6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 01:56 Uhr - Gerd's Eck
Der schwarze Braunschweiger war tief in Gedanken versunken und es dauerte eine ganze Weile, ehe er antwortete. Irgendwo in der Ferne hörte die Schwester noch Rufe, sie war sich schon auf dem Weg an der Förde entlang der brennenden Wrackteile auf der Förde gewahr geworden. Es war nichts Wildes mehr, ein paar Holzteile glommen noch auf dem Wasser, als sie dort entlang ging. Es hatte nichts Spektakuläres mehr, erst die jetzige Rufe und mit lauten Stimmen vor der Kneipe ausgetauschten Informationen, brachten wirkliche Klarheit.
"Ja, Hein, wenn ich dir das sage! Die Solros hat es völlig zerlegt. Das war mal 'ne Brigg!" Dieser Hein, der genauso wie der andere Sprecher nicht sichtbar war, aber sich in den Zimmern über der Eckkneipe befinden musste, war ungehalten.
"Johann, du Spaten. Dafür weckst du mich? Für ein bescheuertes, brennendes Wrack? Davon ist doch nicht mal was über!" Johann hatte eine junge Stimme, während Hein eine alte, kratzige Stimme hatte. Mindestens zwei Generationen trennten die beiden Personen.
"Hein! Mann! Da waren Kanonenschüsse und Explosionen und davon bist du nicht wach geworden?""Ach, aber von deinem Geplärre werde ich wach, Junge. Also können die Explosionen nicht so schlimm gewesen sein. Komm hoch und bring Schnaps mit oder verzieh dich wieder."Eine Tür in der Nähe knallte und Hermene konnte sogar die knarrenden Treppenstufen hören, die Wände mussten wahrhaft dünn sein.
"Machen Sie sich keine Sorgen, Schwester. Wenn Ihr Gott wahrlich genügend Zeit hat, jederzeit für Sie zu sorgen, dann brauchen Sie sich um den Gehalt und den Umstand Ihrer Reise keine Sorge machen. Er wird Sie schon nicht mit gähnender Langeweile und dreisten Lügen belästigen.", bemerkte der Mann, der durchaus Armin sein mochte, unvermittelt, während er aufstand und zum Ausgang ging. Mit der rechten Hand griff er in einen Korb, in welchem Regenschirme abgestellt waren. Er griff einen schwarzen Regenschirm heraus und reichte ihm der Schwester.
"Und da der Herzog kein Feind des Katholizismus ist, so wie ich keiner des Katholizismus bin, werte Schwester, werden wir uns auch nicht erdreisten, Ihnen wichtige Zeit zu rauben. Wir sind es wohl darüber bewusst, dass die Zeit, die wir Ihnen rauben, den alten Menschen des Stiftes verloren geht. Aber mit Blick auf das Lehen Schleswig, sollten Sie sich ernsthafte Gedanken über eine wohlgemeinte Zusammenarbeit machen[1]. Einen schönen Abend."Sein Blick verlor schnell wieder an Fokus und er setzte sich wieder an den Tisch, gedankenverloren.
"Was für ein beschissenes Wetter, was?", sagte der kleine, kräftige Bootsmann, welcher Donald in Eutin
[2] wieder aufgenommen hatte und jetzt mit ihm die ganze Schwentine
[3] entlang bis nach Wellingdorf
[4] gefahren war und ihn jetzt im Schutze der Nacht auf abgelegenen Trampelpfaden bis an das Ostufer Kiels gebracht hatte. Der kleine Bootsmann hieß Fiete und stand auf der Gehaltsliste von John Baker, wie auch Donald auf Bakers Gehaltsliste stand. Aber so wie Baker seine Männer auszuwählen pflegte, hatten Fiete und Donald dementsprechend wenig Gemeinsamkeiten, außer dass sie beide eher kräftigerer Gestalt waren und eine gewisse Liebe zur Natur hatten. Aber wegen der schleswig-holsteinischen Natur war Donald nicht von Hannover nach Kiel gereist.
