Shiver wischte das blutige, große Rasiermesser an seiner Hose ab, und steckte die Taschenpistole wieder in die dafür vorgesehene Tasche auf der Innenseite seines Oberteiles. Wortlos blickte er kurz den fliehenden Echsen hinterher, drehte sich um, darauf vertrauend, dass seine Gefährten die Umgebung im Auge behalten würden und griff in seinen Rucksack. Er nestelte etwas hervor, was er nur selten in seinem Leben genutzt hatte. Er blickte auf diese helle, bläuliche, fast sogar etwas milchige Flüssigkeit und hielt sie vor sich. Sie konnte Leben retten und sie kostete ein kleines Vermögen im Gegensatz zu den ganzen Dingen, die einen umbringen konnten. In ihrer Heimat bekam man fünfundzwanzig Dolche für einen einzigen Heiltrank oder genug Alkohol, um sich über eine Woche in einen komatösen Zustand zu trinken. Für viel weniger brachten Menschen einander um oder verletzten sich schwer.
Und nun war es ein einziger Moment der Unachtsamkeit, der ihnen nicht nur einen enormen Gegenwert raubte, sondern einen ihrer Gefährten in das Verbluten schickte. Dieser Trank vermochte daran etwas ändern, er mochte Samual sogar wieder zur Besinnung kommen lassen. Shiver trauerte dem Verlust des Heiltrankes nicht nach, aber es faszinierte ihn immer wieder, wie günstig der Tod und wie teuer das Leben doch war, gerade in ihrer Heimat. Die Wahrheit war in diesem Dschungel die gleiche, wenn auch nicht so stark in Material und Währung gemessen werden konnte, doch auch hier - so schön das Leben wirkte in seiner Farbenpracht - war das Leben teuer zu erkaufen. Liongeli hatte ihnen einen bitteren, raubtierartigen Eindruck in die mögliche Schnelligkeit ihres Ablebens gegeben.
Der vernarbte Mann kniete sich neben Samual und legte dessen Oberkörper auf seine Oberschenkel und umfasste den Kopf. Shiver war kein Heiler und konnte nicht einschätzen, wie gefährlich die Wunden waren, die er davongetragen hatte oder ob es nur der Schock und der Blutverlust war, welche Samual mit dem Verlust seiner Besinnung bezahlte. Er wusste, dass der Trank die Wunde schließen würde und er wusste, dass der Körper noch einen Schluckreflex hatte, dem man mit der richtigen Haltung des Kopfes und ein bisschen Massieren am Hals in Gang bekommen würde. Er öffnete den Heiltrank, öffnete mit leichtem Druck auf den Unterkiefer den Mund Samuals und flößte ihm die Flüssigkeit ein, notfalls nachhelfend
[1]. Es gelang nur mäßig, Samual schluckte einen Teil des Heiltrankes nicht und er lief wieder aus dem Mund heraus. Dennoch achtete Shiver darauf, ob zumindest die gröbsten Wunden sich annähernd schlossen. Als dies der Fall war und Samual nicht mehr drohte zu verbluten, legte er Samual in eine seitwärtige, bequemere Lage, Kopf zur Seite, leicht überstreckt, falls er sich übergab oder den Heiltrank wieder hochwürgte.
"Schöner Mist. Ich hab' noch 'nen paar solcher Tränke. Hab'n wir alle, hoff' ich. Dachte nich', dass wir sie so schnell brauch'n. Mistviecher.", Shiver trat wütend darüber, dass sie nicht hörten, wie sich die Echsen angeschlichen hatten, gegen den blutenden Leichnam der Echse.
"Wir sollt'n uns 'ne Trophäe mitnehm' un' schau'n, was wir mit den Überrest'n des Biest's anfang'n könn'.", Shiver zog das Rasiermesser wieder raus.
"Jemand 'ne Ahnung, wie man mit Verletzt'n umgeht oder soll'n wir Samual noch mehr Tränke geb'n?" Das Messer klappte er lässig mit der rechten Hand auf, ein einzelner Bluttropfen eine der anderen Echsen tropfte in das plattgetretene Grün um sie herum.
"Auf jeden Fall müss'n wir seine Wund'n waschen. In dies'm Klima wird er sonst schneller Wundbrand hab'n, als ihr Gaffer Marguerite sagen könnt. Wer sich mit sowas auskennt, soll das machen. Ich ernte derweil unseren unfreiwilligen Fang und beginn damit sein Fleisch zu trocknen."Shiver drehte sich um und ging in die Knie, um die übergroße Echse zu begutachten. Vorsichtshalber schnitt er ihr nochmal die Kehle durch. Sicher war sicher. Während er also auf das schaute, was er zu tun gedachte, merkte er mit dem Rücken zu seinen Kameraden noch eine Sache an. Es ging ihn nicht darum, jemanden die Schuld zuzuweisen, weil sie zu unachtsam gewesen waren. Samual und Aether hatten Wache gestanden, aber sie hatten sie einfach nicht entdeckt. Die Viecher waren also gut auf ihre Umgebung angepasst und verdammt gut in Heimlichkeit, wenn sie nicht gerade laut brüllten. Sonst wären sie den Augen und Ohren des Schützen Samuals nicht entgangen. Vielleicht war er auch abgelenkt oder müde. Was machte es? Sie waren alle müde und noch nicht an den Dschungel gewöhnt. Sie würden sich gewöhnen oder sie würden sterben, für diesen Lernprozess hatten sie in Blut und Schrecken bezahlt. Kein Grund für Vorwürfe also. Also beschloss Shiver seinen Gefährten Mut zuzusprechen, auf seine Art.
