Mystral hob die Mundwinkel und plusterte sich etwas auf, bevor sie zu sprechen begann. Während sie erzählte, litt etwas ihre Arbeitsgeschwindigkeit, denn ab und an unterbrach sie das Schneiden und Schälen, um zu gestikulieren, oder benutzte die Wurzelstücke als Requisiten in ihrer Erzählung. Wie üblich, legte sie auch in diese Erzählung ihr gesamtes Geschick und Herzblut, um in den Geistern der Zuhörer die Geschehnisse lebendig werden zu lassen.
"Karsus, den man in den folgenden Jahrhunderten "das Kind, das Gott werden würde" nannte, oder "der Affe, der flog", wie es die Elfen taten, war einer der begabtesten Magier in der Geschichte Faeruns. Er lebte vor bald zweitausend Jahren im Reich Nesseril, einem Land, erschaffen und beherrscht von Magiern. In einer Nation von Magiern war er der größte Magier. Seine erste Magie wirkte er mit zwei Jahren, und mit zwanzig war er ein Meister der Kunst, wie man die Magie auch nennt. Er lebte in einem Land, welches gleichzeitig das prachtvollste und ärmste der Welt war. Die Magier, in ihren schwebenden Städten, herrschten über das Land. Sie hatten die Mythallare geschaffen, Artefakte, die alle Dinge in ihrem Umkreis magisch werden ließen, ohne das man sie verzaubern musste. Die Nichtmagier dieses Landes lebten auf dem Boden, und frohnten dort für ihre Herren unter schrecklichen Bedingungen.
Zu dieser Zeit war Nesseril schon dreieinhalbtausend Jahre alt. Große Entdeckungen hatte es in jener Zeit vollbracht, viele große Männer und Frauen hervor gebracht, doch nun neigte es sich seinem Ende zu. Nicht durch innere Streitigkeiten, oder durch die Bedrohung anderer Königreiche fiel Nesseril, sondern durch die Phaerim, ein Volk, das tief in der Erde lebte und Nesseril den Krieg erklärt hatte, ihm seine Magie und sein Leben aussaugten. Die Phaerim waren keine Menschen, oder menschenähnlichen Wesen, sondern Abscheulichkeiten, deren Gestalt und Denken dem Menschen in nichts glichen. Sie bewohnten die Höhlen unter dem Land, und ihr Handeln war nicht grundlos, denn die Magier in ihren hohen Städten schadeten den Phaerim in ihren Tiefen, ohne es zu wissen. Die Phaerim schlugen zurück, mit Magie, die dem Land seine Kraft entzog und die Magier der Nesseriler störte. Viele ihrer größten Magier flohen des Landes, und so sah Karsus sich selbst als größten Retter des Reiches. Er sprach einen Zauber, den er seit Jahrzehnten erforschte, den mächtigsten Zauber, der jemals in unserer Welt gesprochen wurde, Karsus Avatar. Ein Zauber, der eine Verbindung zwischen ihm und einer Gottheit erschuf und dieser Gottheit ihre Macht raubte. Seine Absicht war, mit der geraubten Macht die Phaerim zu vernichten und sein Volk zu vereinen, doch er wählte schlecht, als er die Gottheit wählte, deren Magie er stahl. Er wählte Mystril, die Göttin der Magie, und in dem Moment, in dem er ihre Macht erhielt, erkannte er auch seinen Fehler.
Mystrils Aufgabe war es, das Gewebe aufrecht zu erhalten, die Struktur der Magie Faeruns. Nun, da Karsus ihre Macht besaß, fiel ihm auch diese Aufgabe zu, doch da er nur die Macht eines Gottes hatte, aber kein Gott war, wusste er nicht, wie er dies vollbringen sollte. Und so starb Mystril, und auch Karsus, denn als Mystril verging, verschwand auch das Gewebe für einen Augenblick aus der Welt, und mit ihm die Magie. Die fliegenden Städte fielen aus dem Himmel und Nesseril ging unter. Karsus selbst wurde zu Stein, und das letzte, was er sah, war sein Reich, das vor seinen Augen unterging. Das Land selbst verdorrte durch die Macht der Phaerim und wurde zur Wüste Anauroch. Einige, wenige Splitter des Reiches überlebten und schworen der Magie ab, die ihr Land in ihren Augen zerstörte, doch ohne diese waren sie verdammt zur Bedeutungslosigkeit, und einer nach dem anderen gingen sie unter.
Doch dies sollte nicht das Ende von Nesseril sein, denn eine ihrer fliegenden Städte überlebte, verborgen in der Ebene der Schatten, für viele Jahrhunderte. Vor wenigen Jahrzehnten erschien diese Stadt wieder, zurückgebracht durch die Macht der zwölf Herrscher der Stadt, das Schattenkonzil, und mit ihr kehrte auch das Leben zurück in die Wüste Anauroch, und Nesseril war wiedergeboren. Durch die Magie der Schattenherrscher, das alte Wissen Nesserils und den Segen der Göttin Shar, der Göttin der Dunkelheit, ist Nesseril in den Tagen Faeruns, aus denen wir stammen, eines der mächtigsten Reiche und breitet seinen Einfluss Tag für Tag weiter aus.
Was nun die Lehren sind, die man daraus ziehen soll, so denke ich, sind jene eindeutig. Große Macht nützt nichts, solange man nicht die Weisheit besitzt, sie auf die rechte Art zu benutzen, doch dem Feuer abzuschwören, nur weil man sich verbrannte, ist ebenso ein Fehler"In ihrer Erzählung unterschlägt Mystral einige Details, die ihr nicht in dem Kram passen derzeit, wie etwa, dass das Schattenkonzil eine böse Macht ist, das Schrecken und Tod als seine Werkzeuge benutzt, oder dass Shar für großes Leid verantwortlich zeichnet. Lieber sollen die Leute denken, dass ihr Heil vielleicht doch in der Magie liegt, denn jenes würde ihrem derzeitigen Vorhaben zupass kommen. Auch die Parallelen zwischen den zwölf Schattenherrschern und den zwölf Speeren des Lichts, und den Splitterreichen, die der Magie abschworen und bedeutungslos vergingen, zieht sie nicht grundlos. Auch wenn sie oberflächlich nur auf meisterliche Art eine Geschichte zu erzählen schien, sollten ihre Worte doch tiefer schneiden, einen ersten Keim des Zweifels sähen.
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