Donald hätte eigentlich nach Preußen gesollt, ein paar Erkundigungen über die preußischen Landwehren einholen, aber bereits nach seiner Ankunft in Bremen hatte er neue Instruktionen bekommen, er hatte Baker in Hannover treffen sollen. Die Pläne eines Söldners änderten sich schnell, vor allem wenn die Bezahlung und die Gefahr stimmten. Donald und Baker wussten, dass sie ein aussterbendes Geschlecht waren. Hatten Söldner vor zweihundert Jahren noch das Rückgrat einer jeden Armee gestellt, waren sie inzwischen in Ungnade gefallen und durch Landwehren und Wehrdienstlern abgelöst wurden. In England, ganz besonders in Schottland, hielt man die französische Revolution
[5] für ein Ärgernis, nicht zuletzt wegen der vorher traditionell guten Verbindungen zwischen dem katholischen Frankreich und dem katholischen Schottland, welches stets eine Zange zum anglikanischen England sein wollte. Diese Zeiten, die großen Zeiten der Condottieri
[6], Haudegen
[7] und der Soldateska
[8] war vorüber, aber Baker und Donald Munro kannten auch die ganze Wahrheit. Käufliche Waffen samt Schwinger wurden immer gebraucht. Diese neue Zeit der wachsenden Nationalstaaten und verschrobenen Parlamente hatte Grauzonen geschaffen, in denen Söldner eingesetzt wurden. Meist dort, wo es besonders schmutzig oder brisant wurde. Aber seit dem Krimkrieg
[9], der von 1853-56 getobt hatte, war auch Bakers Söldnerbande weniger gefragt, weil eine kurze Phase des Friedens eingesetzt hatte und dort, wo Söldner gebraucht wurden, wie bei der Risorgimento
[10], gerade in den Reihen Garibaldis
[11] wegen seines Zugs der Tausend
[12], wurden oftmals fremdländische Söldner angeworben, aber nicht Bakers Jungs. Im Besuch von Landwehren und Kasernen hatte inzwischen eine ganze Reihe von Donalds Aufträgen bestanden. Er war inzwischen sowas wie ein Militärspion. Die aufkommende Industrialisierung hatte die Waffentechnologie voranpreschen lassen und die reichen Staaten konnten nach Belieben mit Schusswaffen, Artilleriegeschützen, Schiffskanonen und dergleichen aufrüsten, während die kleinen Söldnertruppen froh waren, wenn sie alte dänische Musketen in ihre Hände bekamen. Auch die Art der Kriegsführung hatte sich verändert, die Söldner hatten viel zu lernen, wenn sie auf den Schlachtfeldern überleben wollten. Donald beschaffte solche Informationen.
Doch diesmal war alles anders. Baker, ein grummliger Zwerg mit pockennarbigen Gesicht und einer groben Hakennase, war eindringlich gewesen. Seine große Nase hatte ein Geschäft gewittert. Mit Pomade
[13] waren seine blonden Haare immer gescheitelt, er roch nach aufdringlichen, orientalischen Duftwassern, wie immer. Aber er hat ein gewisses Charisma, eine Bannkraft, der man sich kaum entziehen konnte. Baker war sowieso ein ungewöhnlicher Typ. Geboren in Leeds, England, war er von menschlichen Adoptiveltern großgezogen wurden und hatte in Kohleschächten zusammen mit menschlichen Kinder malocht, ehe er wegen seiner unmenschlichen Kraft zur Navy eingezogen wurde. Er war jedoch unwillig und endete als Gefängniswärter auf einer Hulk, einem britischen Gefängnisschiff
[14]. Dort machte er jede Menge Kontakte zur Zeit der napoleonischen Kriege
[15] und seitdem war er ein Söldnerführer. Es gab viele Zwischenstationen, aber Baker sprach selten von diesen. Baker sprach nur von Waffen, Geschäften und lukrativen Kriegen. Er hat unzählige seiner Söldner überlebt, sowohl im Lebensalter als auch in Schlachten und Scharmützeln. Die Zeit der Schlachten war seit Napoleon vorüber, Scharmützel bestimmten das Leben der Söldner. In großen Kriegen wollte sie kaum noch jemand haben.
Ja, diesmal war alles anders. Erregt hatte er Donald am Kragen gepackt.
