6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 10:42 Uhr - Gebäude des Kommandanten, provisorische Zelle
Ohlendorf kam der Bitte des Chemikers nach und stellte sich ans Fenster, öffnete es und drehte dem Schweden den Rücken halb zu, damit er nicht in die Richtung Alfreds ausatmete. Die Zigarette war nicht mehr im besten Zustand, das Papier hatte kleine Risse und sie schien bereits angezündet und anderweitig unsanft behandelt worden zu sein. Er zündete sie erst an, nachdem der Schwede zuende gesprochen hatte.
"Orientalische Tabak- und Cigarettenfabrik Yenidze, Dresden[1].", erklärte Jens Ohlendorf nach dem ersten Zug und atmete in die kalte Morgenluft aus. Er harte ein hartes Gesichtsprofil, unter dem Anzug deutete sich ein kleiner Bauch an.
"Ein Freund von mir arbeitet dort und hat mir vor drei Jahren, nachdem sie dort die erste Zigarettenfabrik eröffnet haben, das erste Mal dieses Teufelszeug geschenkt und es seitdem nicht gelassen, mich hin und wieder zu versorgen. Wenn man es als Genussmittel nutzt, ist es ganz in Ordnung, am besten nach Speisen. Man ärgert sich am nächsten Morgen nur immer über den Nachgeschmack." Er nahm einen tiefen Zug und atmete wieder aus.
"Das erste Mal habe ich in Frankreich eine Zigarette geraucht. Ich habe am Ende des Krimkrieges[2] in Combourg[3], in der Bretagne, als Anwalt gearbeitet. Dort bin ich auf Drängen eines Freundes gelandet und habe versehrten Soldaten, die aus dem Krieg wiederkamen, ein Auskommen erstritten." Seine Zigarette war seine Überleitung, um ins Thema zu kommen. Er blickte Alfred hin und wieder aus dem Augenwinkel an, blickte ansonsten auf den Rauch in der Kälte.
"Ich habe in jener Zeit gelernt, dass es unterschiedliche Vorgehensweisen gibt, wenn man mit öffentlichen Behörden umgeht. Manchmal muss man seine Anwaltslizenz in der Schublade lassen und offizielle Wege meiden, wenn man Zeit gewinnen möchte. Ich habe an französischen Behörden vorbei mit sardinischen[4] Anwälten und Diplomaten zusammengearbeitet, um Druck aufzubauen und die Chancen der Versehrten zu erhöhen. Viele dieser Invaliden haben mir ebenfalls nicht getraut. Erst die Zeit kann Vertrauen aufbauen und dementsprechend verstehe ich Ihre Sorge, Herr Nobel. Wie bei den versehrten Soldaten sind Ihre Sorgen existentiell. Sie wollen eigentlich eine Rückversicherung, an der Sie sich festhalten können, wenn Ihr Urteilsvermögen Sie trügt. Sie tun dennoch das Richtige. Der schwedische Botschafter kann mehr für Sie tun, wenn Sie seinen Anwalt nicht offiziell in Anspruch nehmen."Er warf die Zigarette achtlos aus dem Fenster und ließ eine Pfütze das Löschen der Glut übernehmen. Er holte einen Schreibstift und ein Tintenfässchen hervor und kramte ein Papier hervor. Im Gegensatz zu allen anderen Dingen, die an Jens Ohlendorf zu sehen waren, zeigten die Gegenstände einen hervorragenden Zustand. Das Schriftstück war nichts mehr als die Bestätigung, dass Alfred Nobel um rechtlichen Beistand durch Jens Ohlendorf bat und dieser das Mandat akzeptierte. Der Mann war auf Eventualitäten vorbereitet.
"Machen Sie sich keine Gedanken, wegen meiner Bezahlung und dergleichen. Das hat der Professor Himly bereits für Sie übernommen.", bemerkte er und schloss das Fenster wieder, welches er bei der Übergabe des Schriftstückes offen gelassen hatte.
"Ich werde Sie in Kontakt bringen mit Oscar Hergren. Er wird mit Ihnen den rechtlichen Teil besprechen, wie gesagt, Sie werden meine juristischen Fähigkeiten kaum in Anspruch nehmen wollen. Vorerst werde ich Sie verlegen lassen. Sie werden auf der Ostseite, in Gaarden[5], untergebracht werden in der Wohnung einer alten Freundin von mir. Sie werden die Wohnung für sich haben, Herr Nobel, die gute Dame liegt nämlich im Altenstift." Er nestelte einen alten Kupferschlüssel aus seinem Sakko und drückte ihn Alfred in die Hand.
"Damit können Sie den Tresor öffnen. Er ist hinter einem Bild vom Alten Fritz verborgen. Dort habe ich bereits ein Schriftstück deponiert, welches Sie brennend interessieren wird."Ohlendorf setzte sich an den Tisch und blickte auf die Spielkarten, welche die beiden Obergefreiten vergessen hatten.