"Habt gar nich' so wie Gör'n gekämpft. Nich' schlecht. Hatt' schon Sorge, dass ich der Einz'ge mit Saft in'n Knoch'n bin."Der Hüne widmete sich dann dem Dinosaurier, aber er dachte über die letzten dreißig Sekunden seines Lebens nach. Es war so schnell, ein kurzer Angriff, Sekunden später war wieder alles vorbei. Es war so viel auf einmal passiert, doch der Mann aus gutem Haus mit schlechter Erziehung hatte eine bemerkenswerte Auffassungsgabe. Shiver hatte durchaus bemerkt, welche verheerende Wirkung die Schläge Simons hatten und mit welcher Kraft der junge Mann zuschlug. Er sah auch, dass er nicht weniger als Shiver trug. Er war zweifelsohne stark. Und Shiver war nicht entgangen, wie er seine Waffe führte und irgendwas passte für Shiver dort nicht zusammen, aber er konnte nicht sagen was. Hatte er es recht gesehen, dass die Hiebtiefe, die Simon mit seiner Waffe zufügte, nicht ganz zu seiner Technik passte oder die Hieb zumindest tiefer ging als der reine Schwung es hätte zulassen sollen? Er hatte es nur aus dem Augenwinkel gesehen. Er war sich nicht sicher. Er würde es beobachten müssen. Aber auch Wolfhard wusste mit seinen Waffen umzugehen. Shiver blickte auf seine Waffe. War sie wirklich die beste Wahl für diesen Ausflug? Wahrscheinlich wäre er mit einer größeren Waffe auch...nein, er würde nie wieder eine große Waffe anfassen. Nicht nachdem, was das letzte Mal passiert war. Shiver blickte über die Schulter von Marguerite. Er hatte bemerkt, wie sie versucht hatte, mit ungewöhnlichen Methoden zu helfen. Mit jener Art von Methoden, welche nicht sehr beliebt waren. Welche wahrlich gar verhasst und gefürchtet waren. Die schwirrende Luft um sie herum, zeugte noch immer von diesem Hexenwerk. Er hatte es schon länger vermutet, dass sie - wie die Furchtvollen sagen - vom Irrnebel berührt worden sein musste. Er hatte es vermutet, als sie einen Menschen einstmals so unsanft in ihrer Stammkneipe behandelte, dass eigentlich jeder hätte aggressiv oder beleidigt sein müssen, doch der Mann, ihr bis zu diesem Abend unbekannt, wedelte mit seinem kleinen Schwänzchen und blieb treudoof an ihrer Seite und las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Es war etwas Unnatürliches, ein Verhalten, das Shiver nur von jungen Kerlen und Weibern kannte, die zu sehr in ihren Widerpart vernarrt waren und dem manipulativen Gegenpart jeden Wunsch zu erfüllen versuchten, nur um von des anderen Lippen zu kosten. Aber Liebe auf den ersten Blick und so heftige Verehrung innerhalb weniger Minuten? Nein, dort wo Shiver lebte, nahm man sich die Frau mit Gewalt, wenn man stark genug war und Stangenfieber hatte. Und Bruce war ein ziemlich starker, gewalttätiger Kerl gewesen. Und nun diese Beweise. Shivers Zähne mahlten, während er durch das feste, schuppige Fleisch des Sauriers schnitt, um das, was er für brauchbares Fleisch oder brauchbares Material hielt, freizulegen
[2]. Das war den anderen sicher nicht entgangen. Vielleicht würden sie Marguerite sogar jetzt als Gefahr wahrnehmen, obwohl sie sie eigentlich mit diesen Irrnebelspielerein doch nur schützen wollte. Shivers Zähnte mahlten jetzt angestrengt. Er würde sie jetzt noch mehr beschützen müssen. Was, wenn wer abergläubisch war und dachte, dass Marguerite den Verstand verlöre und sie mit diesen Irrnebelspielerein angriffe? Der Konflikt mit den Dinosaurier hatte keine zwanzig Sekunden gedauert, ein Bruchteil eines Lebens und doch änderte er alles. Marguerite war vom Irrnebel berührt, Samual lag schwer verwundet nieder und sie alle musste zudem noch erkennen, dass der Dschungel ein harter Lehrmeister werden würde.
Shiver würde die Zeit am Feuer, um das Fleisch haltbar zu machen, brauchen. Er würde es brauchen, um alles das, was er innerhalb der letzten Sekunden sah, zu verarbeiten und einzuordnen und um reagieren zu können. Es hatte sich soviel so schnell verändert, das ganze Gruppengefüge würde sich verschoben haben und Shiver würde auf seine Perle aufpassen müssen. Shiver spuckte in das Gras, er fühlte sich noch immer müde, aber er hatte gut daran getan, niemanden auf seine spezifische Leistung aufmerksam zu machen. Er hoffte, die anderen erkauften sich auch erst einmal Ruhe mit ihrem Schweigen und kümmerten sich um Samual.