"Hörst du! Ich habe ein Angebot, welches die Herren Nobel nicht ablehnen können. Du musst sie zur Zusammenarbeit bringen. Das ist alles, was ihr mich wünsche! Donald! Das ist die Chance! Wenn du wüsstest, was sie alles für die Wehrindustrie entwickelt haben. Wenn wir nur eine Hand daran bekämen!"Bei billigem Gin hatte Baker noch langer geschwärmt, und es dauerte bis Donald die notwendigen Informationen rausgefiltert hatte. Es war klar, dass er nach Kiel aufbrechen musste und dass er mit Nobel über Waffen- und Technologielieferungen verhandeln sollte. Jedoch gab es keine spezifischen Anweisungen. Donald wusste weder, um welches Budget oder um welche Waffen es genau ging. Baker meinte nur leichthin, dass er die Informationen nachliefern würde. Donald musste nur in die Nähe der Nobels kommen und sich dort eine Weile halten, vielleicht würde er auch selbst etwas rausbekommen. Außerdem hörte davon, dass in Kiel ein Mann namens Rosenstock lebte, der ein Waffenfabrikant war. Mehr wusste Baker nicht, aber auch dort sollte Donald sein Glück versuchen. Diese spärlichen Informationen waren kein guter Beginn für einen Auftrag zu dieser Zeit des Jahres. Viel Reisen bei ungünstigem Wetter. Zum Glück zahlte Baker im Voraus.
Der Weg hatte sich als schwierig entpuppt. Ein alter Bootsmann, der eigentlich auf der Leine
[16] schiffte und sich einbildete, jeden Fluss im deutschen Bund zu kennen, bot sich an, die Reise zu übernehmen. Der Winter hatte jede Bootstour bis Holstein zunichte gemacht und Baker war nicht in der Lage gewesen, eine Bahnfahrt zu finanzieren aufgrund der ganzen Zollzahlungen. Mit Pferd und Kutsche ging es voran. Der Bootsmann reiste mit, er hatte Freunde in Eutin, welche ihnen Unterkunft und ein Boot geben sollten. Das Boot hatten sie, die Unterkunft nicht. Donald war klitschnass und die Reise war beschwerlich. Der Wind war so stark, dass sie mit der Hilfe von Donalds Pferd treideln
[17] mussten; der Bootsmann war über die Reise eher ein Hindernis. Seine schlechten Kenntnisse der Flüsse und des Wetters hatten Donald fast zwei Tage gekostet, aber immerhin in Kiel kannte er sich aus. Viel hatte Donald von Kiel jedoch noch nicht gesehen, nur Kanonenschläge hatte er in der Ferne gehört. Der Wind hatte fast alle Lichter ausgepustet. Kiel war stockduster. Eine Wehrübung, ein Angriff? Eigentlich konnte es auch egal sein, er musste die Nobelbrüder finden. Aber erstmal brauchte er Trockenheit und vielleicht einen Gin. Der Bootsmann deutete auf ein Lokal.
"Schau es dir an. Gerd's Eck! Sieht nicht nach viel aus, wenn man mal in Hannover in einem ordentlichen Haus war, was? Gerd ist aber 'nen Kerl. Kenn ihn von meiner Zeit auf der alten Diva..." Donald hatte keine Ahnung, welches Schiff der Bootsmann meinen konnte. Er war ein Ärgernis.
"Aber...ich habe ein Zimmer für euch bestellt. Ich selbst muss...noch was anderes erledigen. Alles Gute!" Der kleine Mann namens Fiete schaute auf die glimmenden Trümmer auf der Förde, klopfte Donald auf die Schulter und verschwand wieder Richtung Wellingdorf, während Donald die Kneipe mit Sack und Pack betrat, nachdem er sein Pferd unter einem Überbau angebunden hatte.
Ein Mann, gekleidet in einem schwarzen Anzug, welcher ein wenig an eine Offiziersuniform eines Braunschweigers erinnerte, saß an einem Tisch und blickte in die Leere, während eine Nonne in Habit und mit einem ungeöffneten Regenschirm in der Hand vor der Tür stand. Die Tür schlug hinter Donald durch den Wind zu und schnitt Regen und Windgeräusche abrupt ab. Der Mann, der aussah, als würde er einem Braunschweiger Regiment angehören, blickte sich ebenso abrupt um. Er zog überrascht eine Augenbraue hoch, als er den großgewachsenen Mann mit den roten Haaren sah.
"Der Laden ist geschlossen.", sagte er kurz angebunden.