"Spielen Sie? Wenn nicht, sollten Sie vielleicht damit beginnen, um Zeit zu überbrücken. Sie werden nämlich unter Hausarrest gestellt werden und werden die Wohnung nicht verlassen können. Wie Sie dennoch Kontakt zur Außenwelt halten, wird Ihnen das Schriftstück verraten. Falls Sie sich fragen, warum ich Ihnen das so nicht sage, dann antworte ich Ihnen ehrlich. Ich habe das Schriftstück nicht wirklich gelesen und mir die Funktionen, die dort angegeben sind, nicht gemerkt. Herr Himly hat Ihnen dieses zukommen lassen. Sobald Sie dann verlegt sind, werde ich Ihnen die Details zukommen lassen bezüglich unserer Zusammenarbeit. Meine Kanzlei wird das Schriftstück gegenzeichnen und dem Oberbürgermeister mit einem Dringlichkeitsgesuch vorlegen lassen. Sodass offiziell unsere Zusammenarbeit in drei Tagen spätestens beginnen wird. Bis dahin werden Sie schon längst Kontakt zu Oscar Hergren aufgebaut haben, keine Sorge. Mit ihm werden Sie auch Ihre schriftliche Niederlegung Ihres Wissens bezüglich Ihrer Anklage niederschreiben. Ich werde sicherlich darüber informiert, aber diese Details brauchen Sie nicht mit mir klären, falls es Sie beruhigt."Während er sprach, mischte die Karten und legte sie dann, ohne sie auch nur weiter anzublicken wieder hin.
"Irgendwelche Fragen bis hierhin? Wenn nicht, können wir gerne alsbald aufbrechen. Ihre Verlegung habe ich beim OWM bekanntgegeben. Da die ordinären Gefängnisse ungern diplomatisch-pikante Gäste aufnehmen, wird der Bürgermeister ihre Verlegung sicher bestätigen. Haben Sie irgendwo in der Stadt noch Besitztümer, die Ihnen gehören? Ich habe mir erlaubt, Ihren Status so zu bearbeiten, dass die schwedische Botschaft sich zumindest formell ihres Falles annehmen muss, weshalb Sie dieses Sonderrecht in Anspruch nehmen können. Ich werde Ihre Gegenstände also gegebenfalls in Ihre neue Wohnung bringen lassen. Die letzte Frage dürfte Ihren Bruder betreffen. Doktor Kern und der OWM sind noch gegen eine Verlegung Ihres Bruders, zudem schien er nicht angetan von meinem Besuch. Das werden wir auch noch regeln müssen."Er hatte Hände, die nicht nur die Schreibfeder gewohnt waren, das sah Alfred deutlich, während Ohlendorf den Schweden anblickte.
6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 11:00 Uhr - Gut Emkendorf
Man war schweigsam an diesem Morgen, der sich kalt und sonnig präsentierte, nachdem sich der Regen verzogen hatte. Das Haus war relativ warm, aber von molliger Wärme konnte man nicht sprechen. Vielleicht würde es in der Stube des Herzogs wärmer sein. Nachdem alle sich etwas frisch gemacht hatten, kam der Braunschweiger mit zackigem Schritt nach etwa einer Viertelstunde wieder. Auch er hatte sich wieder ordentlich hergerichtet und erschien adrett wie eh und je. Er sah auf die wartenden Menschen vor den Bädern und nickte zufrieden, als er sah, dass alle sich gewaschen hatten.
"Der Herzog wartet in seinem Arbeitszimmer auf die Damen und Herren.", sagte er und man hörte, dass auch in der Stimme des Braunschweiger etwas Müdigkeit lag. Das Wasser konnte die Müdigkeit nicht ganz wegwaschen und so erging es allen. Der Schlaf in einer Kutsche war eben nicht mit dem Schlaf in einem Federbett zu vergleichen. Und so gingen die Begleiter des Braunschweigers diesem hinterher und wurden durch eine Bildergalerie geführt, auf der bedeutende Persönlichkeiten zu sehen waren. Es waren sorgfältig angefertigte und äußerst hochwertige Bilder, welche bedeutende Literaten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts darstellten. Unter anderem Heinrich Christian Boie, Johann Caspar Lavater, Matthias Claudius und Friedrich Gottlieb Klopstock, aber auch der französische General La Fayette.
"Das war der sogenannte Emkendorfer Kreis[6]. Dieser Ort ist auch als das Weimar des Nordens bekannt.", erklärte der Major nur beiläufig, während sie an den Porträts vorbeischritten. Die Porträts waren hin und wieder unterbrochen in ihrer Komposition, weil eine Tür aus dem Gang wegführte. Auf der Hälfte des Ganges blieben sie an einer Tür stehen. Die Tür war wie alle anderen Türen des Ganges aus einem dunklen Holz, welches sehr gut aufbereitet worden war, aber in seinem Schmuck so spartanisch wie das restliche Gut.
"Seine Durchlaucht wartet hinter dieser Tür.", murmelte der Braunschweiger und klopfte an. Ein kräftiges Herein bat die Besucher in den Raum zu kommen. Der Braunschweiger öffnete die Tür und sie traten ein.
