirkte nicht ganz unglücklich, doch wer genau auf ihn achtete, konnte merken, dass er die Vorlesung nun am liebsten hinter sich bringen wollte.
Insbesondere die Lobesbekundungen und die Wiederholungen des von ihm in der Vorlesung Gesagten schienen ihm tatsächlich unangenehm zu sein.
Sichtlich genoss er es dann, nicht mehr ganz so im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen, als sich der Kreis der Professoren bildete – ebenso offensichtlich war er allerdings irritiert darüber, dass die Menge den Saal verließ, während der auserlesene Kreis der Gelehrten, bewacht von ausgebildeten Soldaten, sie offenbar bewachten. Er schien zwar nicht eingeschüchtert, aber zumindest schien er die Situation anfangs nicht ganz einschätzen zu können, und eine gewisse Anspannung an ihm war kaum zu übersehen.
Als die Gespräche sich dann der Bundesexekution und dem Schicksal Schleswigs und Holsteins zuwendeten, dämmerte dem frisch gebackenen Dozenten allmählich, was es mit dieser Versammlung auf sich hatte. Neugierig wanderte sein Blick über die Anwesenden, und er hielt sich die ganze Zeit über vornehm zurück, beobachtend und die Lage einschätzend.
Schließlich fand Karsten zumindest einige Worte für ihn. Ihm fiel durchaus auf, dass der Mineraloge das Wort „Vorstellung“ anstelle von „Vorlesung“ gewählt hatte – ein kleines Detail, das ihm jedoch eine Menge verriet. Vielleicht gab es ja doch ein oder zwei Zuhörer, die verstanden hatten, was er in der Vorlesung gemacht hatte.
„Vielen Dank“, entgegnete er knapp, als Karsten ihn als Dozent willkommen hieß. Er schien nicht wirklich überrascht, aber doch ein wenig erleichtert über die Bestätigung.
Wie sein Direktor ihn anwies, lauschte Samuel anschließend sehr genau den folgenden Ausführungen. Als Alfred Nobel sich vorstellte, blieb in seinem Blick jedes Erkennen aus – vermutlich war er tatsächlich der einzige im Saal, der keine Ahnung hatte, wer der Chemiker war, und suchend sah er sich in der Runde um, als würden ihm die Gesichter der anderen Professoren Aufschluss über die Identität dieses Mannes geben.
Bei Alfreds Erzählung hingegen wurden seine Augen groß – und mit jedem zusätzlichen Detail wirkte Samuel entgeisterter. Es war offenkundig, dass er mit so etwas nicht gerechnet hatte.
„Ich weiß sehr wohl, was ich Karsten zugesagt habe“, ging es ihm durch den Kopf. „Aber das… ich hätte nicht gedacht, dass ich in so etwas verwickelt werde. Und vor allem nicht so schnell. Erpressung, Attentate, ein zerstörtes Schiff… aber immerhin weiß ich jetzt, was es mit dem Schiffsunglück auf sich hatte.“
Und auch, wenn Alfreds Berichte ihn schon auf einiges eingestimmt hatten, genügten Conrads Offenbarungen, ihn zu einem überraschten Kratzen am Hinterkopf zu bewegen. Vermutlich war Samuels Bild von der politischen Lage und den damit verbundenen Verwicklungen am unvollständigsten von allen, die im Saal waren, und er hatte sichtlich Mühe, die Mosaiksteine zu einem großen Ganzen zusammenzufügen.
Als Conrad dann wie selbstverständlich davon sprach, Magie einzusetzen, schrak Samuel sogar ein wenig auf, und betrachtete den Soldaten mit undeutbarer Miene. Erst nach einigen Sekunden wandte er seinen Blick wieder ab, als Mommsen das Wort ergriff.
Schließlich war es Himly, der sich direkt – zumindest unter anderem – an Samuel wandte.
Wieder kratzte er sich am Kopf, und sah dem Kollegen etwas mitgenommen, aber doch direkt in die Augen. „Ich muss zugeben, dass ich von der Vielzahl der Eröffnungen in dieser Runde ein wenig… überrumpelt bin. Dennoch möchte ich mich für das von Ihnen allen gezeigte Vertrauen bedanken und als allererstes betonen, dass ich nicht vorhabe, es zu enttäuschen.“
Er nickte, mehr zu sich selbst als zu Himly. Die Machtergreifung des Herzogs war tatsächlich etwas, das ihm bitter aufgestoßen war, und wenn es jemanden gab, der für Selbstbestimmung und freie Entfaltung war, dann wohl Samuel selbst.
Er hatte ganz gewiss nicht vorgehabt, sich mitten in den womöglich anstehenden Krieg hineinziehen zu lassen. Und doch, sofern er nicht gerade als Soldat an vorderster Front würde kämpfen müssen, musste er zugeben, dass es einen gewissen Reiz auf ihn ausübte, Einfluss zu nehmen. Es war zum einen der Reiz des Neuen, dessen, was er würde lernen können. Was er würde perfektionieren können. Aber es war auch der Reiz, für die Freiheit zu kämpfen. Hatte er das nicht letztlich sein ganzes Leben lang getan?
Wieder nickte er, diesmal selbstsicher und bestimmt. „Nun, meine Studien des Hebräischen werde ich dann wohl etwas abkürzen müssen. Sie können auf mich zählen, meine Herren, unter der Voraussetzung, dass ich von der Durchdachtheit der Pläne überzeugt bin. Jedoch würde mich zunächst eines interessieren. Ist bekannt, wie der von Herrn…“ Er zögerte kurz. „Nobel? Wie der Vertrag zustande kam? Was hat Christian von Dänemark dazu bewegt, einen Teil seines Reiches abzutreten? Glaubt er, größeren Ärger vermeiden zu können, wenn er das Land einem dänemarkstreuen Herrscher übergibt, den das Volk eher akzeptieren wird? Oder gibt es andere, verdecktere Gründe für diesen Vertrag? Ich bin trotz eines gewissen Grundwissens kein großer Politiker und wäre für eine Aufklärung wirklich dankbar.“
Als Alfred sich dann kurz entfernte, wandte sich Samuel zwar der Runde der Professoren zu, lauschte aber mit einem Ohr dem Gespräch zwischen den beiden Brüdern.