Der Raum präsentierte sich sehr dunkel. Mit Vorhängen hatte der Herzog die Sonne ausgesperrt, welche sich nur an den Rändern der schweren, dunkelgrünen Brokatvorhängen abzeichnete. Während das restliche Haus spartanisch und leergefegt wirkte, war es hier ungeordnet und stickig. Zwei große Kerzen brannten auf einem alten, schweren Holzschreibtisch, auf dem Berge von Papieren und Büchern lagen. Der Raum war zwar groß genug, dass alle Platz in dem Raum fanden, aber sie mussten sehr nah beieinander stehen, da auch auf dem Boden Bücher über Bücher, Aufzeichnungen über Aufzeichnungen lagen. Vor dem rechten Vorhang stapelten sich zerknüllte Papiere und leere Tintenfässchen, es roch nach altem und kaltem Rauch. Der ehemals schöne, braune Teppich war inzwischen ausgetreten. Dieses Zimmer wurde häufig frequentiert. Zwischem dem spärlichen Licht saß am anderen Ende des Tisches eine Person.
Dunkle Haare waren zum Teil ergraut, ein stattlicher und gepflegter Bart konnte kaum verbergen, dass er müde und ausgelaugt wirkte. Sein Rücken war nicht gerade und obwohl er stattlich zu wirken versuchte, nahm er es nicht mit seinen Porträtbildern auf, welche überall nach der Verkündung seiner Herzogswürde ausgehängt wurden. Er wirkte, obgleich er gerade erst dreiunddreißig oder vierundreißig Jahre alt sein dürfte, wie ein deutlich älterer Mann. Gram lag in seinem Antlitz und wahrscheinlich versuchte er es gar nicht ernsthaft zu verbergen.
"Durchlaucht, ich bringe Ihnen Ihre Gäste. Sie erbieten Ihre Grüße und bieten eine mögliche Unterwerfung an." Auf eine weitere Vorstellung verzichtete der Braunschweiger, weil er die Gäste in aller Ausführlichkeit angekündigt haben dürfte. So zog er sich hinter die Gäste zurück und stellte sich in die Tür.
Der Herzog ließ sich einen Moment Zeit und beendete einen Absatz des Schriftstückes, welches er gerade bearbeitete. Durch die Dunkelheit war weder der Herzog voll zu sehen, noch konnte er die Gäste in allen Einzelheiten erkennen, aber das schien ihn nicht zu stören. Er hatte eine sehr unsaubere Schrift, sodass der Inhalt seines Schriftstückes nicht ohne Weiteres zu lesen war. Er legte den Stift nieder und blickte seine Gäste kurz an, legte die Hände zusammen und stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte. Seufzend kaum sein Atem über die Lippen, dann griff er wieder zu seinem Stift und schrieb weiter.
"Sie haben mir Schmerzen bereitet.", begann er zaghaft, aber mit einen kräftigen Stimme, die deutlich mehr Wärme versprach, als die des Braunschweigers.
"Sie haben sicherlich den Haftbefehl gelesen und Ihr Eingreifen hat für einige Verstimmungen bei mir geführt. Aber ich denke doch, das ist nichts Ernstes, dass Sie zu diesem Handeln gezwungen hat. Keine latente Abneigung gegen meine Person oder meine Politik, so hoffe ich doch. Es wäre nämlich eine Wonne gewesen mit den Herren Nobel über diese missliche Lage zu sprechen. Die Angriffe, der Austausch von vertraulichen Information und mein unsäglicher Verlust."Er legte den Stift wieder hin und setzte sich aufrecht hin.
"Sie haben dennoch Informationen, die ich gebrauchen könnte. Doch zunächst entschuldigen Sie bitte die Umstände der Reise und die Unaufgeräumtheit meines Arbeitszimmers. Vielleicht scheint ihnen ein Thronsaal passender, wenn sie dergleiche Gedanken haben. Aber wie Sie unschwer an der Art ihrer Beförderung und der sonstigen Umstände sicherlich erkannt haben, befinden wir uns in einer Phase, in der Zeit die nützlichste aber auch rarste Ressource ist. Dementsprechend möchte ich alles Zeremonielle von der Agenda unser Zusammenkunft streichen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Dennoch habe ich eine fast schon protokollarische Bitte." Er setzte jetzt ein kleines Spekuliereisen auf und nahm ein anderes, unbeschriebenes Papier hervor, seinen Stift wieder in die Hand.
"Stellen Sie sich vorerst vor. Dabei sagen Sie mir bitte, wie Sie heißen, wie alt Sie sind, wo Sie geboren wurden und wem Ihre Loyalität gehört." Der Braunschweiger schaute reichlich sparsam bei der merkwürdigen Bitte des Herzogs im Rücken der Gäste.
"Und danach erklären Sie mir bitte, was Sie über die beiden Herren Nobel und Marius Pedersen wissen."Der Herzog, der sich reichlich unzeremoniell zeigte, blickte seine Gäste auffordernd an.